Populismus-Vorwurf in der Architektur

  • Du führst die ganze Zeit Punkte an, die meinen zentralen Einwand gegen deine Kollektivschuldthese gar nicht betreffen.

    Vielleicht habe ich es nur überlesen unter den vielen Posts hier. Aber was ist denn der zentrale Einwand? Doch nicht etwas, dass Kollektive keine Subjekte sind? Das ist unerheblich für die Wahrnehmung von Schuld und Verantwortung im moralischen Sinne. Jemand, der Teil des Systems ist, das die moralische Fehlentwicklung bedingt, wird sich einer kollektiven Verantwortung ausgesetzt fühlen, auch wenn ihn keine tatsächliche individuelle Schuld trifft, er nur Mitläufer ist. Darauf und auf nichts anderes zielt der Begriff "Tätervolk" in meiner Wahrnehmung ab: Ein Volk, das die Täter gewähren ließ (und nicht ein Volk, das zum Täter wurde).

    Kunsthistoriker, Historiker, Webdesigner und Fachreferent für Kulturtourismus und Kulturmarketing

    Mein Bezug zu Stadtbild Deutschland: Habe die Website des Vereins erstellt und war zeitweise als Webmaster für Forum und Website verantwortlich. Meine Artikel zu den Themen des Vereins: Rekonstruktion / Denkmalschutz / Architektur / Kulturreisen

    Einmal editiert, zuletzt von tegula (31. Oktober 2018 um 08:28)

  • Vielleicht habe ich es nur überlesen unter den vielen Posts hier. Aber was ist denn der zentrale Einwand? Doch nicht etwas, dass Kollektive keine Subjekte sind? Das ist unerheblich für die Wahrnehmung von Schuld und Verantwortung im moralischen Sinne. Jemand, der Teil des Systems ist, das die moralische Fehlentwicklung bedingt, wird sich einer kollektiven Verantwortung ausgesetzt fühlen, auch wenn ihn keine tatsächliche individuelle Schuld trifft, er nur Mitläufer ist. Darauf und auf nichts anderes zielt der Begriff "Tätervolk" in meiner Wahrnehmung ab: Ein Volk, dass die Täter gewähren ließ (und nicht ein Volk, das zum Täter wurde).

    Natürlich ist das der zentrale Einwand und natürlich ist das zentral für die Wahrnehmung von Schuld und Verantwortung im moralischen Sinn. Aus folgenden Gründen:

    1. Schuldig kann man nur aufgrund von Handlungen werden (Tun oder Unterlassen). Handeln setzt Intentionen voraus. Intentionen kann nur haben, wer zumindest ein psychisches Innenleben hat. Kollektive haben das so wenig wie Bäume, Steine oder Autos. Deshalb können Kollektive auch ebensowenig schuldig werden wie Bäume, Steine oder Autos.

    2. Moralisch falsches Handeln ist Handeln, bei dem ein Akteur bewußt gegen eine Norm verstößt. Über Normen nachdenken und sich entscheiden, für oder gegen sie zu handeln, kann aber wiederum nur, wer überhaupt ein psychisches Innenleben hat und genauer noch: ein Bewußtsein seiner selbst. Auch da gilt, dass Kollektive das so wenig haben wie Bäume, Steine oder Autos und daher auch genausowenig schuldig werden können wie Bäume, Steine oder Autos.

    Für beide Punkte ist wiederum völlig irrelevant, ob der Normverstoß in einem Tun (selbst Verbrechen begehen) oder einem Unterlassen ("die Täter gewähren lassen") besteht.
    Weder in dem einen, noch in dem anderen Fall erfüllen Kollektive die ontologischen Minimalbedingungen dafür, dass ihnen Schuld oder "Täterschaft" zugerechnet werden kann.

  • 2. Moralisch falsches Handeln ist Handeln, bei dem ein Akteur bewußt gegen eine Norm verstößt. Über Normen nachdenken und sich entscheiden, für oder gegen sie zu handeln, kann aber wiederum nur, wer überhaupt ein psychisches Innenleben hat und genauer noch: ein Bewußtsein seiner selbst. Auch da gilt, dass Kollektive das so wenig haben wie Bäume, Steine oder Autos und daher auch genausowenig schuldig werden können wie Bäume, Steine oder Autos.

