Elsass - Vorstellung einzelner spätmittelalterlicher Fachwerkbauten

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    Anlässlich der Erstellung einer Liste spätmittelalterlicher Fachwerkbauten im Elsass bin ich auf ein Haus in Schlettstadt gestossen. Dieses möchte ich hier zur Diskussion stellen, denn es ist ein unscheinbares Haus, und auch sein Fachwerk scheint auf den ersten Blick unspektakulär. Ich habe es einzig und allein wegen einer einzelnen Strebe, die zudem nur an einem Ende angeblattet ist (am anderen eingezapft), als spätmittelalterlichen Kanditaten aufgenommen. Das Haus würde also für die Forschung nicht mehr viel hergeben, wenn man nur die Fassaden betrachtet. Doch weit gefehlt...


    Schlettstadt:


    Seitenfassade gegen die Rue des Oies mit der besagten, nur unten an die Schwelle angeblatteten Strebe:
    https://www.google.de/maps/@48.25829…12!8i6656?hl=de

    Solche „Mischverbindungen“ haben wir schon einige Male gesehen, querfeldein vom Elsass bis nach Nürnberg. Dann ist mir noch aufgefallen, dass der Verputz - wie es leider im Elsass sehr oft beobachtet werden kann - fälschlicherweise über die Balkenkanten gezogen wurde und deshalb Schaden nahm, sodass die Kanten an der Unterkante der Schwelle und Balkenlage des 1. Obergeschosses abgekratzt wurden.

    Zwei weitere Ansichten der Giebelfassade gegen die Rue des Bateliers:
    https://www.google.de/maps/@48.25835…12!8i6656?hl=de
    https://www.google.de/maps/@48.25827…12!8i6656?hl=de

    Nun nimmt es mich wunder, wer hier durch Heranzoomen und Schwenken noch weiteres aus der Geschichte dieses Fachwerks herauslesen kann!

  • Bei dem Gebäude sind aber auch links an der Straßenfassade noch ein Kopfband komplett angeblattet, der Brustriegel angeblattet und einige der Ständer des OGs bis ins Giebelfeld durchgehend, über den Dachbalken übergeblattet, und zuletzt die Kehlbalken an die Sparren angeblattet.

  • Das könnte man schon einmal auf Wikipedia einstellen, aber dazu muss erst die Liste fertig sein, weitere (bekannte) Links noch eingesetzt und für alle Objekte kleine Vorschaubilder bereitgehalten werden. Eine "trockene" Liste so ohne Bilder wie bis jetzt würde niemanden animieren, diese zu lesen oder verwenden. Das alles braucht sehr viel Zeit, wie die bisherige Arbeit auch schon. Das ganze Resultat dann aber Wikipedia-konform umgestalten müsste jemand anders ;)

    @ Mündener:
    Du hast so ziemlich alles Wesentliche gesagt. Nicht bemerkt hast du vielleicht , dass die Dielen über der Erdgeschossbalkenlage bis an die Aussenkante der Fassaden reichen > typisch alemannisch! Ich habe dies erst bei wenigen Bauten im Elsass bemerkt, und es dürfte sehr ortsabhängig sein. Deshalb auch mein versteckter Hinweis auf die abgekratzten Verputzränder an der Seitenfassade. Ganz bemerkenswert finde ich, dass die beiden Stuhlpfosten des Dachstuhls bis auf die Schwelle des 1. Obergeschosses durchgehen. Der Firststud setzt aber erst auf der Schwelle des Dachgeschosses (zugleich auch Rähm und Deckenbalken des 1. Obergeschosses) an. Ich vermute, dass der Stud ursprünglich bis zum First weiter lief, um eine bessere Stabilität zu haben, denn im Giebelfeld finden sich keinerlei Anzeichen von einstigen Streben oder Bändern, ausser den beiden wohl jüngeren Streben am 2. Dachgeschoss.

