Bremen - Abrißstadt - Osterdeich

  • "Nachher spricht darüber doch keiner mehr" ist wohl einer der bekanntesten Politikersprüche und betrifft meist Entscheidungen, die gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt wurden. Ich freue mich deshalb, dass es Stadtbild Deutschland gibt, denn hier werden die ganze Auswirkungen der Fehlentscheidungen verantwortlicher Politiker dokumentiert. Es gibt kein Vergessen mehr.
    In Bremen betrifft dies im Bereich der Stadtentwicklung sämtliche Abrisse seit den 40er/50erJahren bis heute, verantwortlich für diese "Zweite Zerstörung" nach dem Krieg war die Partei, die jetzt im Jahre 2018 bereits mehr als 70 Jahre den Stadtstaat regiert. Durchgeführt haben dies natürlich die modern ausgerichteten Stadtplaner, die sich an der "Charta von Athen"orientierten. Das hieß konkret: Herstellung der aufgelockerten Stadt, mehr und breitere Straßen, um den Autoverkehr zu bewältigen (und dafür wurde abgerissen, was das Zeug hält) und vor allem mussten, aber nicht nur deshalb, die Gebäude des Historismus daran glauben. Historismus - das war für die Stadtplaner einfach nur schlechte Architektur, die man weg haben wollte. Pagentorn hat dies jüngst eindrucksvoll am Beispiel der Kaiserstraße gezeigt.

    Beim Osterdeich, eine neben der Parkallee und der Schwachhauser Heerstraße weiteren Prachtstraße direkt an der Weser mit dem entsprechenden Blick auf den Fluss ging es neben den historistischen Gebäuden auch Villen aus der Jugendstilzeit an den Kragen. Das Argument wie so oft: Wir brauchen Wohnungen. Und so argumentierte beim Abriss einer großen Osterdeich-Jugenstilvilla an der Ecke Staderstraße der Investor damit, dass Arbeitsplätze geschaffen werden und die Leute Wohnungen brauchen, was wichtiger sei als der Erhalt einer Villa.

    Nun glaubt allerdings niemand, dass ein Investor plötzlich sein soziales Gewissen entdeckt hat, sondern der Profit bestimmt sein Handeln. Da die Stadt Wohnungen braucht, der Investor seine Rendite, kommt es zu einer "unheiligen Allianz" zwischen der Politik und dem Investor. Die Bürger dagegen sind außen vor. Sie wollen ihr Stadtbild erhalten, haben aber in ihren gewählten Vertretern keinen Anwalt. Die gewählten Politiker fühlen sich höheren Zielen verpflichtet als sich für den Bürgerwillen, sprich für das Stadtbild, einzusetzen.

    Wie der ehemalige Senatsbaudirektor Rosenberg berichtete, war die SPD in Bremen gegenüber der Moderne aufgeschlossener als die CDU oder die FDP. Nur deshalb konnten in der Hansestadt in den 60er/70erJahren solche Bausünden wie die Groner Düne oder das Demonstrativbauprojekt Osterholz-Tenever, auch Klein-Manhattan genannt, entstehen. Und nur aufgrund dieser Aufgeschlossenheit mussten so viele Altbauten aus der Gründer- und Jugendstilzeit fallen, um moderner Bebauung Platz zu machen.

    Man kann sich darüber auch im Nachhinein nur aufregen. Wir wurden als Bürger ja zwei Mal bestraft: einmal durch den Verlust des schönen Altbaus, dann durch den Anblick des modernen Neubaus. Hätte die Moderne ein überzeugendes Schönheitskonzept, würde anstelle der abgerissenen Bauten sicher etwas entstehen, was uns ästhetisch genau so begeistern würde wie der verloren gegangene Altbau - die Abrisse wären besser zu ertragen gewesen. Nur - wer soll das machen?

    Investoren? - haben ausschließlich ein Profitinteressen. Das Investment muss sich lohnen. Architekten? - können es nicht mehr. Es fehlen die zeichnerischen Fähigkeiten, es fehlt eine Stilidee, es fehlt bei dieser Berufsgruppe vor allem an Kreativität, es fehlt eine ästhetische Alternative. Deshalb setzen sie auf die funktionale Moderne, deren "Klare Kante" ständig hochgeredet wird. Und die Politiker? - freuen sich, wenn es brummt. Neubauten sind Investitionen, stehen für Fortschritt, schaffen mehr Wohnraum.