    Und auch das sehe ich anders. Da Kollektive aus einzelnen Individuen bestehen, gibt es sehr wohl ein bewusstes Handeln, wenngleich nicht jedes Individuum die gleiche Handlung vornehmen muss. Finden sich aber in einem Kollektiv genügend Individuen mit gleichartigen Handlungen, wird das Kollektiv als handelnder Faktor wahrgenommen und überlagert die Handlungen der einzelnen Individuen.

    Im übrigen lehnte auch Roman Herzog die kollektiv Schuld in einer Rede über dir Gräueltaten der Nazis ab, betonte aber gleichzeitig die kollektive Verantwortung. Offensichtlich hatte er dabei ähnliche Gedankengänge wie ich:

    Aber eine kollektive Verantwortung gibt es, und wir haben sie stets bejaht.

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  • Und wie steht es mit der Verantwortung? Stichtwort "Gesellschaftsvertrag"?

    Auch das ist in meinen Augen eine kollektive Verantwortung. Dies lässt sich wohl nur schwer bestreiten.

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  • Diese ganze Diskussion ist ja schön und gut (und dreht sich im Kreis), ich möchte aber darauf hinweisen, dass der Ursprung die Behauptung Trübys ist, bei Rekonstruktionen ginge es um eine Täter-/Opfer-Umkehr des Deutschen Volkes. Jetzt kann man sich, wie hier geschehen, reichlich streiten, ob es überhaupt eine Kollektivschuld geben kann und auf die Deutschen zutreffen würde, in meinen Augen ist das aber keine Diskussion, die hierher gehört, weil mir keine einzige Rekonstruktion bekannt wäre, bei der irgendjemand von Täter- oder Opfervölkern gesprochen hätte. Das ist doch nur ein weiteres an den Haaren herbeigezogenes Argument von Trüby, dass überhaupt keine Grundlage hat. Ich halte es deswegen auch für vollkommen überflüssig, in einem Architekturforum darüber zu diskutieren, weil es einfach am Thema vorbeigeht.

  • Trüby im Deutschlandfunk-Interview:

    "Es geht [bei Rekonstruktionen] darum, eine Täter-Opfer-Umkehr vorzunehmen. Das Tätervolk soll zum Opfervolk werden [...] aus dem Tätervolk Deutschland ein Opfervolk Deutschland zu machen."

    Ernst gemeinte Frage unter anderem an diejenigen, die sich hier als Linke verstehen: Wie würdet ihr darauf antworten?

    Es ist der opportunistische Versuch von Trüby etwas zu politisieren. Die Linke aus dem antideutschen Umfeld (Bahamas, Jungle World u.a.) hat den "Täterkult" so hart verrissen, dass sie jetzt schon wieder alt-rechts wird. Beim Deutschlandfunk-Klientel ist das dagegen quasi noch staatstragend, daher kann man das dort lancieren. Täterkult hat eine bittere Seite, nämlich einen gewissen verwegenen Stolz auf die unbestrittene kollektive Täterrolle, die noch in der harten und elitären Distanzierung vergiftet anderen ihre Opferrollen zuschreibt. Ganz wie der Antikolonialismus hart in der Vorstellungswelt des Kolonialismus verhaftet bleibt und dessen Irrtümer transzendiert.

    Ich denke, dass Rekonstruktionen dazu führen, dass man mehr Bürgerlichkeit zelebriert, die immer auch etwas Menschenfreundliches hat. Maß und Mitte. Brutalismus ist der Kult der Menschenfeindlichkeit. Das hat natürliche eine gewisse architekturpornographische Faszination, für die ich Verständnis aufbringe. Dass der historische Brutalismus an die Großideologien des 20. Jahrhunderts theoretisch anschlussfähig war, ist schwer zu bestreiten. Das menschliche Maß blieb auf der Strecke. Bürgerlichkeit ist aber auch immer Träger demokratischen Geistes. Wenn wohlhabende Bürgerinnen und Bürger für Rekonstruktionen spenden, geben sie an die Stadtgesellschaft etwas zurück. Rekonstruktionen sind immer auch zivilgesellschaftlich getragene Projekte, in Architektur gestanzter Bürgerstolz. Das konnte der Brutalismus nie leisten. Es gibt aber auch andere zivilgesellschaftliche Formen von Bauen und demokratisch emanzipatorischer Stadtraumgestaltung. Die soziale Funktion von Architektur im Stadtraum lassen Architekten leicht außer Acht.