    Ich werde demnächst Skizzen zu allen Details einstellen und diese erläutern. Damit wieder mal ein Bild in diesem Strang zu sehen ist, gleich vorweg ein 1. Rekonstruktionsvorschlag, wie das Haus mit Baujahr um 1500/1. H. 16. Jh. ursprünglich ausgesehen haben mag:

    Links: Google Street View-Ansicht vom August 2017. Rechts: 1. Rekonstruktionsvorschlag.

  • Nun möchte ich an diesem "scheinbar unscheinbaren" Haus erläutern, welche Details mir ins Auge gesprungen sind, dass es mein spezielles Augenmerk geweckt hatte. Die wichtigsten Details hat bereits Mündener gesagt:

    - Reste eines angeblatteten Brustriegels
    - durchgehende Pfosten vom Obergeschoss ins Dachgeschoss hinauf
    - angeblattete Bänder, Riegel, Kehlbalken

    Weiter sind noch zu erwähnen:

    - bis an die Fassadenflucht hinausreichender Dielenboden über dem Erdgeschoss
    - vier eingezapfte Fussstreben nebst den angeblatteten Bändern


    Um das Hausgerüst zu verstehen, beschreibe ich einzelne Details anhand folgender Aufnahmen:

    Rechte, nördliche Gebäudeecke auf Schwellenhöhe:

    https://www.google.de/maps/@48.25833…12!8i6656?hl=de
    Links erkennt man zuunterst den äussersten Erdgeschoss-Deckenbalken und rechts die Köpfe der folgenden Deckenbalken. Diese sind mit dem darüber liegenden Schwellenkranz nicht verkämmt, weil zuerst bis an die Fassadenfluchten hinaus ein Dielenboden gelegt wurde > alemannische Manier! Man erkennt die Dielen nur schwach anhand der abgekratzten Putzränder an der Seitenfassade und die mehrfach verspachtelten Dielenstirnen an der Giebelseite.

    Die Schwellen sind an der Ecke einfach überblattet, wobei das Blatt der rechten Schwelle arg gelitten hatte und die linke Schwelle sich dadurch aufwölben konnte. Der Eckpfosten steht "irgendwie unmotiviert" auf dieser Verbindung und greift zudem mit einem sichtbaren Zapfen in die Schwellenverbindung ein. Die beiden Fussstreben sind in ihn eingezapft, wobei die rechte Strebe mit der Schwelle verblattet ist. Mischverbindungen kommen im Elsass ab und zu vor. Der Eckpfosten zeigt auch kein Blattsass eines bis hierher verlaufenden Brustriegels wie an den andern Pfosten der Giebelseite. Mit einer Eisenklammer ist er mit einem jüngeren Fensterpfosten verbunden, der wiederum auf der Fussstrebe sitzt.

    Während die Schwellen eindeutig dem Originalbestand angehören, könnte der Eckpfosten einmal ersetzt worden sein.

    Linke, östliche Gebäudeecke:

    https://www.google.de/maps/@48.25827…12!8i6656?hl=de
    Der Deckenbalken liegt auf einer Mauerschwelle auf. Darüber folgen wieder die Dielenlage und die Schwelle der Giebelwand. Im Gegensatz zur rechten Ecke ist hier ist die Schwelle in den Eckpfosten eingezapft, der direkt auf dem Dielenboden steht. Er ist eindeutig original, da an ihn der Brustriegel und ein Kopfband angeblattet sind. Bei genauem Hinsehen erkennt man aber auch beim Eckpfosten eine Ungereimtheit, indem die linke Hälfte den Dielenboden durchstösst und direkt auf dem Deckenbalken steht. Ein zweiter genauer Blick verrät aber, dass die Eckkante des Pfostens bis unterhalb des Brustriegels geflickt worden ist, und diese Unregelmässigkeit wohl daher rührt.

