Rekonstruktion, ein Für, ein Wider...

  • @ s. hartmann

    inhaltlich wie sprachlich sehr interessante beiträge.
    gerade am beispiel berlin lässt sich meines erachtens zeigen, wie sehr sich selbst- und fremdwahrnehmung unterscheiden. sehnen sich viele deutsche nach "heilen" städten wie in italien oder frankreich, so machen gerade die von vielen deutschen als schmerzhaft empfundenen brüche für auswärtige den reiz deutscher grossstädte aus. gibt es ausser berlin eine andere stadt auf diesem planeten, in der auf engstem raum so viele unterschiedliche, ja gegensätzliche gesellschaftliche entwürfe ihre steinernen zeugnisse hinterlassen haben? und sind diese oftmals nicht auch in ihrem scheitern noch grandios? selbst wenn man - was meiner meinung nach unmöglich ist - (bau-)geschichte auf einzelne epochen beschränken oder zurückdrehen könnte, wäre der verlust an vielfalt nicht grösser als der gewinn an einheitlichkeit? und dabei geht es keineswegs nur um die erwartungshaltungen von touristen. auch bürger, die in plattenbauten leben wollen oder müssen, können dies in deutschland in absoluter zentrumsnähe - eine soziale durchmischung, um die uns alle ausländischen gäste beneiden, die in ihren heimatstädten nicht in einer der bevorzugten wohnlagen leben können. so wird man berlin wohl nie als "romantisch" oder "harmonisch" bezeichnen können - aber es ermöglicht gerade deshalb jeden tag romanzen, die so in paris, london oder mailand unmöglich scheinen. und machen sie nicht mehr als jede schlossatrappe den reiz einer stadt aus?

  • @ rakete:

    Ich bin gerne bereit zuzugestehen, daß Berlin eine gewisse Ausnahme darstellt. Wenn ich auch sagen muß, daß ich, obwohl ich nun seit 4 1/2 Jahren (aus beruflichen Gründen) hier wohne, die Euphorie vieler (jüngerer) Zugezogener und Besucher für diese Stadt immer noch nicht wirklich nachvollziehen kann. Na ja, vielleicht muß man dazu jünger sein... :gg:

    Aber wie steht es denn für dich mit anderen Städten wie Frankfurt (das abgesehen von einer Reihe gelungener Hochhausbauten außerhalb des ehem. Altstadtbereichs) seine eigentliche Identität durch den Bombenkrieg gänzlich verloren hat? Oder mit Nürnberg, das bis zur Kriegszerstörung nun mal die deutsche Renaissancestadt war? Oder mit Köln, von dessen 2000jähriger Geschichte gerade mal die Kirchen übrig geblieben sind und sonst nichts? Oder mit Dresden oder Mainz oder Braunschweig??? In keiner dieser Städte finde ich heute noch die Vielfalt und Tiefe an lebendiger Geschichte, die in unzerstörten Städten wie denen Italiens, Spaniens, Tschechiens oder Frankreichs präsent ist.

    Im übrigen ist die fehlende soziale Durchmischung gerade in Italien allerhöchstens in den Großstädten des Nordens (Turin, Mailand) gegeben. In den kleineren Städten und den Städten Mittelitaliens (einschließlich der Hauptstadt Rom) ist gerade das Stadtzentrum sozial meist enorm gemischt - und damit in einer Weise lebendig, von der wir in Deutschland nur träumen können. In den Städten des Südens, insbesondere den Großstädten wie Palermo oder Neapel (aber auch schon in Genua) sind die Stadtzentren sogar oft eher regelrechte Armenviertel.
    Die soziale Durchmischung liegt in Italien gerade daran, daß die Altstädte dort eben nicht zerstört wurden. Dadurch blieb nämlich eine kleinteilige Wohnbebauung, meist im Privatbesitz, erhalten, die es Großinvestoren weitgehend unmöglich machte, sich dort auszubreiten.