  • Ich sehe immer, wie hier in der Diskussion zum Teil assoziativ argumentiert wird.

    Wenn Roman Herzog von Verantwortung spricht, dann meint er nicht Schuld. Das sind grundverschiedene Dinge. Ebenso wie Schuld und Haftung.

    Natürlich kann ein Kollektiv eine moralische oder auch materielle und zum Teil auch rechtliche Verantwortung bzw. Haftung übernehmen für das, was in seinem Namen getan wurde. Eltern haften für ihre minderjährigen Kinder, auch dann, wenn sie an deren Taten nicht schuld sind. Ein Vorgesetzter kann Verantwortung für das Verhalten eines Untergebenen übernehmen, ohne persönlich schuldig geworden zu sein. Eine Gesellschaft haftet finanziell als Rechtsperson.
    Ebenso kann man einen Gesellschaftsvertrag eingehen - Thema generationenübergreifende Rentenzahlung, Erarbeitung einer Verfassung usf. Kollektive können eine juristische Person bilden und als solche haften. Aber das alles hat nichts mit kollektiver Schuld zu tun.

    Und sich mit zerstörten Städten abzufinden, nur weil viele Deutsche in der Nazizeit Schuld auf sich geladen haben, wie Trüby insinuiert, ist schlicht pervers, zumal genau da eben doch der Aspekt einer Erbschuld ins Spiel kommt. Und sich mit zerstörten Städten aus Verantwortung oder Haftung abzufinden, ergibt erst Recht keinen Sinn, weil damit das, was Verantwortung und Haftung implizieren, nämlich eine Form von Wiedergutmachung oder Entschädigung, gar nicht geleistet werden kann. Die ermordeten Juden sind nicht dadurch wieder lebendig geworden, dass in Frankfurt das hässliche technische Rathaus gebaut wurde; und es wurde auf diese Weise kein Holokaust-Überlebender entschädigt.

    Das Konstrukt der Kollektivschuld besagt letztlich: Bombenterror und Vertreibung waren gerechtfertigt, weil 34 Prozent der Deutschen im Januar 1933 Hitler gewählt haben - ohne übrigens sich dessen bewusst zu sein, was seine wirklichen politischen Ziele waren - das wusste Hitler zum Teil selber noch nicht, weil er sich im Lauf der Zeit selbst radikalisierte.
    Dann besteht die vermeintliche Schuld der Deutschen darin, dass sie - wie auch viele ausländische Staatsmänner - sich von der Propaganda und den vordergründigen Erfolgen haben täuschen lassen. Ebenso besteht ihre Schuld darin, dass sie nicht zu 100 Prozent in den Widerstand gegangen sind und bereit waren, sich hinrichten zu lassen. Dann besteht ihre Schuld darin, dass sie im Krieg ihr Land und ihre Familien verteidigt haben statt allesamt zu desertieren. Und die Schuld aller im Krieg umgekommenen Kinder besteht dann wohl auch darin, dass sie nicht früher geboren wurden, um aktiv Widerstand zu leisten, bzw. dass sie überhaupt als Deutsche zur Welt kamen.

    Eine solche Sichtweise, welche die logische Konsequenz der Kollektivschuld-Hypothese ist, ist nicht nur widersinnig und völlig ahistorisch, sondern auch absolut barbarisch. Auf der Grundlage solcher Kollektivschuld-Konstrukte wurden die Juden vergast, wurden als Reaktion auf Partisanenkämpfe die Bewohner ganzer Dörfer und Städte umgebracht, gab es die Sippenhaft, wurden in der Antike unterworfene Völker eliminiert bzw. versklavt: eine Stadt, die im Krieg Widerstand leistet, wurde als ein juristisches Kollektiv betrachtet und ohne Unterschied individuellen Verhaltens zur Rechenschaft gezogen.