    Bleiben eigentlich nur die Bürger. Und die werden in zunehmendem Maße mit dem hässlichsten Baustil der Architekturgeschichte - bestimmte Solitäre mal ausgenommen - weiterhin gequält. Die gleichförmige Moderne erzeugt Monotonie, Hässlichkeit und Verwechselbarkeit.
    Nachfolgend nun die Entwicklungen am Osterdeich, beginnend mit einem Zeitungsbericht aus den Bremer Nachrichten vom 9.1.1982 über die vom Abriss bedrohte Jugendstilvilla Ecke Osterdeich/Stader Straße. Beachtenswert die Aussagen des Architekten und des Staatsrates für das Bauwesen. Der nach dem Abriss entstandene Neubau war keine einfache Kiste, sondern hatte mit seinen Erkern und den drei angedeuteten Ecktürmen schon eine für die damalige Zeit hohe Qualität. Trotzdem - dafür hätte man nicht die Villa abreißen dürfen.

    1905 von Kayser & Jatho gebaute Doppelhaus Osterdeich 140 - 141


    1984 wurde das als Denkmal geschützte Doppelhaus Osterdeich 140 - 141 abgerissen.

    Abriss Rückseite

    Der stellvertretende Sprecher im Bauausschuss des Beirates östliche Vorstadt äußerte im Zusammenhang mit dem Abriss der Villa in einem Leserbrief an die Bremer Nachrichten seine Zustimmung:

    Antwort auf diesen Leserbrief Tage später in den Bremer Nachrichten:

    Nachfolgend der heutige Zustand:

    18 Mal editiert, zuletzt von findorffer (4. Dezember 2018 um 22:50)

  • Schön, mal wieder von Ihnen zu lesen, findorffer.... vielleicht kriegen wir ja langsam eine Bremer Gruppe zusammen. Die Villenabrisse sind in der Tat erschreckend. Am schlimmsten hat es die Parkallee erwischt, aber wie Sie richtig schrieben, auch den Osterdeich. Auch heute in Zeiten wachsender Städte und zunehmendem Druck auf dem Wohnungsmarkt wird es wieder eng für die meist auf großzügigen Grundstücken stehenden Villen. Auch wenn gelegentlich im Blockrand abgerissen wird (erst 2016 Am Dobben und in der Graf-Moltke-Straße, beide Male durch den fragwürdigen Entwickler "Tektum"), so stehen die prachtvollen Villen doch unter viel stärkerem Druck, auch weil sie teuer im Unterhalt sind und etwa Erbengemeinschaften sich wohl häufig gut auf einen Verkauf an den Meistbietenden einigen können.

    Wissen Sie etwas über die ehemalige Bebauung des Osterdeichs im Bereich zwischen Sielwall und Lüneburger Straße? Auch hier ist ja nur noch eine sehr prachtvolle klassizistische Villa an der Ecke Lübecker/Osterdeich erhalten, der Rest mit 60er/70er-Jahre-Mehrfamilienhäusern bebaut, tlw. noch mit den alten schmiedeeisernen Gartenzäunen der Vorbebauung. Ich "hoffe" ja immer auf Kriegsschäden (auch wenn das zynisch klingt), zumal das dahinterliegende Steintor ja als eine der wenigen Ecken in der Östlichen Vorstadt v.a. um die Lübecker Straße ordentlich was abgekriegt hat - befürchte aber auch hier Abrisse.

  • Lieber Heinzer! Viel weiß ich über die Abrisse im angesprochenen Bereich leider auch nicht, aber es könnte sein, dass ich noch einige Fotos davon habe. Ich müsste noch mal recherchieren. Interessant finde ich auch den Abriss des Turms auf dem heutigen Gelände der Dom-Kapelle Ecke Lüneburger Straße/Osterdeich. Vielleicht kann ja bei der Darstellung pagentorn mit seinem umfangreichen Archiv aushelfen. Dieser Abriss für die Kapelle zeigt uns: auch die gottesfürchtige Kirche ist nicht unschuldig, wenn es um Stadtzerstörung geht. Ein weiterer Punkt der Nachforschungen wäre für mich noch der Bereich zwischen Sielwall und Deichstraße. Warum wurde dort eine Kirche reingebaut (damit wären wir wieder beim Thema) und was stand da vorher. Daneben stehen zwei große Neubauten, vorher waren dort Baulücken, was stand denn davor auf dem Areal? Ich will mich noch mit der Ecke Mozartstraße/Osterdeich beschäftigen. Nur leider finde ich die entsprechenden Zeitungsausschnitte nicht mehr. Gerne hätte ich damit begonnen. Nun habe ich leider mit der Stader Straße/Ecke Osterdeich das Pferd von hinten aufgezäumt. So, ich hoffe, mein Beitrag kommt jetzt hinter Ihrem und nicht davor. Gruß findorffer.

