• Wie kann man den links die Situation einfach so abreißen wollen? Noch ganz dicht?

    In der Tat ist der Preis, für den die Essighausfassade wiederkommt, sehr hoch. Bei der Rückseite sehe ich durch den Abriss der angepassten 50er Jahre Bebaaung und durch den Abriss eventuell romanischer Bausubstanz keinerlei Verbesserung.

  • No, Kaoru, sonst sagst nix dazu, außer dass du irgendwelche 50er-Jahre Rückfassaden, so gelungen sie auch sein mögen, beweinst? Ich wäre eigentlich auf deine Meinung zu dieser neuen gewagten Ecksituation um die Essighausfassade gespannt. Ehrlich, ohne jegliche Ironie, ich halte was von deinem ästhetischen Dafürhalten. Bist du vielleicht zu sehr im Wigl-Wogl?
    Wie auch immer, heraus damit!

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Eckgrundstück Große Waagestraße / Langenstraße

    1. Baustufe

    Das vor der Zerstörung mit einem spätklassizistischem traufenständigem Gründerzeitler bebaute Grundstück, wurde im Jahre 1951 im Auftrag des Bankhauses Martens & Weyhausen von den Architekten Wortmann und Schott mit einem schlichtem zweigeschossigem und flachgedecktem Backsteinbau versehen, dessen Bauschmuck lediglich aus einer-wohl aus der Rokokozeit stammenden und den Eingang rahmenden - Portal-Spolie an der Langenstraße und einer neugeschaffenen Baudatierung an der Großen Waagestraße bestand. Im rückwärtigen Bereich schloß sich noch ein aus einem hochliegendem Keller und einem Hochparterre bestehender Hinterflügel an.

    Der spätklassizistische Gründerzeitler.

    Der flachgedeckte Bau von Wortmann und Schott aus dem Jahre 1951

    2. Baustufe

    Wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem 1956 erfolgten Wiederaufbau des benachbarten Essighauses, wurde das Gebäude um ein zweites Obergeschoß aufgestockt. Diese Aufstockung ist bis heute an einer anderen Tönung der Backsteine erkennbar: Gehen die beiden Geschosse von 1951 eher ins Orange, hat die Etage von 1956 ein mehr rötliches Ausehen. An der Fassade ist der Unterschied regelrecht als ‚Kante’ erfahrbar.

    Der Bau nach der höchstwahrscheinlich 1956 erfolgten Erweiterung. Die Backsteine der neuen Etage erscheinen auf dem schwarz-weiß Foto weißlicher, als die der Untergeschosse. Die angesprochene 'Kante' ist somit deutlich erkennbar. Von Eck-Quadern ist im Übrigen weit und breit nichts zu sehen.

    'Kante' in der Gegenwart. Totale des Gebäudes von Süden.(Bild von Forumsmitglied Mantikor)

    Die orange bzw. blaßrote Färbung der Backsteine.

    Die 'Kante' an der Ostseite des ursprünglich von Wortmann und Schott errichteten Gebäudes. Die obere Etage erscheint wie mit roter Fassadenfarbe zugekleistert, während in den untern Geschossen Fugensichtigkeit dominiert. Sicher nur der Perspektive geschuldet...

    Am 'Adler-Giebel' ist die Kante ganz besonder prägnant zu sehen.