    Dass deutsche Antifanten in ihrem krankhaften Selbsthass zu solchen Sichtweisen neigen, ist bekannt (das heißt, wenn sie in letzter Konsequenz vom deutschen Volkstod als Sühne faseln, meinen sie natürlich immer nur die anderen, selbstredend fangen sie nicht an, selbigen an sich selbst zu exekutieren).

    Was ich schon weniger begreife, ist die Unredlichkeit unserer Generation, die so tut, als hätte sie in derselben Situation natürlich völlig anders gehandelt. Wenn ich mir die Karrieresucht, den Mangel an echter (nicht politisch subventionierter) Zivilcourage und das - zum Teil moralisierend überhöhte - Mitläufertum vieler Zeitgenossen ansehe, kommen mir da sehr große Zweifel.

    Aber ich glaube, in eben diesem Pharisäertum liegt letztlich die Wurzel der Kollektivschuld-Hypothese. Sie hat letztlich religiöse Züge bzw. dient der säkularen Zivilgesellschaft als Religionsersatz: Es geht um einen Schuldkult, der auf mythisch-archaischen Denk- oder besser: Gefühlsstrukturen beruht. Dieser Schuldkult ermöglicht es, sich als Vertreter einer höheren Moral über andere zu stellen, von Kollektivschuld zu reden, ohne selbst in Haftung treten zu müssen. Wer meint, die Deutschen wären kollektiv schuldig, kann ja mal bei sich selber anfangen, Sühne zu leisten und Haftung zu übernehmen. Statt wohlfeile und finanziell einträgliche Zeitungsartikel zu verfassen könnte Herr Trüby ja mal in einem Kibbuz arbeiten....

    Aber abgesehen vom Spinnertum der Antifa und dem Pharisäertum mancher Vertreter der Systemeliten: Ich begreife es beim besten Willen nicht, wie Leute, die sich als Historiker bezeichnen, so barbarische und archaische, alle Fortschritte der Zivilisation und der Aufklärung negierenden Schlussfolgerungen wie die Kollektivschuld-Hypothese ziehen können. Ich bin - selbst Historiker - absolut entsetzt!

    Natürlich, ich wiederhole, was Konsens ist, hat es im deutschen Namen schwerste Verbrechen gegeben und natürlich haben wir eine kollektive Verantwortung, aus der sich auch ethische und moralische Forderungen an die nachfolgenden Generationen ableiten lassen. Aber bitte hört doch mit dem Irrsinn auf, die kollektive Verantwortung in eine kollektive Schuld zu verkehren!! Das ist wirklich ein Rückfall in mythische Weltbilder.

    Und ein letztes: Nein, ein Historiker bewertet nicht, er wertet aus. Wiederum zwei verschiedene Dinge.

    Ich habe zu diesem Thema nun alles gesagt.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Natürlich, ich wiederhole, was Konsens ist, hat es im deutschen Namen schwerste Verbrechen gegeben und natürlich haben wir eine kollektive Verantwortung, aus der sich auch ethische und moralische Forderungen an die nachfolgenden Generationen ableiten lassen.

    Danke, das ist auch meine Ansicht, die ich hier gestern Abend zu vertreten versucht. Der Begriff der Schuld scheint hier zu sehr von einer individuellen Täterschaft geprägt zu sein, weshalb ich dafür plädiere von einer Verantwortung zu reden.

    Und ein letztes: Nein, ein Historiker bewertet nicht, er wertet aus. Wiederum zwei verschiedene Dinge.

    Dann würde der Historiker die Geisteswissenschaften verlassen. Ein Historiker bewertet auch. Anhand der einzelnen Fakten stellt er auch Kausalitäten und Korrelationen her, die eben in der Regel nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisbar sind, sondern auf Erfahrungswerten basieren. In diesem Augenblick nimmt er eine Bewertung der Fakten vor. Damit ist aber nicht eine moralische Bewertung gemeint, sondern die Relevanz für und der Bezug zum Gesamtbild. So entstehen Thesen und so funktionieren sehr viele Geisteswissenschaften: Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Ethnologie, Musikwissenschaften etc. Manche Thesen lassen sich stichhaltig belegen, andere verhaften in einer vagen Vermutung. Es ist auch Aufgabe des Geisteswissenschaftlers, diese unterschiedliche Wertigkeit von Thesen deutlich zu kommunizieren.