    1. Obergeschoss giebelseitig:

    https://www.google.de/maps/@48.25835…12!8i6656?hl=de
    Bei diesem Bildausschnitt erkenn man gut den einst über die ganze Faassadenbreite durchgehenden, angeblatteten Brustriegel. Aufschlussreich ist ein Blick auf den Rähm, der hier gleichzeitig als äusserster Deckenbalken und Schwelle des Giebelfelds fungiert. Ihm sind nämlich die beiden Dachstuhlpfosten überblattet! Der rechte Stuhlpfosten verläuft zudem bis auf die Schwelle des Obergeschosses hinunter. Beim linken Stuhlpfosten könnte dies einst auch der Fall gewesen sein, wobei der untere Teil einer neuen Fensterdisposition zum Opfer fiel. Die Mittelpfosten des Ober- als auch des Dachgeschosses sind leicht zueinander versetzt und daher sicher nicht durchgehend. Die Einschnitte im Rähm sind beim jetzigen Kenntnisstand nicht erklärbar. Denkbar ist ein einstiges Klebedach als Wetterschutz.

    Giebeldreieck:

    https://www.google.de/maps/@48.25835…12!8i6656?hl=de
    Der Mittelpfosten ist dem Kehlbalken vorgeblattet und hört beim Brustriegel des 2. Dachgeschosses mit einer undefinierbaren Verbindung auf. Wahrscheinlich handelt es sich um einen einst bis zum First hinaufreichenden Firststud ohne Firstpfette. Der Kehlbalken ist wiederum an die Sparren angeblattet. Bei der Aufrichte ist somit die Reihenfolge des Balkeneinbaus nicht ganz klar. Am ganzen Giebeldreieck gibt es keine Anzeichen einstiger Streben oder Bänder! Wohl vertraute man der Stabilität des Giebeldreiecks an und für sich sowie den zahlreichen überkreuzenden Blattverbindungen.

    Die Riegelketten beider Dachgeschosse sind an die Sparren angeblattet. Beim Firststud waren sie wohl eingezapft, da jegliche Blattsassen fehlen. Zudem scheinen sie auch den Stuhlpfosten hinterblattet zu sein, genau wie beim Kreuzungspunkt des Firststuds mit dem Kehlbalken.

    Erkennbar ist auch eine zugemauerte Öffnung eines Warenaufzuges. Ob sie ursprünglich ist oder nicht, muss offenbleiben. Die Binnenteilung des 2. Dachgeschosses entstand wohl anlässlich des Einbaus eines Estrichfensters anstellle des Firststuds.


    Das mutmasslich ursprüngliche Fachwerk-Grundgerüst ist im folgenden Plan aufgezeichnet:

    Farblich hervorgehoben sind die zusammengehörenden Balken, woraus deutlich wird, wie der zweifach stehende Dachstuhl nicht einfach auf der Deckenbalkenlage des Obergeschosses sitzt, sondern bis auf die Erdgeschossdecke hinunter reicht:


    Folgend nochmals die Gegenüberstellung des Ist-Zustands mit einer Idealrekonstruktion:


    Der zweite Rekonstruktionsvorschlag belässt die Veränderungen im Giebeldreieck; nur der mutmassliche Firststud wurde ergänzt.

  • Sieht alles soweit richtig aus, einzig den Blattsitz für den Brustriegel am rechten Eckständer gibt es nicht, was sehr erstaunlich ist. Und auch Zapfenlöcher kann ich keine erkennen, was aber bei der Bildqualität nichts heißen muss.

  • Der Eckpfosten zeigt auch kein Blattsass eines bis hierher verlaufenden Brustriegels wie an den andern Pfosten der Giebelseite. Mit einer Eisenklammer ist er mit dem jüngeren Fensterpfosten verbunden, der wiederum auf der Fussstrebe sitzt.

    Während die Schwellen eindeutig dem Originalbestand angehören, könnte der Eckpfosten einmal ersetzt worden sein

  • Ich habe mir überlegt, wie ich hier die Herangehensweise für die Erforschung eines regionalen "Fachwerkstils" beschreiben kann, ohne allzuviel Aufwand treiben zu müssen. Diese Erforschung würde mich im Moment sehr reizen, aber ich muss sie zugunsten anderer Projekte hintanstellen. Trotzdem werde ich zwischendurch einzelne Beiträge hier einstellen.