    3. Baustufe

    Nach der Entscheidung der Handelskammer Bremen, ihre neugotische, von Heinrich Müller geschaffene, kriegsbeschädigte aber durchaus instandsetztbare und v.a. erhaltungswürdige ‚Neue Börse’ am Markt abreißen zu lassen, kam es in der Stadt zu einer Diskussion darüber, ob man nicht wieder eine Giebelhausreihe auf diesem Grundstück an der Ostseite des Marktes errichten solle, so wie diese vordem, vor der Errichtung der Neuen Börse bis in die 1860er Jahren dort bestanden hatte. Die Bremische Gesellschaft ‚Lüder von Bentheim’ (benannt nach dem Meister der Rathausfassade) propagierte zunächst eine Mischung aus Rekonstruktion und Translozierung und zwar derart, daß das gotische ‚Balleer’sche’ und das frührenaissance-zeitliche ‚Pundsack’sche’ Haus, die schon früher an der Ostzeile des Marktes gestanden hatten rekonstruiert werden sollten und der Frontgiebel des Caesar’schen Hauses vom Domshof und die Giebelfassade der Sonnen-Apotheke aus der Sögestraße diesen an die Seite gestellt werden sollten. Im weiteren Verlauf der Diskussion verzichtete man dann auf die Rekonstruktionen und wollte statt dessen auch noch den Rückgiebel von Haus Caesar, vom Domshof sowie die Giebelfassade des Hauses der Firma Suding & Soeken von der Langenstraße an den Markt versetzen. Diese Pläne zerschlugen sich, da die Politik diesem von den Bürgern mehrheitlich befürworteten Vorhaben nicht zustimmte und statt dessen ein Parlamentsgebäude in ‚zeitgenossischen’ Formen durchsetzte. 1971 erhielten dann zumindest der Rückgiebel von Haus Caesar und Teile der Fassade der Sonnen-Apotheke, an der Langenstraße ihre ‚zweite Chance’.

    Der erste Vorschlag der 'Lüder-von-Bentheim-Gesellschaft' für die Gestaltung der Ostseite des Marktplatzes.

    Der zweite Entwurf.

    Modell des zweiten Entwurfes.

    Wenn man einmal die Fassade der Apotheke an der Sögestraße mit den hier an der Langenstraße verwendeten Elementen vergleicht, dann fällt nicht nur die starke Verballhornung des Giebels auf, sondern auch – und vor allem – die Tatsache, daß die Apotheke an ihrem originalen Standort wesentlich weniger Eckquader an der Fassade besaß, als das hier in Rede stehende Gebäude an der Langenstraße. Da die ‚Sonnen-Apotheke’ am Markt wesentlich höher hätte werden sollen, als an ihrem ursprünglichen Standort, könnte es sein, daß die Gesellschaft ‚Lüder von Bentheim’ vielleicht etwas zu voreilig und siegesgewiß, bereits die erforderliche Zahl neuer Bossenquader herstellen ließ, damit diese dann die neue Fassade am Markt hätten ‚strecken’ können. Die Eckquader wären insofern eventuell ein bleibendes Symbol für einen leider gescheiterten Optimismus in historischer Stadtbildgestaltung…

    Die 'Sonnen-Apotheke' in der Sögestraße (links), am Markt (mittig) und an der Langenstraße (rechts).

    Sei es, wie es sei, die Quader wurden jedenfalls beim Umbau des Gebäudes (in einem Zuge mit dem nun mit diesem verbundenen Essighaus) im Jahre 1971 in die Backsteinwand / wände der 1950er Jahre hineingestemmt. Man erkennt noch teilweise Schadstellen an den Backsteinen die durch diesen Vorgang hervorgerufen wurden. Und daß der -in die Traufe förmlich hineingeschnittene - Giebel (Reste des Traufendachs sind ja in unschöner Weise noch rechts und links vom Giebel stehen geblieben) unästhetisch verballhornt wurde, ist hier ja nun schon häufig geschrieben worden.

    Die nachträglich hereingestemmten Eck-Quader.

    Stemm-Schäden am Backsteinmauerwerk (grüne Pfeile).

    Die Verballhornung des Giebels.


    Im Zusammenhang mit diesem Umbau erhielt wahrscheinlich das rückwärtige, niedrige Hinterhaus nun sein zweites Geschoß und den Giebel mit dem Adler auf dem First. Auch die Spolien in der Giebelwand (Säulen-Collage und Löwenkopf) dürften erst in diesem Zuge angebracht worden sein.


    Wenn man sich das Ergebnis – wie es seit 1971 besteht – ansieht, so kann man hier durchaus von einem ‚organischen Wachstum’ des Gebäudes sprechen. Wirklich schön ist es jedoch nicht zu nennen, zumal sich der in die Traufe eingeschnittene Giebel und die Fensterachsen darunter in asymmetrischer Weise beißen.

    Zusammenfassung der Baustufen des Gebäudes

    Ausblick

    Ich würde nach Allem daher dafür plädieren, die jetzige Fassade gänzlich niederzulegen und die Giebelfassade der Sonnenapotheke – in der Höhe und dem fast originalgetreuen Aussehen, so wie sie eben für den Markt einst geplant war – hier neu zu errichten. Das bisherige Rokoko-Portal sollte man achsensymmetrisch mittig als Nordausgang unter dem Adler-Giebel weiterverwenden.

    Insofern ging der ältere Entwurf der Architekten von Christian Jacobs schon in die erstrebenswerte Richtung, da dieser den Giebel nicht um ein Haus nach Westen verschieben, sondern ihn – sozusagen – über dem jetzigen Grundstück halten wollte. Dadurch wäre auch der Erhalt des Alder-Giebels im Norden, nicht verunmöglicht worden.

    Auf ganz lange Sicht wäre man dadurch zudem in der Lage, die beiden historischen ‚Flankenbauten’ des Essighauses mit ihren Giebeln eines fernen Tages wiederzuerlangen.

    Der wohl frühere (links) und der aktuelle Entwurf für das 'neue Essighaus'.


    Man sieht also, die Zukunftsfähigkeit des Essighaus-Komplexes hängt aus der Sicht der Reko-Bewegung gerade auch an diesem östlichen Eckgrundstück mit seinen beiden (südlichem und nördlichem) Giebeln.

    Wir können nur nochmals an die – ja schon mit der Essighausfassade dankenswerter Weise unter Beweis gestellte - Großzügigkeit und Heimatverbundenheit von Christian Jacobs appellieren, sich diesen Argumenten nicht gänzlich zu verschließen. Wie heißt es so schön, ‚die Hoffnung stirbt zuletzt’.


    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (10. September 2018 um 22:11)

  • No, Kaoru, sonst sagst nix dazu, außer dass du irgendwelche 50er-Jahre Rückfassaden, so gelungen sie auch sein mögen, beweinst? Ich wäre eigentlich auf deine Meinung zu dieser neuen gewagten Ecksituation um die Essighausfassade gespannt. Ehrlich, ohne jegliche Ironie, ich halte was von deinem ästhetischen Dafürhalten. Bist du vielleicht zu sehr im Wigl-Wogl?
    Wie auch immer, heraus damit!

    Wigl-Wogl. Die Essighausfassade wird bei entsprechender Ausführung großartig, beim Rest habe ich größere Bauchschmerzen. Ich werde nicht recht warm damit und halte es für eine sehr bittere Kröte. Letztlich wird sie aber zu schlucken sein, weil sonst das Essighaus oder wenigstens dessen Fassade nie wieder kommen wird.
    So einfach und in deinen Augen banal wohl mancher 50er Jahre Wiederaufbau sein mag, kommt dieser für mich sowohl strukturell, städtebaulich, handwerklich und architektonisch deutlich dichter an das heran an dem, was ich an einem guten Haus verstehe, als das, wodurch es ersetzt wird. Wir haben einzelne, kleine Parzellen, ein Satteldach, Zumindest beim Rückbau gute Proportionen, die Plastik-Fenster können wieder durch Holzsprossenfenster erstezt werden, wir haben Sandsteingewänder. Alles in einer Qualität, die noch erahnen lässt, dass die Architekten zumindest Schüler bei jenen waren, die man noch Baumeister nennen kann. Zudem kommt die noch rudimentär vorhandene historischer Tiefe durch etwaiges steinernes Haus. Auch die Nachkriegsdiele hat Qualitäten und ist eine wichtige Remineszenz. Das alles wird, statt es zu erweitern, zu verbessern, weiterzuentwickeln, geopfert, weil alles andere ja investorenfeindlich und renditevernichtend. Für mich ist das was kommt, nichts wert. Füllbau, mehr nicht. Erträglich anbiedernder Investorenmüll. Der Wiederaufbau des Quartieres war im wesentlichen Ausdruck materiellen Notstandes, das was kommen wird, ist Ausdruck geistig-kulturellen Notstandes. Es ist ein ärmlicher Abklatsch expressionistischer Backsteinarchitektur. Die Staffelgeschosse sind grotesk, wie hilflos und zwecklos versucht man hier mit dem Schamlatz vermeintlichen Neoexpressionismus die pure Raumgier zu verdecken. Es hat sehr gute Gründe warum man sich in der Bötcherstraße nicht getraut hat, Flach- oder Staffeldächer den Häusern aufzuflanschen. Dass der Expressionismus darüberhinaus als Fortsezung der Werkbundidee Ausdruck höchster kunsthandwerklicher schöpferischer Lust ist und dass der neue Block mit seinen Baumarktriemchen rein gar nichts davon mitbringen wird, davon brauchen wir gar nicht erst anfangen.

    Und nochmal, zum Abschluss, ich bin so realitätsnah, letztlich den Gewinn der Fassade deutlich höher zu werten als den Verlust des Quartieres. Die Fassade ist die Verbesserung, alles darüberhinaus was kommt, m.E. Verlust.

    3 Mal editiert, zuletzt von Kaoru (11. September 2018 um 10:39)


  • Der wohl frühere (links) und der aktuelle Entwurf für das 'neue Essighaus'.

    Beim aktuellen Entwurf hat man alles, was beim alten falsch war, richtig gemacht und alles, was beim alten richtig war, falsch gemacht.

  • Giebelrochade + Essighausfassade

    Wir haben ja bisher keine Visualisierung gesehen, die die Ansicht des neuen Essighauses von Osten her zeigen würde. Ich habe deshalb einmal in meiner digitalen Mottenkiste gekramt und doch tatsächlich eine Bildcollage - äußerst amateurhafter Qualität -gefunden, die aus dem Jahre 2013 stammt und belegt, daß die hiesigen Reko-Kreise sich schon damals über die Wirkung einer vollendeten Fassaden-Rekonstruktion Gedanken gemacht haben. Wohlgemerkt hier wurde lediglich das Juwel komplettiert und der Rückgiebel von Haus Caesar ein Haus weiter verschoben. Natürlich nicht ideal, zumal vor den oben angesprochenen Monita bezüglich der 'Sonnen-Apotheke'. Aber so hätte man es sich in etwa - ganz grob - vorzustellen, wenn ein Mäzen lediglich am Stadtbild interessiert wäre...


    P.S: Kombinierte man diese Variante mit der Realisierung der einst für den Marktplatz konzipierten Fassadengestaltung der Sonnen-Apotheke, dann würden sich die folgende Vorteile ergeben:
    Der Giebel der Letzteren würde nicht mehr in eine Traufe einschneiden, sondern direkt 'auf Kante' an der Ecke zur Großen Waagestraße ansetzten. Dadurch würde der Giebel nicht mehr derart künstlich aufgesetzt wirken, was er momentan ja leider tut. Zudem könnte man - eine Regulierung der beiden benachbarten Grundstückszuschnitte vorausgesetzt - den Rückgiebel von Haus Caesar in seiner annähernd ganzen historischen Breite vom Domshof wieder aufbauen. Dies würde die - von Ursus Carpaticus zurecht als wenig vorteilhaft kritisierte - Stauchung des Giebels weitestgehend beseitigen.

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (11. September 2018 um 08:11)

  • Zitat von Kaoru

    Auch die Nachkriegsdiele hat Qualitäten und ist eine wichtige Remineszenz. Das alles wird, statt es zu erweitern, zu verbessern, weiterzuentwickeln, geopfert, weil alles andere ja investorenfeindlich und renditevernichtend. Für mich ist das was kommt, nichts wert. Füllbau, mehr nicht. Erträglich anbiedernder Investorenmüll. Der Wiederaufbau des Quartieres war im wesentlichen Ausdruck materiellen Notstandes, das was kommen wird, ist Ausdruck geistig-kulturellen Notstandes.


    Nun, das ist eine Sicht, aus der man profitieren kann.
    Ich sehe indes die 50er-Jahre nicht ganz so sonnig. auch er ist letztlich nur ein Abklatsch früherer Stile, ein bisschen Heimatstil, ein bisschen Expressionismus, ein bisschen Neorenaissance...
    Alles aus zweiter oder dritter Hand, ohne Frische und vor allem Formgefühl.
    Das Haus darunter ist doch viel zu breit für den Sonnen-apothekengiebel, er passt überhaupt nicht, er ist entweder zu klein oder als Zwerchgiebel viel zu groß. Er schwimmt da oben irgendwie herum, und nichts stimmt, weder die Fensterachsen, die auf den Giebel überhaupt keinen Bezug nehmen, noch die unmotivierten Eckquader... da waren vielleicht handwerklich gediegene Bauleute am Werk, aber solche ohne jeden Sinn für Schönheit, Proportion, Form. Der Caesar-Rückseitengiebel ist überhaupt eine Katastrophe, die als Spolie nicht wahrgenommen wird. Irgenwelche alten Formen ohne Sinn zusammengestückelt.
    es geht halt nicht so einfach, dass man einen schönen alten Giebel einem y-belieben, halt ein wenig auf alt getrimmten Haus aufsetzt. Pagentorn hat sicher recht, wenn er den Giebel hinsichtlich der neuen Fensteranordnung als "verballhornt" bezeichnet, aber das scheint mir noch das geringste Problem zu sein.

    Der Neue Entwurf, bei welchem unter den Giebel eine modern-kontrastierende Fassade kommt, ist da, überhaupt nach der Giebelrochade nach links, ein toller Gewinn.
    Du magst recht haben in deiner Beurteilung des Handwerklichen bzw der metapolitischen oder metakulturellen Komponente, wahrscheinlich siehst du in diesem Punkt tiefer und klarer als ich, der ich mehr auf formale Gestaltung abziele.

    Faszinierend und neu war die Darstellung der Markplatzgestaltung. Auch wenn ich die Bremische Bürgerschaft wahrlich nicht geringschätze, weitaus das Beste des modernen Wiederaufbaus nicht nur in Bremen, so wurde doch eine riesige Chance vertan. Bremen könnte einen der allerschönsten Markplätze der Welt haben. Rathaus, Roland, Schütting, zwei roman.-got. Kirchen, und zwei sehr interessante Bürgerhauszeilen mit originalem Bestand... Warum nur...

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Wir Rekonstruktionsliebhaber reagieren beim Jacobs-Vorhaben wie das Kaninchen vor der Schlange Essighaus. Wie erstarrt und voller Freude blicken wir auf die Rekonstruktion, als würde hier ein Märchen aus 1000 und 1 Nacht erzählt. Ein Sesam-öffne-dich der Rekonstruktion, das Vorbild für immer mehr werden wird. Dabei vernachlässigen wir das Ganze. 95 % der Jacobsinitiative besteht aus dem für mich hässlichsten Baustil der Architekturgeschichte, der Zweiten Moderne, die sich - nicht nur in Bremen - aber dort beispielsweise in der Überseestadt oder rund um den alten Wasserturm (umgedrehte Kommode) breitmacht. Die Ursache für diesen Baustil liegen allein im Ökonomischen. Es soll ein Höchstmaß an Fläche generiert werden, damit sich das Investment lohnt. So entsteht die berüchtigte Investorenarachitektur ohne Fassadenschmuck nach dem Motto: Kubus oder Quader, Fenster rein, Flachdach drauf - fertig. Genau das macht auch der Hamburger Jacobs. In fast zinslosen Zeiten ist Betongold immer noch die beste Lösung. Die Essighausfassade ist hier nur das Lockmittel, damit wir die Kröte der tristen Häuser im "Stil" der Zweiten Moderne schlucken. Wir reagieren auf die Rekontruktionsankündigung wie der Pawlow`sche Hund, uns läuft das Wasser im Mund zusammen, denn es könnte jetzt immer mehr "Futter" geben. Das gibt es aber nicht!!! Die Essighausfassade ist kein Ausdruck einer Tendenz, sondern Ausdruck eines Deals zwischen der Stadt (einschließlich Landesdenkmalbehörde) und dem Investor. Und der hat nur ein Interesse.
    Wir sollten die Gesamtsituation bewerten: Was ist besser? Eine Essighausfassade und dahinter wie auch hinter den anderen Gebäuden 7 - 8 Etagen Zweite Moderne oder der jetzige Zustand? Dazu habe ich eine klare Meinung: Die jetzigen Gebäude, auch wenn sie mir nicht gut gefallen, sind zumindest maßstabsgerecht gebaut und passen sich der ursprünglichen Gestaltung der Langenstraße in Höhe und Aussehen ungefähr an. Was durch Jacobs kommt, sprengt alle Dimensionen.
    Der Bremer Landeskonservator hat am Sonntag in Anlehnung an die Erklärung von Davos im Januar in einem Zeitungsartikel folgendes geschrieben: "Wir brauchen in unseren Altstädten keine zerstörerischen und alles übertrumpfenden Footprints, sondern Neubauten haben sich innerhalb des historischen Kontextes zu integrieren in Maßstab, Höhe und Materialität".
    Die 95% Jacobsbauten laufen dieser Erklärung zuwider, sie sind diese zerstörerischen und alles übertrumpfenden Footprints mit ihren 8, 9 Etagen und den ausdrucks- und gesichtslosen Fassaden.

    Ich stimme Kaoru (und auch Jan pmw) vollkommen zu, der schrieb:
    Auch die Nachkriegsdiele hat Qualitäten und ist eine wichtige Remineszenz. Das alles wird, statt es zu erweitern, zu verbessern, weiterzuentwickeln, geopfert, weil alles andere ja investorenfeindlich und renditevernichtend. Für mich ist das was kommt, nichts wert. Füllbau, mehr nicht. Erträglich anbiedernder Investorenmüll. Der Wiederaufbau des Quartieres war im wesentlichen Ausdruck materiellen Notstandes, das was kommen wird, ist Ausdruck geistig-kulturellen Notstandes.

    Da bleibt mir nur noch, Napoleon zu zitieren: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt!

  • Nein, so einfach geht das nicht. Die Essighausfassade ist kein bloßes Lockmittel, sondern ein Selbstzweck, eine der aufregendsten bürgerlichen Fassaden des alten Deutschlands. Dafür könnte man schlechtere Fassaden in Kauf nehmen, umso solche, die um nichts weniger trist als die alten sind.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ich bin auch nicht traurig darüber, dass dieses Nachkriegsprovisorium, das höchstens eine lächerliche Spolien-Orgie ohnegleichen darstellt (wobei die Spolien aber auf jeden Fall erhalten bleiben müssen!) und wohl nur zur Verhinderung einer Wiederaufstehung der alten Essighausfassade gedacht war, nun endlich verschwinden wird. Nur weil es Klinkerfassaden und ein Ziegeldach hat, ist es doch kein erhaltenswerter, oder sogar gelungener Bau!

    Einmal editiert, zuletzt von Niederländer (11. September 2018 um 16:47)

  • Beitrag von RAHAHE

    Der Ihnen ja Allen hier Forum seit langem bekannte Bremer Mit-Forist RAHAHE bat mich heute, einen Beitrag von ihm einzustellen, den er aufgrund technischer Schwierigkeiten selber nicht hochladen kann. Ich komme dieser Bitte - ohne jegliche Wertung meinerseits - gerne nach. Denn auch diese Wortmeldung fügt - wie ausnahmslos alle bisherigen engagierten Diskussionsbeiträge vor ihr - der Debatte eine wichtige Facette hinzu !

    "Guten Tag, Pagentorn,

    Sie haben sicherlich ein ähnliches Leuchten in den Augen gehabt, wie ich, als Sie von den Plänen Jacobs' lasen. Zumindest in den ersten Sekunden. Schnell machte sich Ernüchterung breit, als ich die Visualiserung sah. Entsetzen traf es noch eher.
    Hier wird etwas gut gemeint - nicht gut gemacht. Nie Neubauten haben sicher eine gewisse Qualität - aber um welchen Preis wird hier neu gebaut?

    Leider weiß ich nicht, wie es derzeit im Essighaus aussieht. Sollte es noch den im Forum gezeigten Bildern - nach Wiederaufbau - entsprechen, so wäre ein Abriss dieses Gebäudes ein architekturhistorisches Verbrechen. Der Aufbau hatte Qualität und folgte dem Zeitgeist - mit Geschmack.

    Der geplante Neubau dagegen führt zu einem renditetauglichen aber baukulturellen Hohlraum - ganz dem zeitgenössischen Menschen entsprechend: ohne Geist und Anspruch, dafür mit einem verschnörkelten Tattoo!

    Ich habe Angst um all die schönen Spolien und echten Relikte der Vergangenheit. Werden sie im Tausch gegen eine 3D-Druck-Fassade wohl vernichtet? Ich mag es mir nicht ernsthaft vorstellen. Doch: WO will der moderne Architekt sie einsetzen? Ich sehe dafür aktuell gar keine Verwendung.

    Nein, auch dieses Projekt, mit baulichem Opium vermengt, ist nicht in der Lage das architektonische Dilemma unserer Zeit zu beenden.

    Grüße RAHAHE"

  • Plädoyer für dies winzig kleine Stück historischen Bauens im Geist der ‚alten Langenstraße’

    Von dem Blickwinkel der obigen Fotografien (aktuelles Bild rechts: von Mantikor) aus wird deutlich, wie klein im Grunde genommen die Fläche des ‚Essighaus-Ensembles’ ist (nur drei, bzw. idealerweise vier Grundstücksbreiten).
    Westlich von diesem hat die Moderne mit dem Parkhaus, dem Pressehaus und der – brutal die Langenstraße zerteilenden – Schneise der Martinistraße, das Stadtbild voll im Griff und bedingungslos auf Zweckmäßigkeit getrimmt.
    Würde sie nun auch noch mit den geplanten Rasterfassaden in diesen letzten traditionelleren Bereich der östlichen Langenstraße eingreifen, dann würden Stadtwaage, Essighaus und der Giebel des Sonnenapotheke vollends zu Versatzstücken degradiert werden.
    Faßte sich der Investor demgegenüber als Mäzen auf, so würde er zwar seine wirtschaftlichen Belange im neuen Johann-Jacobs-Haus und im Kontorhaus am Markt voll zur Geltung bringen, hier aber eine ‚Traditions-Insel’, mit einer lückenlosen Reihe historischer Fassaden (in der vorgestellten Art) schaffen, das gehobene Speiselokal im Essighaus wiederbeleben und den kleinen – evtl. ‚Arnd-von-Gröpelingen-Platz’ zu nennenden - Bereich vor dem Steinernen Haus, um zwei weitere Giebel, die den schlichten Adler-Giebel über Eck ergänzen könnten, bereichern. Auf diesem Platz würde sich im Übrigen auch ein Baum gut machen.
    Ginge der Investor darauf ein, dann könnte man in der Tat wieder von einer ‚Jacobs Krönung’ – diesmal aber für die Bremer Altstadt sprechen…

    2 Mal editiert, zuletzt von Pagentorn (12. September 2018 um 13:21)

  • Insgesamt habe ich mich in den letzten Tagen über die sehr verhaltene öffentliche Resonanz zu Jacobs' Plänen gewundert. Abgesehen von den beiden verlinkten Weserkurierartikeln ist nichts weiter erschienen, kein Kommentar, keine richtige Debatte, jeder Artikel über Kinderbetreuung bekommt mehr Kommentare als die beiden genannten Artikel. Butenunbinnen hat einen Kurzartikel mit Verweis auf den Weserkurier zum Thema, das wars.

    Aber hier kommt noch ein Artikel, der aus dem erweiterten Themenfeld kommt: Translozierte Fassaden in Bremen, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass doch geredet wird über das Essighaus:

    Link zum Weserkurier

    Insgesamt eine unaufgeregte Sammlung dessen, was wir hier schon wissen. Trotzdem aber positiv zu bewerten, dass nicht dagegen argumentiert wird, mit Versatzstücken zu arbeiten, sondern einfach nüchtern bis sogar positiv über die notgedrungene Fantasie der Bremer nach dem Zweiten Weltkrieg berichtet wird. Sicherlich kein Artikel, der als Kronzeuge gegen Jacobs' Pläne taugt. Ich warte ja noch auf das flammende Plädoyer eines Modernisten gegen die Rekonstruktion.... aber es kommt irgendwie nix.

  • Sehr geehrter Heinzer,

    wer weiß, vielleicht soll dieser Artikel im 'Weser Kurier' die Bremer ja darauf vorbereiten, daß der Landesdenkmalpfleger, Dr. Skalecki, auf irgendeinem verschwiegenen Depot der Denkmalpflege wider Erwarten doch noch die lange verschwundene Vorderfassade des Hauses Caesar wiederentdeckt hat und diese nun in die Planungen von Christian Jacbos als transloziertes Versatzstück einbringen möchte - möglicherweise entsprechend dem oben gemachten Vorschlag, d.h. vor der namenlosen Gasse westlich des Essighauses...


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