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  • Und auch das sehe ich anders. Da Kollektive aus einzelnen Individuen bestehen, gibt es sehr wohl ein bewusstes Handeln, wenngleich nicht jedes Individuum die gleiche Handlung vornehmen muss. Finden sich aber in einem Kollektiv genügend Individuen mit gleichartigen Handlungen, wird das Kollektiv als handelnder Faktor wahrgenommen und überlagert die Handlungen der einzelnen Individuen.
    Im übrigen lehnte auch Roman Herzog die kollektiv Schuld in einer Rede über dir Gräueltaten der Nazis ab, betonte aber gleichzeitig die kollektive Verantwortung. Offensichtlich hatte er dabei ähnliche Gedankengänge wie ich:

    Die erste Aussage des Beitrags halte ich auch für einen Fehlschluß. Richtig ist natürlich, dass Kollektive aus Individuen bestehen, die als solche (Selbst)bewußtsein, mentale Zustände, ein psychiches Innenleben aufweisen, kurz gesagt: Subjekte sind. Aber das heißt nicht, dass die Kollektive, die sie bilden ein psychisches Innenleben, Bewußtsein etc. aufweisen. Das eine folgt nicht aus dem anderen; letzteres wäre aber notwendig, damit man Kollektiven sinnvollerweise Schuld zuschreiben könnte.

    Und dass dann eventuell das Kollektiv als moralischer Akteur "wahrgenommen wird" ist kein Beleg dafür, dass es das auch ist. Auch hier folgt das eine nicht aus dem anderen. Die Wahrnehmung kann schlicht falsch sein. Und ich meine gezeigt zu haben, dass und warum das der Fall ist.

  • Das eine folgt nicht aus dem anderen; letzteres wäre aber notwendig, damit man Kollektiven sinnvollerweise Schuld zuschreiben könnte.

    Lösen wir uns doch bitte von dem begriff Schuld, weil es doch offensichtlich ist, dass wir da unterschiedliche Tendenzen in dem Terminus sehen. Gehen wir von einer Verantwortung aus, denn so möchte ich die Schuld verstanden wissen. Kann die auch nicht kollektiv sein? Hat Roman Herzog Unrecht?

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  • Ich bin Dir außerordentlich dankbar @tegula , dass Du den Vorschlag aufgreifst, von Verantwortung statt von Schuld zu reden. Und das nicht nur aus den schon dargelegten Gründen. Es geht nämlich auch um die Gestaltung von Zukunft.

    Individuelle Schuld muss abgebüßt bzw. wiedergutgemacht werden, das ist klar. Zugewiesene Schuld hingegen hat etwas Repressives. Die, welche den Nicht-Tätern aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv eine Schuld zuweisen, können diese als Sündenböcke instrumentalisieren. Bei den Betroffenen dagegen führt sie entweder zu Schuldkomplexen, zu Beschämung oder aber zu Abwehrhaltung. Diese zweite Gruppe wird dann neurotisch oder sie flüchtet sich entweder in Unterwürfigkeit oder in eine trotzige Verweigerungshaltung, die im Extremfall in Revanchismus umschlägt. Beides ist hochgradig unproduktiv.

    Verantwortung hingegen eröffnet Handlungsspielräume. Wenn ich jemandem Verantwortung übertrage, werte ich ihn auf. Wenn ich selbst Verantwortung übernehme - zum Beispiel für die Taten eines Kollektivs, dem ich angehöre - zeige ich Größe und Stärke - eben Verantwortungsbewusstsein. Denn das ist ja etwas anderes als wie wenn ich mich in die Rolle des Sündenbocks drängen ließe. Und aus der Verantwortung heraus kann viel freier und souveräner zum Wohle aller agieren.