    Es gibt verschiedene Wege:

    Voraussetzung ist aber eine Sammlung möglichst vieler relevanter Bauten. Deshalb hatte ich mich für die beabsichtigte Erforschung zuerst für eine Sammlung aller spätmittelalterlicher Fachwerkbauten im Elsass entschieden. Dieser Selektion lag natürlich ein Vorwissen zugrunde, sonst hätten wir nicht ganau diese Bauten aus der Vielzahl von Fachwerkbauten im Elsass herauspicken können.

    a) Autodidaktische Methode
    Man pickt einzelne interessant erscheinende Gebäude heraus und beschreibt in knapper Form das Fachwerkgerüst. Wenn man Vergleichsbeispiele kennt, fügt man ihre Adresse und Fotos hinzu und beschreibt die Gemeinsamkeiten.
    Diesen Weg wählte ich beim ersten Beispiel in diesem Strang oder auch im Strang Fachwerkbauten in Nürnberg. Das erste Haus war Paniersplatz 20 "Grolandhaus", das zweite Waaggasse 11, das dritte Dötschmannsplatz 13, und schon steckt man mittendrin und das Thema lässt einen nicht mehr los.

    b) Systematische Methode
    Man sammelt diverse Details und stellt Gemeinsamkeiten und Besonderheiten fest. Anschliessend versucht man diese in eine chronologische Abfolge zu bringen, um so deren Entwicklungsgeschichte darzustellen. In Nürnberg hatte ich dies beispielsweise mit folgenden beiden (und auch anderen) Themen versucht, mit Der Wandel von der X-Verstrebung zur K-Verstrebung und mit Fachwerkbauten mit K-Streben. Diese Einzelthemen können dann schliesslich zu einer gesamten Entwicklungsgeschichte des Fachwerks in einem Ort oder einer Region zusammengesetzt werden. Es ist ein zeitraubender, dafür allumfassender Weg.

    c) Chronologische Vorstellung
    Diese Methode stellt viel Vorwissen über die Thematik voraus. So möchte ich dereinst den Strang Fachwerkbauten in St. Gallen fortführen. Beginnen möchte ich dort mit der Erforschungsgeschichte des örtlichen Fachwerks anhand von zwei aus dem 15. Jahrhundert stammenden, im frühen 20. Jahrhundert als erste restaurierte Fachwerkbauten.

  • Für den Weg "b) Systematische Methode" hatte ich mich eine Weile hingesetzt und einfach wahllos eizelne Konstruktionsdetails von Hand skizziert und Besonderheiten und Fragen dazu aufgeschrieben:

    Schnell merkte ich aber, dass dies bei der grossen Menge von Bauten im Listenstrang ein sehr zeitraubendes Verfahren würde, wohl aber mit den umfassendsten Resultaten. Dazu wäre dies eine Grundlage für das Aufzeigen regionaler Unterschiede innerhalb des Elsass' und als Abgrenzung zum rheinfränkischen Fachwerk. Dieser Zeitaufwand wäre berechtigt für eine Masterabschlussarbeit oder gar eine Dissertation, oder dann im Rahmen einer Gruppenarbeit. Das APH ist also für den Alleingang nicht der richtige Ort. Während des Skizzierens läuft natürlich viel Kopfarbeit, da man ja von der Erarbeitung der Liste schon viele Bauten im Kopf hat, und man entdeckt beim genauen Betrachten der bereits bekannten Bilder immer wieder neue Details. Nur muss das für Dritte alles dargestellt und beschrieben werden, was ja der eigentliche Zeitaufwand ist. So habe ich mich schliesslich entschieden, einfach einzelne, für mich interessant scheinende Gebäude herauszupicken und hier zu analysieren.

    Würde man die" systematische Methode wählen, wären folgende Stichworte besonders zu betrachten:

    - an der Fassadenflucht sichtbare Dielen über der Balkenlage
    - durchgehende Schwellenkränze oder von Pfosten unterbrochene Schwellen
    - Eck- und Bundpfostenverstrebung
    - Strebenformen in den Brüstungen
    - ursprüngliche Fensterformate
    - Fenstererker
    - über mehrere Geschosse durchlaufende Pfosten
    - Firststudkonstruktionen
    - Ausformung der Giebeltrapeze bei Halbwalmdächern