    Auch was Frankreich angeht, ist das Phänomen mangelnder sozialer Durchmischung eigentlich auf die größeren Städte des Nordens und der Mitte beschränkt (allen voran natürlich Paris). Schon in Lyon sieht es völlig anders aus und in Marseille, wo die Altstadt auch eher Armenviertel ist, erst recht.

  • Philon:

    ich denke, ich kenne frankfurt und nürnberg zu schlecht, um diese städte wirklich beurteilen zu können. nach dem was ich gesehen habe, hat man in nürnberg versucht, die verlorene identität zu imitieren, während man in frankfurt versucht hat, eine neue identität zu stiften. in dresden, mit 40 jähriger verzögerung, wird nun versucht, einen goldenen mittelweg zu finden.
    und so erinnern mich diese drei städte in ihrer gesamtheit wieder an berlin. dieses try and error, das suchen, verwerfen und streben nach neuen lösungen macht für mich den reiz deutscher grossstädte aus. oder besser gesagt: diese notwendigkeit. ich jedenfalls finde dies spannender als sterile wohlstandsenklaven oder vermeintlich pitoreske slums hinter den palästen. und selbst, wer dies nicht so empfindet: weder das eine noch das andere lässt sich doch herbei rekonstruieren. deutsche grossstädte werden für sehr, sehr lange zeit anders sein als ihre pendants in süd- und westeuropa. schöner? im klassischen sinne wohl nicht. aber spannender? diese chance ist gegeben.

  • Gibt es im Moment etwas spannenderes als zu sehen, wie Dresden in einem sehr klassischen Sinne wieder schön wird?
    Auch in Berlin hätte ich wenigstens eine historisch getreue Platzrekonstruktion ungleich spannender gefunden als die ausdruckslosen Bürogebäude, die jetzt an vielen Ecken bestimmend sind und selbst manchen ehemals als "magisch" bezeichneten Ort ruinieren.
    Eine ausgewogene Mischung aus beidem, Neuerfindung und Wiedererweckung, wäre spannend. In deutschen Städten dominiert jedoch deutlich sichtbar der Versuch des Ersteren und das Scheitern von Beidem. Entscheidend ist, was man anstrebt: der Versuch und die Mühe einer behutsamen Wiederangleichung des Stadtbilds an europäische Pendants, oder die Aufrechterhaltung der Sonderstellung mit den Mitteln, die unsere Städte nach 1945 geprägt haben. Auch wenn mancher Besucher dies ungewöhnlich oder gar interessant finden mag, den Weg zu den Herzen ihrer Bewohner hat es bisher nicht erfolgreich gefunden.

    In dubio pro reko

  • Ich kann Dirk nur völlig zustimmen: Man mag den "deutschen Sonderweg" von Geschichtsvergessenheit und permanenter Neuerfindung nach den Kriegszerstörungen von mir aus "spannend" finden.
    Das ändert aber nichts daran, daß er am Wesen der genannten Städte komplett vorbeigeht. Und wahrscheinlich auch eine Identifizierung mit ihnen auf Dauer unmöglich macht. Solange die Altstädte von Köln, Nürnberg, Frankfurt, Mainz, Braunschweig, Würzburg etc. nicht rekonstruiert sind, stehen da nur geschichtslose Leerstellen, die mit den eigentlichen Städten dieses Namens nichts mehr zu tun haben und mich jedenfalls daher auch völlig kalt lassen. Ich könnte mich mit dem Frankfurt der spätmittelalterlichen Gassen, mit dem Nürnberg der Renaissance, mit dem 2000jährigen Köln identifizieren, aber nicht mit dem, was da heute steht.
    Ich weiß auch ehrlich gestanden nicht, was daran spannend wäre. Spannend sind Städte mit einer reichen gebauten Geschichte, sind Städte wie Prag, Genua, Palermo, Venedig, Brügge, Regensburg, wo man sich in geheimnisvollen Labyrinth enger gotischen Gassen bewegt, wo jedes Haus eine jahrundertealte Geschichte erzählt, wo fast jedes Gebäude ein aufregendes Palimpsest von dutzenden Umbauten seit dem Mittelalter ist.