    Und wenn wir nun zu Trüby kommen: Seine Argumentation ist repressiv. Er verfolgt unter dem Deckmantel der Moral ideologische Absichten. Er will eine Deutungshoheit über Geschichte durchsetzen, die ihm nutzt und die auf die Diffamierung der anderen abzielt. Dabei arbeitet er mit Schuldzuweisungen und Schuldkomplexen. Das geht so weit, dass er implizit selbst die mittelalterliche Architektur Frankfurts in Sippenhaft für die Naziverbrechen nimmt. An sich unerklärlich, wie so jemand in Intellektuellenkreisen irgendeine Resonanz finden kann. Aber in einer Gesellschaft, die an die Stelle der Verantwortungsethik, um die es mir mit Max Weber geht, die Gesinnungsethik gesetzt hat und die von Schuldneurosen geplagt und traumatisiert ist, funktioniert das offenbar. Aber daraus wird nie etwas Gutes erwachsen, außer dass ein einzelner sich profiliert und damit Karriere macht - letztlich zum Schaden aller anderen.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Lösen wir uns doch bitte von dem begriff Schuld, weil es doch offensichtlich ist, dass wir da unterschiedliche Tendenzen in dem Terminus sehen. Gehen wir von einer Verantwortung aus, denn so möchte ich die Schuld verstanden wissen. Kann die auch nicht kollektiv sein? Hat Roman Herzog Unrecht?

    Hm, Verantwortung ist auch ein nicht ganz unproblematischer Begriff. Wie ich ja schon erwähnt habe, ist der Begriff äquivok, d.h. er zwei unterschiedliche Bedeutungen:

    1.) Verantwortung im Sinn der Zurechnung von Handlungen und/oder Handlungsfolgen

    2.) Verantwortung im Sinn der Zuschreibung von Pflichten

    Durch diese oftmals undurchschaute Äquivokation ist der Verantwortungsbegriff eine notorische Quelle von Fehlschlüssen. Von daher finde ich die Rede von "kollektiver Verantwortung" ziemlich schwammig und erst einmal klärungsbedürftig.

    Verantwortung im ersten Sinn ist mehr oder weniger synonym zum Schuldbegriff, wo es sich bei der zugerechneten Handlung um ein Verbrechen handelt: "Peter ist verantwortlich für den Mord an Paul" = "Peter ist schuld am Mord an Paul."
    Darum kann es sich also bei der Rede von der kollektiven Verantwortung nachfolgender Generationen nicht handeln, weil diesen ja nicht Handlungen zuschreibbar sind, die von ihnen nicht begangen wurden. Dennoch scheint es mit bei euren Äußerungen so zu sein, als würde auch dieser Sinn immer implizit mitschwingen. Ihn müssen wir aber ganz ausblenden, da er offenbar nicht anwendbar ist.

    Bleibt also nur noch Verantwortung im Sinn von Pflichtenzuschreibung. Da müsste dann zum einen geklärt werden, um welche Pflichten es sich handeln soll. Und zum anderen woraus diese Pflichten resultieren sollen, im konkreten Fall: wie es möglich sein soll, dass Handlungen anderer für eine Gruppe von Personen, die an diesen Handlungen nicht beteiligt waren (weil sie erst später geboren sind) alleine dadurch sollten Verpflichtungen generieren können, dass die Personen, die diese Verpflichtungen haben sollen, demselben ethnischen Kollektiv angehören wie die Gruppe derjenigen Personen, die die betreffenden Handlungen vollzogen hat.
    Das scheint mir auf den ersten Blick zumindest schwierig (Fragen der Haftung von Institutionen bleiben von dieser Skepsis ausgenommen, weil sie einfach juristische Fiktionen sind und insofern keinen moralischen Sinn haben).

    Solange die beiden Punkte nicht geklärt sind, tue ich mich schwer, den Gebrauch des Begriffs der "kollektiven Verantwortung" philosophisch zu bewerten.

    Ich empfehle zu diesem Thema den glänzenden Aufsatz von Janna Thompson: Collective Responsibility for Historic Injustices, Midwest Studies in Philosophy XXX (2006), pp. 154-167, die nahezu alle möglichen Varianten einer Antwort auf meine zuletzt gestellte Frage durchspielt und zu dem Ergebnis kommt, dass eigentlich keine philosophisch haltbar ist. Daher verlegt sie sich auf einen mehr oder weniger juristisch gedachten Haftungsbegriff. Ich würde diesen Schluß nicht so schnell mitmachen, aber es liegt da offenkundig ein massives Problem, das diejenigen, die unbedarft von "kollektiver Verantwortung" reden oftmals nicht einmal sehen.