    Einmal editiert, zuletzt von findorffer (10. Oktober 2018 um 11:37)

  • Osterdeich 136:


    Weser-Kurier vom 10. Februar 1977

    Weser-Kurier: vergrößerter Text-Ausshnitt zum Thema aus obigem Artikel:



    So, lieber Heinzer, jetzt habe ich erst mal eine Ansicht von der gegenüberliegenden Weserseite - Quelle: Sorger-Dias - von den Objekten Ihrer Begierde im Bereich Lüneburger Straße eingestellt. Auf der rechten Seite sieht man noch den Turm, da steht heute die Kapelle. Der Turm verleiht dem Gesamtgebäude einen würdigen Abschluss und durch dessen Wegfall ist die Gesamtharmonie dieses wirklich außergewöhnlich schönen Historismusbaus empfindlich gestört. Links neben dem Turm (Nr. 71) die Hausnummer 7o a, daneben an der Lüneburgerstraße - verdeckt von den Weserterassen Nr 70. Dann folgt die Lüneburgerstraße und daneben die Hausnummern Osterdeich 69 und 68.

    Nach dem Krieg bekamen die Hausnummern 68, 69 und 70 als Erhaltungseinschätzung ein A = "Aufbau lohnt sich nicht mehr", so stark war die Zerstörung.

    Die 70 a und die 71 bekamen dagegen ein B = "Instandsetzung empfohlen". Obwohl 70a auch einen hohen Zerstörungsgrad hatte: 2.Stock und Dach waren ausgebrannt,ein Notdach war erforderlich. Beide Grundstücke gehörten der Domgemeinde, die dort eine Kapelle und ein Waisenhaus bauen wollte. Deshalb wurde die Nr. 70 a und die Nr. 71(Turm)abgerissen.

    Im stark verpixelten Luftfoto von 1955 sehen wir den Turm (Pfeil) mit einer kleinen, pyramidenförmigen Abdeckung, was darauf schließen lässt, dass hier während des Bombenkrieges ein kleiner Schaden (Dachschaden!) entstanden ist. Im Kriegsschadensbericht steht allerdings nichts über den Dach-Turm-Schaden von Nr. 71.

    Links neben dem Turm mit dem fehlenden Dach: die Nr. 70 a

    Unten die neue, von der Domgemeinde anvisierte Planung, wie sie heute noch besteht.


    Aber zurück in die Vergangenheit an gleicher Stelle:

    Wir sehen neben dem Turm (Nr. 71) die Hausnummer 7o a, links Osterdeich Nr. 70

    Unten die Nr. 70 als Plan


    Fernsicht der 3 Bauten Osterdeich Nr. 70, 69 und 68 (von rechts nach links)

    Hausnummer Osterdeich 69



    Die Gartentreppen vom Altbau ist noch erhalten geblieben.

    Unten ein Vergleich Alt- und Neubau: Übrig geblieben ist noch die alte Gartentreppe!


    Es folgt Osterdeich Nr. 68:

    Es ist schon erstaunlich: oben brennt die Hütte und unten steht man im Eingang und hält erst mal ´nen Snack, während Mutti mit der Nachbarin noch schnell Eier und Milch kaufen geht. Da sag noch mal einer, die Kriegsgeneration hatte keine Coolness gehabt.


    Der Neubau aktuell in Farbe...........

    und in schwarz-weiß.

    Weiter geht´s mit Osterdeich Nr. 60. Leider gibt es bisher noch kein Bild von dieser großen Villa, sondern lediglich einen Zeitungsbericht mit einem schlechten Foto.

    1982 äußerte sich auch der damalige Senatsbaudirektror Eberhard Kulenkampff in einem Beitrag für die Bremer Nachrichten zum Thema Abrisse in in der Hansestadt. Es herrschte damals offensichtlich eine gewisse Diskussionskultur.

    30 Mal editiert, zuletzt von findorffer (19. Februar 2018 um 13:01)

  • Osterdeich 31

    Der Weser-Kurier berichtete über das zum Abriss vorgesehene Gebäude der Neuapostolischen Kirche am Osterdeich, dort soll ein Neubau mit 11 Eigentumswohnungen errichtet werden.

    Die alte Villa Osterdeich 31 wurde im Krieg (teilweise?) zerstört. Hier ein Plandetail der Außenfassade Richtung Süden zur Weser hin.

    Oben: genehmigte Bauzeichnung von 22,12,1915 für den Umbau des 1870 errichteten Wohnhauses
    Bauherr: Dr. jur.Carl Friedrich Wilcke, Richter, Caprivistraße 4

    Unten: Ein Foto "ut olle Tieden" vermittelt uns einen Eindruck vom Villen-Ensemble an der Weser, rechts die 31.

    Unten nun der heutige Zustand mit der (eingekreisten) Neuapostolischen Kirche.

    Hier der Artikel aus dem Weser-Kurier von der Redakteurin Sigrid Schuer:
    Unten: So stellt sich der Investor nun den Neubau vor. Mich wundert - wieder mal - dass so was vom Beirat und der Baubehörde, aber auch vom Landesdenkmalamt durchgewinkt wird. Aber was heißt wundert? Eigentlich wundert mich ja in Bremen, wenn es um Neubauten geht, eigentlich nichts mehr. Es scheint keine Auflagen für die Gestaltung zu geben bzw. das, was wir unten sehen, ist schon das Ergebnis von Auflagen, sonst würde es noch schlimmer aussehen (obwohl - geht es nosch schlimmer?). Warum richtet sich die Traufhöhe nicht nach den umliegenden Gebäuden? Jeglichen Schönheitsanspruch scheint die Bau-Behörde aufgegeben zu haben. Wo bleiben ästhetische Kriterien? Funktionalität - das heißt, die Interessen des Investors berücksichtigend - dominiert die Fassadengestaltung.

    Und welche Wahrnehmung hat nun der Investor oder besser, mit welchen Argumenten bietet er seine Ware an?
    Quelle: ImmobilienScout24.de:

    Buena Vista! (Gute Aussicht!!!!!!!!!!!)


    An Bremens schönster Flaniermeile, dem Osterdeich, zwischen historischen Fassaden, wird ein leicht wirkender, eleganter Baukörper mit klarer Linienführung und exzellentem Raumkonzept errichtet. Das Mehrfamilienhaus wird sehr gut ausgestattete Wohnungen beinhalten, zum Teil mit einem wunderbaren Blick auf die Flusslandschaft der Weser und auf die Werderinsel.
    Gegenüber vom Café Sand ist die Errichtung von Zweizimmerwohnungen mit ca. 50 m² – 60 m², Dreizimmerwohnungen mit ca. 75 m² - 110 m² sowie eine Vierzimmerwohnung mit etwa 120 m² vorgesehen. Alle Wohnungen verfügen mindestens über eine Loggia oder einen Balkon. Die Dachgeschosswohnungen bieten zusätzlich jeweils eine Dachterrasse mit einem ganz wunderbaren Blick über den Fluss und die Stadt. Das Gebäude ist selbstverständlich mit einem Personenfahrstuhl ausgestattet.
    Bodentiefe Fenster bieten einen schönen Blick nach draußen und sorgen für einen guten Lichteinfall in den Räumlichkeiten. In den Wohnräumen wird Echtholzpakett verlegt, im Flur und in den Badezimmern sind Fliesen vorgesehen. Die Wohnungen werden mit einem Wärmepumpensystem beheizt, bieten eine Fußbodenheizung und sind mit einer Wärmerückgewinnungsanlage (Fenster müssen zum Belüften nicht geöffnet werden) ausgestattet, entsprechen somit den aktuellen Anforderungen eines modernen Neubaus. Ein Tiefgaragenplatz kann optional erworben werden. Von hier gelangt man über eine Zwischentür zum Aufzug und somit direkt in das Gebäude. Die Pläne sind verfügbar und können nach Absprache eingesehen werden. Noch können in einem gewissen Umfang, was die Raumaufteilung und die Ausstattung angeht, Ihre Wünsche berücksichtigt werden. Diese Immobilie ist ideal für Interessenten, die eine hochwertige und gut ausgestattete Wohnung in der schönsten Lage des Viertels und
    in direkter Nähe zur Innenstadt suchen. Die heiter und schwebend wirkende Architektur dieses modern gestalteten Baukörpers passt sich gut in das Ensemble historischer Fassaden der unmittelbaren Nachbarschaft ein. Die klaren Linien zeigen einen unverwechselbaren Charakter, der das bestehende historische Gebäudeensembel akzentuiert. Ein Highlight bietet der Ausblick auf die Weser und die Stadt. Frühe Käufer können den Grundriss nach eigenen Wünschen und Vorstellungen teilweise mitgestalten und auch bei einem späteren Kauf haben Sie die Wahl zwischen diversen Materialausführungen.

    Beachtenswert: Der Investor wirbt mit Schönheit, mit "Bremens schönster Flaniermeile, dem Osterdeich", er wirbt mit "historischen Fassaden" und "einem wunderbaren Blick auf die Flusslandschaft der Weser und auf die Werderinsel" sowie "einen schönen Blick nach draußen" und "in der schönsten Lage des Viertels". Werbung mit den historischen Fassaden, mit dem Schönen, ist schon eine perfide Räuberei und Ausnutzung angesichts der erschreckenden Hässlichkeit dieses Neubaus. Frech auch die Aussage von einer "heiter und schwebend wirkende Architektur dieses modern gestalteten Baukörpers" der "sich gut in das Ensemble historischer Fassaden der unmittelbaren Nachbarschaft" einpasst. Unverschämte Architektenprosa ist dann folgende Feststellung: "Die klaren Linien zeigen einen unverwechselbaren Charakter, der das bestehende historische Gebäudeensembel akzentuiert".

    Aber welche Wahrnehmung, welche Gefühle, hat ein Betrachter, der sich nicht im Neubau, sondern davor befindet und nun seinen Blick auf die moderne Fassade richtet (richten muss)?

    2 Mal editiert, zuletzt von findorffer (1. November 2018 um 12:41)

  • Ergänzung: Dem Flaneur ist nichts zu schwör, es sei denn...........


    Einen weiteren Aspekt aus der Beschreibung des Investors möchte ich noch mal hinterfragen: Er bezieht sich auf "Bremens schönste Flaniermeile, dem Osterdeich, zwischen historischen Fassaden".

    Flaneure auf der Flaniermeile Osterdeich - synonym sind damit auch die Betrachter gemeint- deren Blick sowohl die Weser als auch die historische Bebauung streift. Hier beziehe ich mich aber nur auf das Verhältnis von Betrachter und "historische Fassaden".

    Der Flaneur (ich benutze hier unkorrekt nur die männliche Form) geht als Subjekt mit den Gebäuden (Objekt) eine Beziehung ein, beide bilden ein systemisches Ganzes. Was wäre der Flaneur ohne die Objekte, er würde hier nicht lustwandeln. Aber umgekehrt: was währen die Objekte (Gebäude) ohne den Flaneur, würde es sie in der Form , wie wir sie am Osterdeich vorfinden - als historistische große Villenbauten mit kunstvoll gestalteten Fassaden - so überhaupt geben. Wie nun das?
    Nun, tauscht man den Begriff Flaneur mit dem des Betrachters, wird die Sache schon deutlicher. Die Osterdeichgebäude sind auf Betrachtung hin gestaltet worden. Nur die Vorstellung der Architekten, dass die Gebäude angesehen werden, hat die Fassadengestaltung beeinflusst. Ohne die Vorstellung der Betrachtung/des Betrachters gäbe es keine aufwändig gestalteten Fassaden. Somit bezeichnet die Beziehung Bremens schönste Flaniermeile und historische Fassaden einen Kunst- und Kulturkontext, die Flaneur und Gebäude nicht nur darstellen, sondern erst gemeinsam erzeugen.

    Dieser Konnotation bedient sich nun der Investor, indem er gerade auf diesen Kulturkontext hin zielt - allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang:
    was vorher als Kunst- und Kultureinheit identifiziert werden konnte, erfährt jetzt einen Bedeutungswandel von der Ästhetik des Historismus, die den Flanierenden zum Schauen einlädt, hin zur Warenästhetik des Investors. Der Neubau ist nicht auf Betrachtung hin ausgelegt. Dieser Investor (be-)nutzt diese bürgerlichen Stadtpaläste für seine ökonomischen Zwecke, stellt den Neubau gedanklich (wie auch praktisch) in den Zusammenhang des historischen Ensembles - er kolonisiert gleichsam die historische Architektursprache und fügt seinen Bau gedanklich-hinterlistig in deren künstlerischen Ausdruck ein und bemächtigt sich so eines architektur-kulturellen Zustandes, mit dem sein Gebäude wirklich gar nichts mehr zu tun hat. Das ist die Ökonomisierung der fremden Fassaden für eigene Zwecke.

    Dieses Gebäude ist ein Fremdkörper im Ensemble mit einer Fassade, bei der es nichts zu betrachten gibt, sie ist abstoßend. Der Architekt war nicht in der Lage, ein Gebäude zu gestalten, das sich ästhetisch in die historischen Gegebenheiten einfügt und wird den selbst formulierten Schönheitsansprüchen des Investors nicht gerecht. Für Alberti war Schönheit eine gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile, bei der man einer Sache weder etwas hinzufügen noch hinweg nehmen oder verändern kann, ohne sie weniger gefällig zu machen. Das geschieht jetzt aber - und nicht nur dort - am Osterdeich. Das historistische Ensemble wird durch diesen "hinzugefügten" Neubau empfindlich gestört und "weniger gefällig." Es zeigt sich - wieder mal - dass die Moderne nicht in der Lage ist, sich anzupassen und zwar aus einer gewissen Überheblich- und Rücksichtslosigkeit heraus, im Bewusstsein, einzigartige Solitäre zu schaffen und keine Bausünden. Der Stadtplaner Karl Ganser bringt die Sache auf den Punkt: "Bauen wird heute vielfach als Eingriff verstanden, mit dem mehr an Werten beseitigt als neu hinzugewonnen wird".

    Was mich besonders ärgert, ist, dass hier der Historismus, die Schönheit der Fassaden, fürs Geschäft (aus-)genutzt wird, obwohl gerade die belegbare Haltung der Modernisten gegenüber dem Historismus in der Vergangenheit durchweg negativ war. Sie wollten die Zerstörung der historisch gewachsenen Stadt, sprachen vom Segen der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg und von Schandmalen der Gründerzeit, sie wollten den Abriss der historistischen Bauten, da diese ihrer Meinung nach "verbraucht" und an an "Haupt und Gliedern krank" seien. Statt dessen wurde ein Städtebautypus favorisiert, der sich als "lebensstark" (!!!) erweisen soll. Die MODERNE eben. Dabei wissen wir, dass die städtebaulichen Ensembles des Historismus ihre Vitalität und Attraktivität längst unter Beweis gestellt haben.


    Historische Architekturformen für modern gestaltete Neubauten für Werbezwecke zu nutzen - das machen natürlich auch andere Investoren. Unter der laufende Nummer 47 bei "Abrißstadt Bremen - Parkallee" ist zu sehen, dass nach dem Abriss einer Villa der Bauträger mit folgendem Werbespruch auf einer außen angebrachten Tafel warb: "Hier entstehen in reizvoll gewachsener Umgebung exklusive Eigentumswohnungen". Mit reizvoll gewachsener Umgebung war die historische Bebauung gemeint. Und Jacobs macht mit seiner "geschenkten" Essighausfassade nichts anderes: er nutzt das Historische, um die viel Fläche bietende Moderne durchzudrücken. Von ästhetischer Anpassung - etwa durch eine Renaissance-Beton-Fake-Fassade? - keine Spur.

    Für den Flaneur ist dies alles - viel zu schwör!

    Einmal editiert, zuletzt von findorffer (7. November 2018 um 12:27)

  • Um Gottes Willen lasst die Kirche dort stehen bis sich ein Investor findet der eine historische Formsprache ernst nimmt und nicht so eine abartige Renditekiste dort hinstellt. Eigentlich sollten alle Villenbesitzer in der Nachbarschaft das Grundstück erwerben.......das zieht ja die Bodenpreise in der Gegend nach unten!

  • Der einzige Trost beim Osterdeichbeispiel ist, dass auch der Vorgängerbau nun kein Prachtstück war. Sonst volle Zustimmung, es ist nachgerade zynisch, wenn die Investoren mit der schönen Architektur der Umgebung werben, die sie selbst kräftig dezimieren. Die Parkallee ab dem Stern stadtauswärts ist ein Beispiel für eine solche Lage, in der eigentlich außer den Grundstückspositionen direkt vis-à-vis zum Bürgerpark nichts, gar nichts mehr in irgendeiner Form bevorzugt wirkt, die Umgebung ist völlig ohne Not zum typischen Nachkriegspotpourri degradiert worden.

  • Osterdeich Nr. 75

    Ohne nähere Erläuterungen anliegend einfach nur ein paar Bilder zu dem ehemaligen Gebäude Osterdeich Nr. 75, welches an der Schwelle vom Späthistorismus zum Jugendstil stand und zu einer drei Häuser umfassenden Gruppe gehörte, welche hinsichtlich ihrer Höhe von nur wenigen anderen Gebäuden am Osterdeich übertroffen wurde. Diese Dominante ist heute verschwunden und durch eine erheblich niedrigeren Zeilenbebauung ersetzt worden.

    Abbildung 01
    Kurz nach der Erbauung um die Jahrhundertwende. Die Nr. 75 ist durch einen roten Pfeil gekennzeichnet.


    Abbildung 02
    Zwei Großaufnahmen der Fassade.

    Abbildung 03
    Die schon vom Kriege gezeichnete Teilruine.
    (Bildquelle: Online Kriegsschadensdokumentation des Staatsarchivs Bremen.)

    Abbildung 04
    Die aktuelle Bebauung des Grundstücks.

  • Den nachfolgenden Zeitungsartikel habe ich dem Weser-Kurier vom 30. Dezember 1983 entnommen. Es geht um den Abriss des Eckgebäudes Osterdeich Nr. 5. Eine große Kaufmannsvilla, die auf dem Schwarz-Weiß-Foto nicht sehr schön aussieht (vermutlich wurde das Foto an einem Regentag geschossen), aber gerade im Ensemble eine starke Wirkung erzeugte. Im Inneren waren wertvolle Kachelöfen, Fliesen, edle Holzverkleidungen an den Wänden, opulentes Treppenhaus mit Holzverzierungen. Alles in Dutt gehauen. Das Gebäude wurde an Zechbau - ein Unternehmen, das damals noch am Anfang stand - verkauft. Erst wurden Fenster eingeworfen, die Eingangstür an der Mozartstraße war plötzlich geöffnet, Obdachlose waren ebenso plötzlich nicht mehr obdachlos. Das Haus verwahrloste innerhalb von Monaten und sah wirklich schlimm aus.
    Man beachte den appellhaften Charakter der Berichterstattung durch die Redakteurin Margot Walter. Sie nimmt hier auch Bezug auf das Gebäude Osterdeich/Ecke Staderstraße. Der Artikel vermittelt sehr gut die Stimmungslage in den 1980er Jahren. Der eine oder andere denkt vielleicht, dass der Verlust alter Bausubstanz erst seit Stadtbild Deutschland ins Bewusstsein gedrungen ist. Inzwischen haben viele der früheren Kämpfer frustriert die Waffen gestreckt. Die Entwicklung - oder besser die Kapitalinteressen im Verein mit den Versäumnissen besonders der Bremer SPD - war nicht aufzuhalten. Seit diesem Artikel hat es schon wieder so viele Abrisse gegeben - auch heute unter einem grünen Bausenator respektive unter grünen Stadtteil-Parlamenten - dass man es gar nicht glauben kann. Das Bewusstsein in der Bevölkerung war immer da - also pro-Erhalt, das Bewusstsein bei den herrschenden Politikern - den Politikern der Herrschenden - leider nie. Und wenn man sich diese Bilder ansieht, versteht man erst, was sich hinter dem Begriff der "Zweiten Zerstörung" unserer Städte verbirgt.


    Und hier nun der Zech-Bau. Wo vorher 3 Geschosse waren, gibt es jetzt 5. Warum eigentlich?

    Einmal editiert, zuletzt von findorffer (5. Dezember 2018 um 12:25)

  • Sehr interessant! Ich hatte mich immer gefragt, was an dieser Stelle vorher gestanden hatte und warum es abgerissen worden war. Es ist deutlich zu neu, um im Zuge der Lückenfüllung nach Aufgabe der Mozarttrassenpläne errichtet worden zu sein. Das ursprüngliche Haus hatte also selbst den Wahnsinn um die Mozarttrasse sicher überstanden, um dann 10 Jahre später plattgemacht zu werden.

    Angeschnitten auf dem Bild oben und hier von mir unten ist weiter hinten auch ein weiterer, noch etwas plumperer und früherer Neubau der Postmoderne zu erahnen, von der Breite her müssten hier dann zwei dieser schönen großen Bremer Häuser abgerissen worden sein, hier leider ebenfalls nur weiter hinten:

    Völlig ohne Not ist hier also eines der beeindruckendsten Ensembles dieser großen Bremer Häuser in den 80er Jahren, also nach der vermeintlichen Wende weg von der Abrisspolitik, zerstört worden. Wirklich unfassbar, wie nachlässig Bremen mit seinen Baudenkmalen bis heute umgeht. Das Haus direkt rechts des Eckhauses (mit dem großen Baum davor) ist letztes oder vorletztes Jahr unter Schutz gestellt worden. Man müsste aber viel mehr Straßen unter Ensembleschutz stellen.

  • Der Abriss ist bedauerlich, und so etwas sollte für die Zukunft vermieden werden. Aber immerhin erfolgte der Neubau postmodern eingepasst. Es hat zwei rustifizierte Sockelgeschosse, hält sich an die Traufhöhe, an den Farbton der Straße und weist einen Giebel auf. Das hätte zehn Jahre früher noch anders ausgesehen. Und heute womöglich auch. Nämlich vielleicht so oder so oder so oder so. Insofern: Ein bedauerlicher Abriss, aber ein immerhin angenehmer Neubau.

    Wo vorher 3 Geschosse waren, gibt es jetzt 5. Warum eigentlich?

    Das ist wohl ganz einfach mit Rendite-Prioritäten begründbar. Wo vorher 3 Wohnungen zu vermieten/verkaufen waren, sind es nun 5. So wurden die Abrisskosten wieder reingespielt. ;)

  • Rendite-Prioritäten? Soetwas sollte unterbunden werden.
    Niemand ist zu Eigentum verpflichtet.
    Aber Eigentum verpflichtet.
    Und bei einer solchen Bausituation - denkmalwürdig die ganze Straße - muss es ein Gesetz geben, dass an dieser Stelle Veränderungen der Geschossanzahl untersagt.

  • Es gibt gerade im Ostertor eine Reihe durchaus gelungener Beispiele für eine angepasste, fast klassische Postmoderne, nur ist es eine Sache, wenn diese aus einer Lückenbebauung von Verlusten durch Krieg oder Mozarttrassenplanung oder eben durch Abrisse ab etwa Mitte der 1970er Jahre, also "ohne Not" entstanden sind.

    Auch für dieses in der Summe durchaus gelungene, wenngleich etwas massive Gebäude gleich am Anfang des Osterdeichs mussten meines Wissens zwei oder drei erhaltene Villen weichen:

    Im Ostertor selbst gibt es viele für sich durchaus gelungene postmoderne Häuser (das erste bräuchte mal einen neuen Anstrich, erfüllt aber durchaus die ästhetischen Anforderungen an einen Kopfbau, den so viele heutige Häuser nicht erfüllen):

    Wenn dies auf Abrisslücken der Mozartrassenplanungen, Kriegsbrachen oder noch nie bebauten Grundstücken entstanden ist (wie die letzten 5 Beispiele), dann geht so etwas durchaus in Ordnung. Nicht in Ordnung hingegen ist die Situation am Osterdeich, wobei ich Heimdall zustimme, dass das Ergebnis definitiv am oberen Rand dessen, was in den letzten 80 Jahren möglich schien, liegt und es keineswegs ausgemacht ist, dass heute besser gebaut würde, siehe diese Unverschämtheit von 2016, für den ein intaktes, wenngleich entstucktes und runtergekommenes Bremer Haus weichen musste:

  • Dieser Riegel würde durch eine farbliche Unterteilung schon viel ausgeglichener wirken.


    Auch bei diesem Bau könnte man mit Farbe viel herausholen. Den Balkonerker eventuell in einem dunkleren Rotton streichen und die Fassade in hellem Rotton. Oder umgekehrt. Dazu sollte das Erdgeschoss natürlich zusätzlich abgesetzt werden. Meiner Meinung nach, wird eh zu viel in langweiligem Weiß angepinselt. Aber das hatte ich ja schon öfter erwähnt. 8) Farbe kann man ja glücklicherweise relativ einfach ändern.

    Insgesamt sind das einige ansprechende Beispiele an zeitgenössischer Architektur. Leider sehen die Erker an neueren Häusern, bedingt durch zu viel Glas und Plastikfenstern, oft eher störend aus.

  • Ich möchte auf diesem zugegeben etwas ungewöhnlichen Weg darauf hinweisen, dass ich gestern noch zwei Bilder aus dem Weser-Kurier vom Dezember 1983 mit Bildkommentaren ganz oben eingestellt habe. Es geht noch mal um das Doppel-Haus Osterdeich 140 - 141 an der Ecke Stader Straße. Es sind die Bilder drei und vier unterhalb des einleitenden Textes. Das Gebäude stand ja unter Denkmalschutz, der aufgehoben wurde. Hier interessiert mich besonders, wie das möglich war. Der Landeskonservator hieß damals Hans-Christoph Hoffmann, mit dem sich seit 1972 eigentlich vieles ändern sollte. Wer hebt den Denkmalschutz wieder auf - der Landeskonservator oder die vorgesetzte Behörde?