    Ich habe bislang neben dem Kleinstädtchen, in dem ich geboren bin, in Heidelberg, Tübingen, Neapel (allerdings nur zwei Monate), Brüssel und schließlich Berlin gelebt. Und ich ehrlich muß sagen, daß Berlin für mich mit Abstand die unspannendste und nichtssagendste aller dieser Städte ist. Ich kenne nichts langweiligeres und öderes als diese eindimensionale Geschichtslosigkeit, diese völlig Geheimnislosigkeit Berlins.

  • Also wo halten sie sich denn in Berlin auf? Ein bisschen mehr Hintergrundwissen ist in Berlin schon gefragt, da an einigen Stellen die Geschichte schwieriger zu finden ist und nicht direkt zu Tage tritt. Aber das Berlin Geheimnislos ist?: geh doch mal in die Hintehöfe, dort findest du das eigendliche Berlin. Sowohl in den Altbauten und auch in den Neubauten. Das ist eine Eigenart von Berlin die es in Deutschland nicht noch einmal gibt. Diese kleinen Oasen der Hinterhöfe: z.B. die Commerzbank und der Hinterhof der Pariser Botschaft oder der Nordischen Botschaften als neue Beispiele. Oder die noch übriggebliebenen Brachflächen ausgebombter Mietskasernen, die als Gärten umgenutzt wurden. Berlins Masse an Grün(auch wenn die Hundebesitzer es zu sehr für sich vereinnahmen). Die Innenstadt die immer noch eine große Baustelle zu sein scheint. Ich bin der Meinung, das derjenige der eine Stadt oder einen Ort für langweilig hält, nicht dessen Eigenheiten und Schönheiten gefunden hat.

    @zur Identifizierung mit Städten

    Du kannst dich vielleicht mit den Altstädten besser identifizieren, da du dort aufgewachsen bist. Jemand der im Märkischen Viertel oder in Gropiusstadt aufgewachsen ist, identifiziert sich damit, da er/sie mit diesen Orten seine Kindheit verbindet, Identifikation entsteht doch hauptsächlich durch Erinnerungen. Die Frage sollte auch nicht sein welcher Typ von Stadt lebenswerter ist, da der moderne und der historische Typ gut oder schlecht sein kann. Wir diskutieren hier doch über das Für und Wider von Rekonstruktionen. Du führst immer wieder die Geschichte an: viele Denkmalschützer sind aber eher gegen Rekonstruktionen, da sie die Geschichte nicht angemessen verdeutlichen können und sie verzerren.

    Vielleicht ist dein Auge über dein ganzes Leben so an Altstädte gewöhnt worden und sensibilisiert, dass du den Blick für heutige Qualitäten nicht mehr frei hast?

    Ich glaube du solltest deine Energien eher für den Erhalt bestehender historischer Substanz einsetzen oder versuchen die heutige Architektur deinen Wünschen entsprechend weiter zu entwickeln, da dies viel wichtiger ist um Geschichte zu verdeutlichen. Es ist schrecklich wenn man mitbekommt wie viele historische Bauten im Denkmalschutz zurückgestuft werden oder ihn ganz verlieren, nur weil kein Geld da ist sie zu erhalten. Dann wird ein neuer Investor gefunden, der dort aber einen Supermarkt haben will und der reißt die alte Gründerzeitvilla ab(ein paar Jobs geschaffen- ja wahnsinn, aber gegen welchen Preis?).

    Aus diesem Grund finde ich ihre Ideen fraglich, wenn noch nicht einmal der Bestand erhalten wird.

  • Zitat von "S.Hartmann"

    @zur Identifizierung mit Städten

    Du kannst dich vielleicht mit den Altstädten besser identifizieren, da du dort aufgewachsen bist. Jemand der im Märkischen Viertel oder in Gropiusstadt aufgewachsen ist, identifiziert sich damit, da er/sie mit diesen Orten seine Kindheit verbindet, Identifikation entsteht doch hauptsächlich durch Erinnerungen. Die Frage sollte auch nicht sein welcher Typ von Stadt lebenswerter ist, da der moderne und der historische Typ gut oder schlecht sein kann. Wir diskutieren hier doch über das Für und Wider von Rekonstruktionen. Du führst immer wieder die Geschichte an: viele Denkmalschützer sind aber eher gegen Rekonstruktionen, da sie die Geschichte nicht angemessen verdeutlichen können und sie verzerren.

    Also ich lebe bis heute in dem Dorf in dem ich aufgewachsen bin, das trotz fast 1200jähriger Geschichte und keinerlei Kriegszerstörung zu ca. 80% aus Nachkriegsbauten besteht. Ich hab erst begonnen, mich in Deutschland wohlzufühlen als ich Orte und Städte entdeckte, die anders aussehen, ältere Gebäude haben und alte Fotos Wiedererkennungswert besitzen.
    Und damit nicht alle so eine Erfahrung machen müssen wie ich, setze ich mich stark für Rekonstruktionen und Rückgewinnung von besonderen Ensembles ein.
    ... im übrigens soll das nicht heißen, dass ich mein ganzes Leben bisher unglücklich war, denn es gibt immer wichtigeres als das bauliche Umfeld. Außerdem bin ich in einem Altbau (naja, 1931... aber schön hohe Decken) und auf dem Land aufgewachsen. Aber im Dorfzentrum selber werden im Schnitt 1-3 Gebäude pro Jahr abgerissen und ersetzt... oder kaum wiedererkennbar umgebaut.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Ich bin dieser Tage leider ziemlich eingespannt, daher nur einige kurze unzusammenhängende Bemerkungen:

    Ich kann Boonis Aussagen nur in jeder Hinsicht zustimmen. Mir ist es eigentlich so wie ihm ergangen. Ich bin in einem Industrierevier, das von Gebäuden des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt ist, aufgewachsen und habe mich lange Zeit immer, wenn ich in größere Städte wie Frankfurt kam, immer gefragt, warum sie, obwohl sie uralt sind, im Gegensatz zu den französischen oder italienischen, die ich kannte, so geschichtslos und häßlich sind - bis ich während meines Geschichtsstudiums vom Bombenkrieg erfuhr (bis dahin hatte ich weder in den Medien, noch in der Schule jemals davon gehört - auch das ein bezeichnendes Totschweigen...).
    Wirklich identifizieren konnte ich mich mit deutschen Städten erst, als ich die handvoll unzerstörter Städte kennenlernte. Es geht bei der Frage nach der Identität m.E. nicht um die Frage, wo man aufgewachsen ist o.ä., d.h. um die persönlich-biographische, sondern um die übergreifende geschichtliche Identität als deutscher Europäer. Die Nachkriegsstädte sprechen nicht zu mir, weil sie einfach nichts zu sagen haben. Eine einzige Straße in Erfurt oder Regensburg erzählt mir von den mittelalterlichen Kaisern, von einem Ritter aus der Umgebung, der sich nach einer Pilgerfahrt nach Rom einen Stadtpalast gebaut hat, von der mittelalterlichen Mystik, von Mönchen und Nonnen, vom Aufbruch der Renaissance, von alten Handelswegen, von den Wirren der Reformation, von der Musik der Barockzeit, von den Auswirkungen der französischen Revolution.... Die ganze jahrhundertealte Geschichte Europas ist da präsent.
    Wovon spricht dagegen das heutige Frankfurt ?! Von 50 Jahren Nachkriegszeit allenfalls. Das entspricht aber eben nicht dem, was diese Stadt ihrem Wesen nach ist: nämlich eine uralte freie Reichsstadt mit einer vielhundertjährigen Geschichte. Mir geht es bei Rekonstruktionen darum, gleichsam das Wesen und die aktuelle Erscheinung einer Stadt wieder in Übereinstimmung zu bringen, nachdem diese Übereinstimmung duch die Bomben des 2. Weltkrieges zertrümmert worden ist.