  • Mit dem Begriff "Schuld" kann ich noch irgendwie umgehen. Menschen können sich schuldig machen oder haben sich schuldig gemacht. Daraus leitet sich noch nichts ab, außer einem Schuldbewusstsein.

    Historisch betrachtet ist das ganze natürlich komplex. Jemand, der selbst im KZ saß, sich stets als Deutscher verstanden hat, der selbst Opfer war, ist plötzlich Teil eines "Tätervolkes". Paradox. Zudem darf man ja auch nicht unterschätzen, dass es viele Menschen gab, die in vielen Dingen (vielleicht in nicht allen) nicht mit der Staatsführung konform gingen, aber gar keine Möglichkeit hatten, etwas zu verändern. Schon heute... was kann schon eine kleine Hausfrau gegen den Trend der Politik ausrichten? Heute kann sie zumindest Leserbriefe schreiben oder in einen oppositionellen Verein eintreten, wenn das ihr Alltag zulässt. Viel ändern wird auch das nicht. Damals war so etwas bisweilen lebensgefährlich. Zumal es damals gar nicht die heutigen Informationsmöglichkeiten gab. Andere waren zerrissen. Sie lehnten den Bolschewismus ab und begrüßten die Vereinigung mit Österreich, aber die Judenverfolung fand ihr Missfallen. Das ist eine schwierige Kiste. Gleichwohl gibt es natürlich eine Art "kollektives Irresein", das seine Vorgeschichte hat (an der auch andere Schuld tragen; z.b. Versailler Vertrag) und von einer aktiven Minderheit des Volkes vorangetrieben wird.

    Der Begriff "Verantwortung" hat mir zu viele unbekannte Zukunftsvariablen. Vor allem, wenn in Politikerreden von der "besonderen Verantwortung" die Rede ist. Verantwortlich ist doch im Grunde jeder Mensch, gegenüber seiner Umwelt, gegenüber sich selbst, seiner Familie, seinen Kindern, seinen Eltern, seinen Mitmenschen. Das ist ein Allgemeinplatz. Eine "besondere Verantwortung" ist schon wieder problematisch. Ich kann nachvollziehen, dass die Verantwortung gegenüber den eigenen Kindern rechtlich höher ist als gegenüber fremden Kindern. Aber, wenn ich einer bestimmten Personengruppe gegenüber "besondere Verantwortung" habe, dann heißt das ja, dass ich gegenüber einer anderen "weniger Verantwortung" an den Tag legen muss. Denn irgendwo muß ja das Wort "besonders" eine Hierarchie wiederspiegeln. Das halte ich aber für moralisch problematisch. So nach dem Motto: Aus "besonderer Verantwortung" karre ich meinen Plastikmüll nicht nach Land A, aber in Land B darf ich ihn abladen. Also, mit dem Begriff "besondere Verantwortung" will man neue Generationen politisch an eine bestimmte Linie binden. Nach dem Motto: "Waffenlieferungen an A sind richtig, da `besondere Verantwortung´ besteht, an B sind sie aber unrichtig, da Waffenlieferungen ja stets unmoralisch sind und man sich damit `schuldig´ am Tod anderer Menschen macht." Das schafft nur neue Paradoxien und "Schuldzusammenhänge".

    Ansonsten aber schließe ich mich im Prinzip "Centralbahnhof" an, dass derlei Thesen eigentlich nicht wert sind, auf derart anspruchsvolle Weise in diesem Forum diskutiert zu werden. Ich denke auch nicht mal, dass Trüby die geistige Kapazität hat, eine solche Diskussion wirklich auf derart anspruchsvollem Niveau zu führen. Trüby schmeisst einfach ein paar angelesene Thesen in die Öffentlichkeit, findet damit Interesse bei wohlwollenden bzw. mit der Architekten-Szene vernetzten Journalisten und kann sich so erneut profilieren. Das ist das eigentliche Problem. Gleichwohl schätze ich die Wortmeldungen der Diskutanten hier und lese sie mit Interesse. Insofern sei das also nicht als Kritik verstanden.

