Zur Lage der Architekturkritik

  • Zitat

    Architekturkritik muss sorgfältig analysieren, worum es gehen soll, und falschen Gegensätzen zuvorkommen


    Von Ursula Baus


    Stephan Trüby, der frisch gekürte Leiter des legendären Instituts für Grundlagen moderner Architektur der Universität Stuttgart (igma) hatte am 8. April mit einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Lauffeuer quer durch unsere alten und neuen Medien entfacht. Dabei ging es ihm lediglich darum, die Aufmerksamkeit auf die Initiatoren der neuen Altstadt in Frankfurt zu lenken, einer Rekonstruktion, die – schaut man genauer hin – keine ist. Sei’s drum.

    Quelle: https://dabonline.de/2018/05/30/zur…ar-ursula-baus/

  • @erbse

    Womöglich aus ihrer Sicht und für ihr Wirken an betreffendem Institut!?

    Ursula Baus hatte u.a. zwischen 2004-2008 einen Lehrauftrag für Architekturkritik und -theorie am igma der Universität Stuttgart.

  • Ich habe mich in Folge dieses neuen Stranges ,,Die Reaktionen auf Architektur" etwas mit der Architekturkritik in den USA beschäftigt. Dort ist ein ganz großes Thema der verdichtete Wohnungsbau, genannt ,,gentrification building". Man merkt bereits die negative Konnotation. Hierbei wird üblicherweise die moderne Architektur in gleicher Weise kritisiert, wie sie es auch in Europa wird, mit einer vielleicht ganz bemerkenswerten Ausnahme: In Amerika wird behauptet, dass dieser Wohnungsbau zur Gentrifikation, also zum Herausdrängen einzelner Bevölkerungsgruppen führt. Das würde wohl in Deutschland etwas anders gesehen, wo nicht nur Sozialwohnungsbau oft diese Gestalt annimmt, und wo traditionelle Viertel sich eher gentrifizieren. Aber zurück nun zur Architekturkritik, die in diesem Artikel recht gut umrissen wird (wenn auch für meinen Geschmack viel zu sehr ein Fokus auf die Rechtfertigung der Probleme gelegt wird):

    https://archive.curbed.com/2018/12/4/1812…nt-architecture

    Nun bin ich bei meiner Recherche jedoch auf etwas gestoßen, was mich seitdem nicht mehr ganz loslässt, und erhoffe mir Eure Gedanken dazu. In dem Buch ,,The Invention of Brownstone Brooklyn: Gentrification and the Search for Authenticity in Post War New York" wird diese Form der Architekturkritik, wie sie die modernen Wohnungsbauten erfahren ebenso formuliert:

    [Anm. d. Verf.: In freier Übersetzung:] Die Gebäude sind Produkte industrieller Fertigung, von Maschinen massenhaft produziert, ohne Individualität eines Künstlers. [...] Die Ausführungsqualität der Steinfassaden ist äußerst schlecht und die Langlebigkeit der Gebäude nicht gegeben. Schuld daran ist das schnelle massenhafte Bauen wegen der Immobilienspekulation, und der damit einhergehende nicht traditionsbewusste richtige Umgang mit den Baustoffen. Die Sanierer wiederum machen fälschlicherweise die Nutzer verantwortlich für die Baumängel, unterstellen fehlerhaften Gebrauch und deswegen reduzierte Langlebigkeit. [...] Die kritisierende Wahrnehmung der Gebäude lautet, modern und künstlich, geradezu mechanisch, entmenschlichend in ihrer Monotonie. ,,Wer eines dieser Gebäude gesehen hat, hat sie alle gesehen". ,,Immergleiche (dunkle) Fassaden mit gleichen [Fenster]Löchern in gleichem Abstand". ,,Die Architektur wirkt erdrückend".

    Alles für Uns hier keine unbekannte Kritik, will ich meinen. Dann kommt dies jedoch womöglich unerwartet: Diese Brownstone Architektur wurde vor über 100 Jahren errichtet und ebenso alt ist die zitierte Kritik. Brownstone Brooklyn bezeichnet die heute ikonischen Architektur in Brooklyn wie sie hier wohl viele kennen dürften in Form dieser typischen Sandsteinfassaden. Die Kritiker verglichen damals zu der Vorgängerbebauung, die vornehmlich aus kunstvollen Holzhäusern bestand, und deutlich texturierter und weniger glatt gebügelt wirkten.

    Nun könnte man ins Grübeln kommen - zumindest mir ging es so - ob also die Architekturkritik sich hier in immer gleichen Bahnen bewegt, und das vielleicht, weil sich die Architektur/der Bausektor durchgängig in eine Richtung bewegt? Weg von Individualität, hin zu massenhaftem, billigen Bauen? Ist damit, wenn konsequent gedacht, die Kritik und der Richtungswechsel aussichtslos? Oder sprechen wir hier von einem gleichen Mechanismus, der die gleiche Kritik auslöst, aber eben nicht eine systematische Entwicklung beschreibt?

  • Wenn ich Dich recht verstehe fragst Du, ob die Entwicklung zur Moderne (von der die Architektur ja nur ein Teilbereich ist) einem Naturgesetz folgt, somit letztlich kaum umkehrbar ist?

    Nun, es mag gewisse Gesetzmäßigkeiten und ökonomische Zwänge geben, die bestimmte Lösungen nahelegen. Auf der anderen Seite sind ja die wir, sofern wir das Bedürfnis nach traditionellen Formen teilen, der lebende Beweis dafür, dass die Zwangsläufigkeit nicht unbedingt gegeben ist. Zumal es ja auch am Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland bereits die Kulturkritik mit alternativen Lösungsansätzen der modernen Probleme gegeben hat. Ich will sagen, eine These erzeugt auch eine Gegenthese. Daraus ergibt sich, dass es nicht nur einen determinierten Weg gibt, sondern Entscheidungsmöglichkeiten des menschlichen Willens.

  • Heimdall Ja, Du hast den Grundtenor richtig von meiner Aussage, jedoch habe ich ein wenig eine andere mögliche Problematik ausgemacht in meinem Beitrag. Ich sehe, wie Du, dass es natürlich immer auch Wegesabzweigungen gibt, wo man sich wieder neu adjustieren kann, jedoch ist aber auch klar, dass dies nicht grenzenlos geschieht. So wird man heute z.B. egal wie ökologisch das eventuell wäre nicht zu Strohdächern zurückkehren. Vielleicht nicht das beste Beispiel, es gibt sicher andere, aber warum gibt es kein Zurück? Weil sich die Wahrnehmung verschoben hat. Heute ist es undenkbar, dass ein Dach nicht dicht ist gegen Tiere und Insekten, dass man mit sehr viel Manpower, am besten in der lokalen Gemeinschaft, so ein Dach errichtet, oder dass man überhaupt so ein ,,Leichtbaumaterial" verwendet. Dächer sind für uns heute etwas Massives, Langlebiges, aus harten Materialien.

    Und das habe ich da eben in meiner These auch unterstellt. Dass die Architekturkritik zwar in der Form sich womöglich ähnelt, aber stetig die Referenz sich entlang der ökonomischen/gesellschaftlichen Verhältnisse verschiebt. Also konkret, dass vor vielleicht 100 Jahren die Referenz noch war, dass jedes Gebäude mit viel Handarbeit und damit Individualität erstellt wird. Daraus entwickelt sich dann eine trotzdem noch enorm formenreiche industrielle Fertigung der Gründerzeithäuser. Die Referenz verschiebt sich nun dahin, man vergleicht die Moderne nur noch mit einer ,,Pseudoindividualität" hat aber eigentlich Stangenware bereits vor Augen, die Architektur hat aber mittlerweile noch mehr verloren an Charakter, weshalb die Gründerzeit jetzt so stark kunstvoll noch wirkt. Nun haben wir mit Stilen, wie dem Brutalismus, nochmal stärkere Abstraktion von den usprünglichen Qualitäten, plötzlich rückt die frühe Moderne ins positive Licht. Usw. Usf.

    Kommt mein Punkt heraus? Keine der sich ähnelnden Kritik hat überdies eben den Mechanismus an sich ausgehebelt, der zu immer mehr Stangenware, Einheitlichkeit, und möglichst großen Baukomplexen führt.

  • Ich bin recht überzeugt, dass es sich hierbei um einen Übersetzungsfehler handelt. So gibt es im Englischen soweit ich weiß nur das Wort thatch roof. Was aber Strohdach und Reetdach bedeuten kann. Letzteres hat die von mir aufgeführten Nachteile nicht, ist fest, recht massiv und haltbar. Auch gilt trotzdem, was ich damit zu beschreiben versucht hatte: Es gibt da keinen Sprung zurück. Da wo es heute Reetdächer gibt, gibt es sie aus kontinuierlicher Tradition. Eine Widerlegung hingegen wäre es, wenn es sich um eine breite Adaption handeln würde aus einem Zustand der weitgehenden Abwesenheit und das vor allem in nicht industrialisierter Form. So werden heute Reetdächer in Deutschland mit Standardware aus der Türkei, Ungarn und China belegt.

  • "Majorhantines", wir wissen nicht, wie lange die hier beschriebene Moderne noch existiert. Viele denken, dass es einfach immer neue Erfindungen geben wird, die dann die nächste Krisensituation via Innovation lösen wird. Aber das System ist fragil und auf den steten Verbrauch von Energie/Strom angelegt. Wenn der Energiezufluss mal unterbrochen wird oder wegfällt, könnten dystopische Szenarien resultieren. (Die deutschen Versicherer warnen davor derzeit. Siehe hier)

    Wenn es zu einem Systemkollaps kommen sollte, werden wieder ganz andere Maßstäbe bei einer gesellschaftlichen Neustrukturierung angesetzt. Allerdings ist das alles sehr weit weg der Vorstellungswelt der Gegenwartsmenschen.

    Also bleiben wir in deren Denkhorizont. Nach der von dir beschriebenen Logik geht z.B. auch der Zug der Nahrungsproduktion zwangsläufig immer zu größeren Strukturen, zu mehr Industrialisierung der Landwirtschaft, zu mehr Zusetzung synthetischer Zusatzstoffe zur Optimierung der Nahrung. Diese Entwicklung der Agrar-Industrialisierung ist ja auch spätestens ab der Nachkriegszeit deutlich feststellbar. Zugleich aber hat sich auch eine Gegenbewegung bemerkbar gemacht. Es gibt Supermärkte, die regional hergestellte Produkte anbieten. Verbraucher achten auf Freilandhaltung der Hühner, und dass männliche Küken nicht geschreddert werden. Bio-Landwirte halten Bisons ganzjährig auf der Weide. Junge Leute brauen plötzlich zu hause eigenes Bier, pflanzen ihre Tomaten auf dem Balkon oder im urban-gardening-Areal.

    In der Masse ist das sicherlich den Agrarkonzernen unterlegen. Aber es wird ein Bewusstsein geschaffen. Es werden Werte diskutiert, über den Weg zum richtigen Leben, über unser Verhältnis zur Welt. Und dieses Bewusstsein kann Rückkopplungseffekt auf diejenigen haben, die heute noch auf Profitmaximierung, "Machbarkeit" und Turmbau zu Babel programmiert sind.

    Dass es natürlich keinen "Sprung zurück" in die Steinzeit gibt, bzw. dieser nicht freiwillig getätigt wird, ist klar. Es gilt, die Moderne, den "Fortschritt" eben anders zu gestalten. Ich halte es da mit der Definition des Konservatismus, die besagt, dass es jenem nicht darum gehe, einen Zustand nur im Status Quo zu erhalten, noch zu einem Status Quo ante zurückzukehren, sondern ein Morgen mit dem Rückgriff auf spezifische traditionelle Werte zu schaffen.

  • Heimdall Solche Brüche gab es aber doch sicherlich auch seit der Zeit des Brownstone Brooklyn Stils. Dennoch scheint es zumindest innerhalb dieser Skala eben nicht zu einer Trendwende gekommen zu sein, wenn die Architekturkritik derart auf gleichen Bahnen verläuft. Man muss da ja nochmal dran denken, dass damals noch die Eisenbahn das Verkehrsmittel war, keine Flugzeuge, keine Petrochemie, usw. Ich weiß nicht, ob da die Turbulenzen der Dekarbonisierung der nächsten Jahrzehnte nicht von der Skala her vergleichbar sind, und damit wenig Besserung zu erwarten ist, wenn man nicht in ganz neuen Strategien denkt bei der Architekturkritik.

    Andererseits kann ich sehr gut Dein Beispiel nachvollziehen, wo tatsächlich ein gewisses Umdenken sich entwickelt mit regionalen Produkten und Produktion. Habe gestern im Radio gehört, dass 20% der Landwirte überlegen zum Bioanbau zu wechseln. Das ist also ein reales Beispiel, wo es keinen Automatismus in eine Richtung mehr zu geben scheint. Wobei dies ggf auch Folge der Digitalisierung sein könnte. So sind Verbraucher informierter, und Landwirte können mit Computern und präziser Technik überhaupt erstmals Produkte biologisch oder mit weniger Chemie industriell herstellen (anstelle eine Mannschaft Unkrautjäter über die Felder zu schicken z.B.).

  • Interessante Diskussion. Aus meiner Sicht belegt die zeitgenössische Kritik an den heute als ikonisch und traditionell angesehen Brownstones auch nur, dass das Unbehagen mit der Jetztzeit, meinetwegen der "Moderne", schon immer bestand. Es gibt die "gute alte Zeit" immer nur im Rückblick, niemals in der Gegenwart/im Erleben der Menschen. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist seit der Industrialisierung extrem hoch, was eine derartige Nostalgie für eine diffuses "Früher" bei gleichzeitiger Ablehnung der Jetztzeit in vielen Menschen hervorruft.

    Wie fluide das ganze ist, zeigt, dass selbst Traditionalisten heute die Kultur und Architektur der späten Kaiserzeit wertschätzen, während es damals genau dieselben Reflexe gegen den neumodischen Kram gab wie Autos, oder Kinos, wie eben heute gegen, was weiß ich, E-Autos und Solardächer. Der Progressive träumt immer von der Zukunft, in der alles besser würde und die wir nur erreichen können, wenn alle mal endlich mitziehen, der Konservative träumt immer von einer Vergangenheit, zu der man zum Erreichen des Glücks nur zurückkehren müsse.

    Um all diese Befindlichkeiten schert sich aber die Geschichte nicht, die läuft immer weiter. Interessant ist immer zu sehen, wie Konservative vorher aufs Heftigste bekämpfte Konzepte, Regeln, Stile etc. in der Nachschau milde bewerten oder sogar so tun, als hätten sie es schon immer so gewollt. "Konservativ" in diesem Sinne können übrigens auch Modernisten sein, immerhin dominiert dieser Stil nun unsere Architektur seit 100 Jahren.

    Ich glaube nicht, dass der Historismus nochmal wiederkommt, wenn man ihn nicht sehr weit definieren möchte und jede Form von Aneignung historischer Vorbilder als solchen bezeichnen will. Wenn man jetzt mal den "Systemkollaps" außen vor lässt, nach dem wir allenfalls noch in den Ruinen unserer Zivilisation oder in Holzhütten leben würden (letzteres könnte man vielleicht als gaaaanz traditionell bezeichnen), wird es grundsätzlich immer so weitergehen, mal (wie zur Zeit) gibt es Zeiten der Rückbesinnung (auch wenn diese zur Zeit oft die Nachkriegsmoderne als Referenz hat), dann gibt es wieder Phasen der Innovation und der Experimente. Das war schon vor 2000 Jahren so, auch wenn die Zyklen sich natürlich mittlerweile schneller ablösen. Ich für mich wünsche mir, dass möglichst viele zerstörte Gebäude in unseren Städten wiederaufgebaut werden, aber nicht, dass allgemein wieder so gebaut werden soll wie 1890. Es ist auch vollkommen unwahrscheinlich, dass es so kommen würde. Auch das mehr als punktuelle "Überwinden" der Moderne wird Wunschtraum bleiben, oder Albtraum, je nach Sichtweise. Selbst die traditionellsten klassischen zeitgenössischen Architekten haben ihre Referenzen heute eher in der frühen Moderne als in wirklich traditionellen/historistischen Architekturstilen. Traditionell heißt heute irgendwas zwischen Jugendstil/Art Deco und Mid Century Moderne.

  • Es gibt die "gute alte Zeit" immer nur im Rückblick, niemals in der Gegenwart/im Erleben der Menschen.

    Nun, das liegt ja bereits im Begriff begründet. Eine "alte Zeit" bezieht sich immer auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart. :zwinkern: Deshalb kann man aber durchaus Defizite der Moderne feststellen und zugleich auch seine Gegenwart als in großen Teilen als "gut" empfinden.

    Was Du als "Reflexe" in ein irrationales Licht gegen technische Innovationen rückst, ist ebenfalls ambivalent zu sehen. Es gibt ja viele Leute, die technische Innovationen begrüßen. Sonst würden sich diese nicht durchsetzen. Zudem aber gibt es eben auch die andere Seite, die Kritik, welche die negativen Auswirkungen zur Sprache bringt. So kritisierst Du es als "Reflex" (stellst es zumindest als Irrationalität dar), dass es Leute gab, die damals gegen die flächendeckende Einführung des Automobils waren. Das übersieht aber zum Einen, dass es bei jeder neuen Technik Gewinner und Verlierer gibt (in jenem Fall die Pferdezüchter, die Fuhrwerker). Und zum Anderen, dass wir heute wieder manche Kritik von damals aufgreifen und über Verkehrslärm und Abgase schimpfen sowie "autofreie Innenstädte" propagieren (,die auch mit E-Mobilität nur zu dem Preis teilrealisierbar wären, wenn man die Anschaffungskosten allenfalls für eine kleine reiche Schicht erschwinglich macht).

    Dass der Konservative nicht zwangsläufig zu einer Vergangenheit zurück will, habe ich oben erklärt. Er ist sicher ein Bremser des Progressiven. Vor allem aber versucht er eine Alternative des Fortschreitens zu entwickeln, also eine vom Progressiven unterschiedene Zukunft.

    Ich für mich wünsche mir, dass möglichst viele zerstörte Gebäude in unseren Städten wiederaufgebaut werden, aber nicht, dass allgemein wieder so gebaut werden soll wie 1890. Es ist auch vollkommen unwahrscheinlich, dass es so kommen würde. Auch das mehr als punktuelle "Überwinden" der Moderne wird Wunschtraum bleiben, oder Albtraum, je nach Sichtweise. Selbst die traditionellsten klassischen zeitgenössischen Architekten haben ihre Referenzen heute eher in der frühen Moderne als in wirklich traditionellen/historistischen Architekturstilen. Traditionell heißt heute irgendwas zwischen Jugendstil/Art Deco und Mid Century Moderne.

    Diese Sichtweise ist natürlich sehr "konservativ". Sie geht davon aus, dass die Moderne weiter in der bekannten Form bestehen bleibt, allenfalls ein paar nostalgische Tupfer in Richtung 20er-Jahre-Siedlungsbau oder Streamline möglich seien. Abgesehen davon, dass nicht erwähnt wurde, dass es ja mittlerweile im Luxussegment durchaus neoklassizistische Ansätze gibt, kann ich nur sagen, dass die Zukunft offen ist. Sie ist, was wir daraus machen wollen. Du zum Beispiel wünscht Dir nicht, dass wieder so gebaut würde wie 1890. Das ist legitim. "Klassiker" wünscht sich das Gegenteil. Auch das ist legitim. Ich wünsche mir, dass gewisse traditionelle Prinzipien und ein Ortsbezug wieder Einzug in die Architektur finden.

  • Ich wünsche mir, dass gewisse traditionelle Prinzipien und ein Ortsbezug wieder Einzug in die Architektur finden.

    Dem schließe ich mich an - Rekonstruktionen gerne, wo bedeutende Bauten oder Stadtbilder verloren gegangen sind. Aber für die allgemeine Baukultur würde ich mir einen neuen „Heimatschutzstil“ wünschen. Diese Strömung, die in den 20er Jahren begann und in der Stuttgarter Schule der Nachkriegszeit ihre letzte Hochphase hatte, wäre für mich das ideale Leitbild einer neuen Architekturströmung - und zwar nicht als Fortführung des Heimatschutzstils sondern in der Antwort der Frage, wie man den traditionellen örtlichen Baustil in Art, Volumen und Anmutung so mit modernen Erfordernissen (Energiebilanz, solare Strom- und Wärmeerzeugung, Unterbringung von PKWs, Barrierefreiheit) kombiniert, dass am Ende ein harmonisches Bauwerk herauskommt, mit dem historische Ortsbilder bereichert und nicht gestört werden.

    Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels sollte man sich eigentlich stärker mit jahrhundertealten Bauweisen befassen, diese waren meist so entwickelt, dass sie dem lokalen Klimaextremen bestmöglich begegnen können.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • MODERATION/SNORK: Ich möchte hier zum Thema einen wirklich äußerst spannenden Artikel aus der WELT von Dankwart Guratzsch einstellen, allerdings hatte mir Snork bei einem ähnlichen Vorhaben schon mal signalisiert, dass das aus urheberrechtlichen Gründen nicht geht und verlinkt werden muss, was er dann selbst machte. Da ich das leider aus verschiedenen Gründen nicht kann, meine Bitte an die Moderation, das Ganze zu verlinken. Hier jedenfalls schon mal die Überschrift:

    DEUTSCHE INNENSTÄDTE

    Was schön ist, bestimmen nicht länger moderne Architekten

    Stand: 04:31 Uhr | Lesedauer: 8 Minuten

    Von Dankwart Guratzsch

    Der Huehnermarkt mit Friedrich-Stoltze-Brunnen in der neuen Frankfurter Altstadt (Deutschland, Hessen, 22.07.2020)

    Der Name ist Programm: Neue Frankfurter Altstadt

  • Nun, das liegt ja bereits im Begriff begründet. Eine "alte Zeit" bezieht sich immer auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart. :zwinkern: Deshalb kann man aber durchaus Defizite der Moderne feststellen und zugleich auch seine Gegenwart als in großen Teilen als "gut" empfinden.

    Was Du als "Reflexe" in ein irrationales Licht gegen technische Innovationen rückst, ist ebenfalls ambivalent zu sehen. Es gibt ja viele Leute, die technische Innovationen begrüßen. Sonst würden sich diese nicht durchsetzen. Zudem aber gibt es eben auch die andere Seite, die Kritik, welche die negativen Auswirkungen zur Sprache bringt. So kritisierst Du es als "Reflex" (stellst es zumindest als Irrationalität dar), dass es Leute gab, die damals gegen die flächendeckende Einführung des Automobils waren. Das übersieht aber zum Einen, dass es bei jeder neuen Technik Gewinner und Verlierer gibt (in jenem Fall die Pferdezüchter, die Fuhrwerker). Und zum Anderen, dass wir heute wieder manche Kritik von damals aufgreifen und über Verkehrslärm und Abgase schimpfen sowie "autofreie Innenstädte" propagieren (,die auch mit E-Mobilität nur zu dem Preis teilrealisierbar wären, wenn man die Anschaffungskosten allenfalls für eine kleine reiche Schicht erschwinglich macht).

    Dass der Konservative nicht zwangsläufig zu einer Vergangenheit zurück will, habe ich oben erklärt. Er ist sicher ein Bremser des Progressiven. Vor allem aber versucht er eine Alternative des Fortschreitens zu entwickeln, also eine vom Progressiven unterschiedene Zukunft.

    Diese Sichtweise ist natürlich sehr "konservativ". Sie geht davon aus, dass die Moderne weiter in der bekannten Form bestehen bleibt, allenfalls ein paar nostalgische Tupfer in Richtung 20er-Jahre-Siedlungsbau oder Streamline möglich seien. Abgesehen davon, dass nicht erwähnt wurde, dass es ja mittlerweile im Luxussegment durchaus neoklassizistische Ansätze gibt, kann ich nur sagen, dass die Zukunft offen ist. Sie ist, was wir daraus machen wollen. Du zum Beispiel wünscht Dir nicht, dass wieder so gebaut würde wie 1890. Das ist legitim. "Klassiker" wünscht sich das Gegenteil. Auch das ist legitim. Ich wünsche mir, dass gewisse traditionelle Prinzipien und ein Ortsbezug wieder Einzug in die Architektur finden.

    Diesen Ausführungen kann ich im Großen und Ganzen zustimmen. Mir ging es bei meiner Aussagen zur Architektur des späten Historismus gar nicht zwingend um Geschmack, sondern eher um die Einschätzung, dass so etwas eben nicht mehr 1:1 wiederkommen wird. Ich persönlich (das ist jetzt eine Geschmacksaussage) sehe als Stile, auf die man aufbauen könnte bei einer Art Rückgriff/Reorientierung eher ganz allgemein die Stile aus dem ersten Drittel des 20. Jhdts., also alles zwischen Jugendstil und den expressionistischen/traditionelleren Übergangsstilen der frühen Moderne inkl. des von Booni genannten Heimatschutzstils.

    Bzgl. der Regionalität finde ich, dass diese zur Zeit schon recht gut erkennbar ist, sicherlich mit nochmal geringerer regionaler Differenzierung (ein Kenner wird ein Renaissancegebäude sogar zwischen verschiedenen Hansestädten differenzieren können), aber das meiste, was in Bremen zur Zeit gebaut wird, ist erkennbar "norddeutsch", vielleicht erweitert sogar "nordeuropäisch" im Sinne einer sehr klinkerorientierten Architektur, die mir in ihren banaleren Erscheinungsformen aber leider auch fast schon wieder zum Halse heraushängt.

    Auch die Tatsache, dass hier oft niederländische ("De zwarte Hond") oder dänische Büros ("COBE") Wettbewerbe gewinnen, zeigt, dass durchaus eine regionale Identität, sogar über Ländergrenzen hinaus, im Entstehen begriffen ist (oder einfach nur wiederbelebt wird), so dass urbane Neubauareale tlw. in Oslo und Amsterdam mehr Ähnlichkeit mit solchen in Hamburg oder Bremen haben, als Hamburger oder Bremer Projekte mit ähnlichen in München oder Frankfurt. Trotzdem sind diese natürlich alle hochgradig modernistisch geprägt und abgesehen vom Städtebaulichen (unsere Nachbarn scheinen die Angst vor Blockrandbebauung und der Struktur der "europäischen Stadt" anscheinend etwas eher abgelegt zu haben als wir) trotzdem eher enttäuschend, aber eben regional enttäuschend ;).

  • Bzgl. der Regionalität finde ich, dass diese zur Zeit schon recht gut erkennbar ist, sicherlich mit nochmal geringerer regionaler Differenzierung (ein Kenner wird ein Renaissancegebäude sogar zwischen verschiedenen Hansestädten differenzieren können), aber das meiste, was in Bremen zur Zeit gebaut wird, ist erkennbar "norddeutsch", vielleicht erweitert sogar "nordeuropäisch" im Sinne einer sehr klinkerorientierten Architektur

    Ist das wirklich so? Wo steht dieser Bau? https://www.detail.de/fileadmin/_pro…_861d8231e0.jpg

  • Den Bau würde ich als hochmodern bezeichnen und in der Tat relativ ortlos, wenn auch klar aus dem Europa nördlich der Alpen. Abgesehen vom Fassadenmaterial Klinker ist es aber nicht unbedingt der Stil, den ich meine. Es gibt zum Beispiel auch in Bremen einige Gründerzeitler mit diesem rotbraunen Sandstein, der eigentlich fürs RMG typisch ist - also es gab auch schon in der Kaiserzeit Gebäude, die zumindest in einem innerdeutschen Kontext "ortlos" waren und überall hätten stehen können. Was ich aber eher meine, wird vielleicht an folgenden Beispielen deutlich:

    Dies sind alles relativ typische Neubauprojekte der letzten 5 Jahre in Bremen, manche im Bestand, manche in Neubaugebieten. Ich möchte gar nicht über die Qualität reden, die wechselnd ist und im Durchschnitt allenfalls mäßig. Es geht darum, dass diese Gebäude doch recht eindeutig "norddeutsch" sind, damit meine ich, nicht ortlos. So wird heute ganz überwiegend nur in NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und den Stadtstaaten gebaut. Natürlich kann man vielleicht auch einzelne Beispiele aus München finden, bei denen nun mit Klinker und in diesem reduziert frühmodernen/Mid Century-Stil gebaut wurde, es gibt auch z.B. in Frankfurt das "Brick", den Neubau der Deutschen Bahn im Europaviertel, aber dort fallen diese Gebäude eben deutlich mehr auf, wie man auch an den Reaktionen in Frankfurt bemerkt. Das "Brick" ist dort quasi ein Hingucker im sonst creme-WDVS oder Glas/Stahl gehaltenen Europaviertel - hier würde es -abgesehen von den für Bremen untypischen Dimensionen- aber gar nicht auffallen, sowas ist hier Massenware.

    Ich will die Diskussion jetzt auch nicht zu weit vom Thema abbringen, bleibe aber bei meiner Meinung, dass es eine Art "Re-Regionalisierung" von Neubauarchitektur gegeben hat in den letzten Jahren. Und dass wie gesagt große städtebauliche Projekte in Norddeutschland gar nicht selten von Büros unserer Nachbarstaaten geplant werden wird auch einen Einfluss haben auf die Art der Architektur.

  • Danke für die Veranschaulichung. Ich hatte mein Beispiel bewusst gewählt, weil es mir sehr ähnlich erschien zu Gebäuden, welche erst kürzlich hier von Bremen -ich meine sogar von Dir- vorgestellt wurden und geplant werden, bzw. es auch mal hieß, dass diese Dachformen dort sehr typisch geworden seien. Was ich eigentlich ausdrücken wollte, und da verzeihe man mir meine Schreibfaulheit, hätte ich gleich dazuschreiben können, dass man Regionalität noch nicht an sehr wenigen Merkmalen festmachen kann, wie etwa dem Klinker. Mein Beispielbild im vorherigen Post entstammt aus Neu-Ulm. Im Voralpenraum gibt es praktisch keine Steinvorkommen, weshalb Gebäude überwiegend mit Ziegel errichtet wurden, ähnlich wohl zu den sumpfigen Niederungen Norddeutschlands. Das wäre also schon historisch gesehen keine ideale Möglichkeit der Abgrenzung, auch wenn es natürlich häufig so vereinfacht dargestellt wird, Norden Klinker, Süden Putz. Noch weniger stichhaltig ist es jedoch unter dem Gesichtspunkt des momentan vorliegenden gestalterischen Trends: Materialität, Oberflächenstruktur, ,,Rauheit", und Natürlichkeit ist nicht nur in der Architektur, sondern auch im Einrichtungsbereich und sogar bei Haushaltsgegenständen und Kleidung gerade höchst beliebt. Die Architekten folgen also wohl auch nur diesem kurzen Trend, und haben keineswegs das historische Bauerbe in meinen Augen wieder für sich entdeckt. Das belegt auch eigentlich die von Dir schon auch zum Ausdruck gebrachte seltsame Mischung, aus internationalem Stil und vorgeblicher Regionalfärbung.

    Ich habe jedoch verstanden, dass Deine Beispiele hauptsächlich eine Normalisierung dieser Bauten in abgrenzbaren geografischen Räumenbeschreiben, wohingegen, wie Du denke ich richtig analysierst, es in Süddeutschland schon eher als Besonderheit verkauft wird. Wobei eben -siehe beschriebenen Trend- es eben gar nicht so selten ähnlich hier gebaut wird zwischenzeitlich, wie man es klischeehaft vielleicht meint.

  • Liebe Mitstreiter!

    2 GEFÄLLT MIR, ein DANKE und ein SUPER unter # 14 weiter oben.

    Soviel Vorschusslorbeeren für einen Artikel, den ich noch gar nicht eingestellt hatte? Ich bat die Moderation um eine Verlinkung, da ich auf diesem Gebiet nicht besonders firm bin. Das blieb bisher aus. Nun sind bereits zwei, drei Tage vergangen ohne Reaktion von Seiten der Moderation, sodass ich davon ausgehe, dass ich den bemerkenswerten Artikel von Dankwart Guratzsch jetzt auch hier bringen kann. Er ist einfach zu gut, um ihn der Forumsgemeinde vorzuenthalten. Also, noch mal die gleiche Überschrift, das gleiche Bild aus Frankfurt wie bei # 14, dann der neu hinzugekommene Text, der es in sich hat und auch in anderen Strängen wie beispielsweise "Molkenmarkt" o. ä. eingestellt werden könnte.

    DEUTSCHE INNENSTÄDTE

    Was schön ist, bestimmen nicht länger moderne Architekten

    Stand: 04:31 Uhr | Lesedauer: 8 Minuten
    Von Dankwart Guratzsch

    Der Huehnermarkt mit Friedrich-Stoltze-Brunnen in der neuen Frankfurter Altstadt (Deutschland, Hessen, 22.07.2020)

    Der Name ist Programm: Neue Frankfurter Altstadt
    Quelle: picture alliance / greatif

    Über Jahrzehnte hat man den Bürger als architektonischen „Laien“ abqualifiziert und die Rekonstruktion lebenswerter Altstädte „reaktionär“ genannt. Jetzt, wo diese Epoche zu Ende geht, ist ein Kulturkampf um unsere Innenstädte entbrannt. Dabei geht es nicht zuletzt um lukrative Aufträge.

    Wir erleben eine beispiellose Verunglimpfung von Architekten und Bauprojekten, die nicht dem Schema "zeitgemäßer" Architektur entsprechen. Wo eine Fassade, ein Turm, ein Stück Altstadt gar, womöglich ein Schloss wiederaufgebaut oder rekonstruiert werden soll, sind die Kritiker schnell mit Totschlagvokabeln wie "reaktionär" oder "faschistoid" zur Stelle. Aber rekonstruiert, wiederaufgebaut, saniert und modernisiert wurde zu allen Zeiten. Altstadterneuerung ist ein Dauerthema der Architekturgeschichte.

    Das bringen jetzt zwei große Monografien in Erinnerung, die nicht zufällig gleichzeitig erscheinen. Der Berliner Stadtplaner und Soziologe Harald Bodenschatz und der Weimarer Politik- und Planungswissenschaftler Max Welch Guerra rollen 150 Jahre Stadtbaugeschichte auf und erläutern das Phänomen als eine Praxis, die bei Sanierung und Neubau nicht stehenbleibt, sondern immer auch die Restaurierung und sogar den Nachbau von Altbauten einschließt.

    Dabei konzentrieren sie sich ausdrücklich auf die Altstadterneuerung in Diktaturen, in denen es die Altstädte besonders schwer hatten, sich gegen den revolutionären Neuerungsfuror der Despoten zu behaupten. Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt verfolgt mit seiner Untersuchung "Städtebau des Erinnerns" die "Mythen und Zitate westlicher Städte".

    Seine Beispiele sind deshalb so beeindruckend, weil sie das Ringen der Staaten und Städte um ein architektonisches Selbstbild als universelles Anliegen zeigen, das keine Staats- und Systemgrenzen kennt und die Ästhetik - vor Politik, Gesellschaftsordnung, Krieg und Revolution - als bestimmende, maßstabsetzende Kategorie ausweist. Die Bände ergänzen sich auf glücklichste Weise.

    Altstadterneuerung ist eine Reaktion auf Altstadtelend und Altstadtverfall in Zeiten der Industrialisierung. Schon Friedrich Schlegel sprach zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der "Barbarey und geldgierigen Zerstörungswut", die "alle alten Denkmahle verwüste"; und Karl Friedrich Schinkel warnte um dieselbe Zeit davor, dass wir "in kurzer Zeit unheimlich, nackt und kahl wie eine neue Kolonie in einem früher nicht bewohnten Lande dastehen".

    Die Rettungsprogramme für die Altstädte begannen, als ihre Existenz erstmals auf dem Spiel stand. Heute stehen die Städte vor neuen massiven Eingriffen, weil die Klimapolitik ein Umdenken im Städtebau erzwingt. Und so mancher Bürgermeister rauft sich die Haare, weil er nicht weiß, wie er es den tobenden Kritikern recht machen soll.

    Längst hat die Auseinandersetzung die Züge eines Kulturkampfes angenommen. Historisten und Modernisten machen sich jeden Quadratmeter Altstadtboden streitig. Denn hier - und nicht in den Vororten und Trabantenstädten - entscheidet sich die Identität der Stadt. Niemand wird nach Berlin reisen, um das Märkische Viertel oder Hellersdorf zu sehen, auch wenn das dort erstellte Bauvolumen größer, massereicher, bevölkerungsreicher als die Reste von Altstadt sind, die Deutschlands Hauptstadt noch zu bieten hat.

    Als jetzt die hochangesehene Architektin Petra Kahlfeldt nach jahrelanger Konfusion und Ziellosigkeit in der Berliner Baupolitik zur neuen Senatsbaudirektorin gewählt wurde, rügten 600 Architekten in einem offenen Brief diese Entscheidung als "Bärendienst" an der Stadtentwicklung Berlins, weil die Ernannte "konservativen Kreisen" nahestehe, "die sich für die Rekonstruktion der Stadt nach historischem Muster eingesetzt haben".

    Als Mitverfasserin einer "Charta für die Berliner Mitte" von 2014 habe sie zudem "eine weitreichende Privatisierung öffentlicher Grundstücke in der Berliner Mitte gefordert". In Wahrheit handelt es sich um Privatgrundstücke, die das DDR-Regime enteignet hatte und die aufgrund der Unschlüssigkeit des Vorgängersenats bis heute brachliegen, obwohl Wohnraum in der Berliner Mitte so dringend wie in kaum einer zweiten Stadt gebraucht wird.

    Geht eine an historische Vorbilder angelehnte Altstadterneuerung tatsächlich an den Bedürfnissen der Gegenwart vorbei? Schon in den 1980er-Jahren hatte der prominente Architekturhistoriker Heinrich Klotz erkannt: "Nach sechzig Jahren haben die Architekturformen, mit denen die Moderne argumentationsfähig wurde, die 'reinen Formen unter dem Licht' (Le Corbusier), nicht nur ihre ästhetische Überzeugungskraft verloren, sondern sie sind zu einem Faktor der schwersten Umweltzerstörung geworden."

    Genau das ist eingetreten. Der Berufsstand der Architekten - es gibt nicht nur die 600 Unterzeichner des Offenen Briefes gegen Kahlfeldt, zu denen übrigens viele abhängig Beschäftigte zählen, sondern 129.000 hauptberufliche Architekten in Deutschland, deren Zahl sich alljährlich um 6.000 TU-Absolventen vermehrt - liefert sich einen Kulturkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um Aufträge ist. Denn ganzen Seilschaften kommt die öffentliche Anerkennung abhanden, also genau das, was Kahlfeldt-Architekten in reichem Maße zuteilwird.

    Erst kürzlich hatte der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Thiessen (TU Chemnitz) in einer von der Fachöffentlichkeit bis heute standhaft ignorierten repräsentativen Umfrage für die Immobilienwirtschaft ermittelt, dass die Publikumsgunst heute tatsächlich nicht mehr den "reinen Formen unter dem Licht" gehört.

    "Es zeigt sich", so schreibt er, "dass die Homogenität von Gebäudeensembles einen hohen Stellenwert hat. Fassaden von Immobilien sollen abwechslungsreich gestaltet sein. Zu schlichte, zu karge Fassaden entsprechen nicht den Wünschen der Menschen. Der Bauhausstil wird überwiegend kritisch gesehen. Häuser im Bauhausstil, die derzeit in jede Baulücke gebaut werden und traditionelle Gebäudeensemble auseinanderreißen, sind eine große Gefahr für die Homogenität von Siedlungen. Eine signifikante Mehrheit präferiert es, wenn Baulücken mit angepassten Häusern gefüllt werden, welche die Homogenität des Gesamtensembles nicht angreifen."

    Einer ganzen, nicht mehr ganz so jungen Generation von Architekten kommt mehr und mehr die Deutungshoheit für das, was "zeitgemäß" - nicht etwa zeitlos gültig - sein soll, abhanden. Sie meinen, die Zeitgemäßheit mit neuen Baumaterialien, rationellen Bauverfahren und der Erfüllung von funktionalen und konstruktiven, neuerdings ökologischen Ansprüchen zu gewährleisten. Aber diese Einschätzung versagt an der Tatsache, dass das Publikum, sprich: die Gesellschaft, von Architektur mehr verlangt.

    Sozial ist, was gesellschaftlich Anklang findet, als "schön" und "harmonisch" empfunden wird, Gemeinschaft stiftet und Geborgenheit verheißt. Mit zweckrational-"billiger" Gestaltung, mit der Schönheit der nackten Zweckform und der Wahrheit rationeller und schnörkelloser Bauweisen allein lassen sich diese Ansprüche nicht einlösen, erst recht nicht mit willkürlich und stillos auf die Dächer geklatschten Solarpaneelen und Plattenbau.

    Die Untersuchungen des Teams um den Ökonomen Friedrich Thiessen beweisen, dass sich die Vermittelbarkeit des einst so gerühmten Ethos der Architekturmoderne erschöpft hat. In einem Essay über "Melancholie und Kälte in Smart-City-Entwürfen und Stadtvisionen" kommen die Stadtsoziologin Martina Löw und der Architekt Jörg Stellmann zu dem Schluss: "Die moderne Stadt mit Möglichkeiten für alle bleibt ein erstrebenswertes Ideal, und doch ist diese Moderne seit Rousseau über Marx bis hin zu Adorno als kalt und entfremdet beschrieben worden."

    Heute fühle sich der Europäer zunehmend von der "Angst vor dem Verlust von Leidenschaft und Melancholie" und von der "Angst vor der technischen Steuerung menschlichen Handelns" beschlichen. Was einmal die Motorik der Moderne war, erscheine nun verdächtig. "Es fällt uns schwer, vom Neuen (zum Beispiel im Neubau) das Bessere zu erhoffen." Viele Architekten scheinen außerstande, das nachzuvollziehen.

    Eine Reaktion darauf sehen Löw/Stollmann gerade in dem, was auf den ersten Blick nicht "zeitgemäß" ist, etwa in den "Schlössern und Fachwerkhäusern, die im ganzen Land neu gebaut werden". Tatsächlich hat das "traditionelle" Bauen einen nie voraussehbaren Auftrieb erfahren. Man denke nur an die zahlreichen Rekonstruktionsprojekte, die neuen Altstädte in Dresden, Potsdam, Frankfurt.

    Auch jüngste städtebauliche Vorhaben, der Rückbau von Straßen, die Anlage neuer Stadtparks und Grünoasen, die Neuanpflanzung von Alleen und die Wiederentdeckung innerstädtischer Wasserläufe lassen - bei allen Skurrilitäten, die dabei passieren - das Bild der "europäischen Großstadt" wiederauferstehen, so wie sie die Impressionisten vor 120 Jahren auf ihren Gemälden gefeiert haben.

    Was die Mitgliedstaaten der EU 2007 in der "Leipzig-Charta" als Antithese zur Charta von Athen formuliert haben, ist nichts anderes als die Revision all der geheiligten Grundsätze, die einmal Leitbilder der Architekturmoderne waren: Flächensanierung, Verkehrsgerechtigkeit, Funktionstrennung. Heute weiß man, dass diese Grundsätze mitverantwortlich für einen hemmungslosen Ressourcenverbrauch, Flächenfraß, Naturzerstörung, Verkehrslawinen und klima- und gesundheitsschädliche Emissionen waren.

    Architekten, die sich von Kritik betroffen fühlen, sprechen gern von "Populismus" und nehmen für sich das Recht des Künstlers in Anspruch, über ihre Werke autonom und ohne Einspruch von "Laien" zu entscheiden. Innovation verlange die Kühnheit des Schöpfers, mit Konventionen zu brechen. Alles Neue sei provokant, dürfe grundsätzlich nie auf Anhieb "gefallen".

    Wie sehr sie irren! Architektur kann niemals die Privatsache von "Künstlern" sein, sondern ist öffentliche Angelegenheit. Sie war immer und bleibt auch heute nur einem Herrn verpflichtet: der Gesellschaft. Als Friedrich Schinkel sein Schauspielhaus in Berlin vollendet hatte, brachten ihm die Berliner Fackelzüge und Ovationen bis vor sein eigenes Haus dar. Sie riefen nach ihm, wollten ihn auf dem Balkon sehen. Der Bescheidene zögerte lange, sich zu zeigen. Als er schließlich heraustrat, brandete der Jubel bis zu ihm hinauf. Schnell zog er sich hinter die Gardinen zurück.

    Architektur, Neuheit, künstlerische Schöpfung muss nicht "provozieren", um "groß" zu sein und Geschichte zu schreiben. Das wusste keiner so gut wie der große Klassizist. Der hatte seinen Neubau mitten im Aufbruch der industriellen Revolution in den Formen des klassischen Altertums gestaltet und stellte an sich und seine Fachkollegen den Anspruch, "Geschichte fortzusetzen".

    Der tempelartige Bau am Gendarmenmarkt in Berlin steht noch immer, er wurde aus dem Kriegsschutt ins Leben der Stadt zurückgeholt und begeistert seine Besucher auch noch nach 200 Jahren, auch wenn der alte Saal nur in veränderter Form - immerhin in Schinkel-Design - zurückgekehrt ist. Vielleicht ist es wirklich so, dass das 21. Jahrhundert erst wieder lernen muss, die reine Zweckform mit dem Historischen und Poetischen zu versöhnen - auch und gerade in Berlin.

    Harald Bodenschatz, Max Welch Guerra (Hg.): Altstadterneuerung in Diktaturen. Ein städtebauliches Erbe Europas. DOM Publishers, 192 Seiten, 68 Euro.

    Wolfgang Pehnt: Städtebau des Erinnerns. Mythen und Zitate westlicher Städte. Hatje Cantz 237 Seiten, 44 Euro.


  • Ich finds nur schade, dass so gute Artikel fast ausschließlich in der Welt erscheinen. Es wäre schön wenn da noch mehr Zeitungen/Magazine mitmachen würde, und nicht fast ausschließlich die Gegner unserer Haltung zu Wort kommen lassen würden.

    Hat die Schönheit eine Chance-Dieter Wieland