  • Ich würde Verantwortung natürlich in der zweiten Bedeutung sehen - mit einer in die Zukunft gerichteten Handlungsoption. So wie ein Staatsmann Verantwortung für ein Land übernimmt.
    Man kann nun fragen, woraus die Verantwortung der Deutschen angesichts der im Dritten Reich begangenen Untaten besteht. Und da gibt es sicher die juristische Ebene. Die BRD ist der Nachfolgestaat des Deutschen Reiches. Daraus resultieren zum Beispiel Wiedergutmachungsleistungen an Israel, die Entschädigung enteigneter Juden usf. Hier übernimmt in der Tat der Staat als ein Kollektiv Verantwortung, doch hat das hat nichts mit den Bundesbürgern als Individuen zu tun.
    Darüber hinaus kann jeder Deutsche sich moralisch aufgefordert fühlen, etwas für die Völkerverständigung zu tun oder sich dafür einzusetzen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben. Dieses Engagement resultiert aus Einsicht, es ist keine Pflicht.

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  • @Heimdall Also ich finde diese Diskussion hochspannend. Nicht, weil es mir um Trüby geht. Und mir ist auch klar, dass die meisten Politiker den Begriff von der "besonderen Verantwortung" als hohle Phrase benutzen. Aber gerade weil diese Begriffe so unreflektiert und inflationär verwendet werden, lerne ich aus den Diskussionsbeiträgen enorm viel und werde auch angehalten, mit selber den Kopf zu zerbrechen, was ich eigentlich unter Verantwortung verstehe. Das ganze ist schon so ein kleines Historico-Philosophicum.

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  • Ich würde Verantwortung natürlich in der zweiten Bedeutung sehen - mit einer in die Zukunft gerichteten Handlungsoption. So wie ein Staatsmann Verantwortung für ein Land übernimmt.
    Man kann nun fragen, woraus die Verantwortung der Deutschen angesichts der im Dritten Reich begangenen Untaten besteht. Und da gibt es sicher die juristische Ebene. Die BRD ist der Nachfolgestaat des Deutschen Reiches. Daraus resultieren zum Beispiel Wiedergutmachungsleistungen an Israel, die Entschädigung enteigneter Juden usf. Hier übernimmt in der Tat der Staat als ein Kollektiv Verantwortung, doch hat das hat nichts mit den Bundesbürgern als Individuen zu tun.
    Darüber hinaus kann jeder Deutsche sich moralisch aufgefordert fühlen, etwas für die Völkerverständigung zu tun oder sich dafür einzusetzen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben. Dieses Engagement resultiert aus Einsicht, es ist keine Pflicht.

    So kann man das sehen, nur bezieht sich eben das erstere - die juristische Ebene - auf den Begriff der Haftung und der juristischen Fiktion der Kontinuität von Institutionen und nicht so sehr auf einen moralischen Verantwortungsbegriff.

    Und auch der zweite Punkt rückt m.E. doch deutlich ab vom Begriff der Verantwortung als Pflichtenzuschreibung. Da geht es eher um so etwas wie Lehren aus historischer Erfahrung. So ähnlich wie jemand, der einen Autounfall wegen Alkohol am Steuer aus nächster Nähe beobachtet hat, sich vielleicht aufgefordert fühlt, etwas gegen Alkohol am Steuer zu unternehmen oder vielleicht auch nur besonders sensibel ist, wenn jemand sich betrunken ans Steuer setzt.

    Der von Politikern ständig gehörte Begriff der "kollektiven Verantwortung" scheint mir aber viel mehr sagen zu wollen, wirklich eine Pflichtenzuschreibung vornehmen zu wollen und das erscheint mir eben prima facie unplausibel.

  • Ich habe mehrmals teilweise heftige Diskussionen mit Philon über Bombenkrieg, Kriegsverbrechen und Kollektivschuld geführt - und wir sind uns überhaupt nich einig. Das man aber die (immensen) Verbrechen des Dritten Reiches und große Teile der Bevölkerung als Argument gegen Rekonstruktionen benutz, finde ich absurd. Sollte die Frauenkirche die Gräueltaten des Krieges verdrängen? Für mich sind Rekonstruktionen eher ein Sieg der Schönheit und des Geistes über Fanatismus und Gewalt. Wir müssen aber aufpassen, dass die Rekobewegung von AfD und Konsorten nicht instrumentalisiert wird - das wird weitere Rekos deutlich schwieriger machen. Siehe Gärküchenhäuser in Frankfurt.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker