Architektur ohne Bezüge?

  • Manchmal sitze ich in stillen Stunden vor meinem PC und schaue mir Fotos verschiedener deutscher Städte an. Da kann es passieren, dass ich vor einem bestimmten Bild sitze und denke: Was fehlt hier? Was ist es, dass der Anblick mich nicht zufrieden stellt?

    Das Zauberwort lautet "Bezug". Das ist sicherlich keine neue umwerfende Erkenntnis, andererseits aber so wichtig, dass man es nicht oft genug zur Sprache bringen kann. Also noch einmal: "Bezug" ist das Wort.

    Ich gehe durch eine Kleinstadt in der Nähe meines Wohnortes und stoße in einer abgelegenen Straße überraschend auf ein sehr schönes Fachwerkhaus. Das Haus befriedigt mein Bedürfnis nach Ästhetik durchaus. Aber ich wende den Kopf nach links, dann nach rechts... der Zauber ist verflogen. Warum? Das Haus ist das einzige seiner Art an diesem Ort. Wie anders wäre der Eindruck, wenn die ganze Straße voller Fachwerkhäuser wäre. Wie anders die Wirkung: Es könnte dann ein Ort sein, der mich mit seiner Pracht regelrecht erschlägt.

    Die Wirkung eines Gebäudes entfaltet sich nicht isoliert - es sei denn, man zwingt sich zu einem verengten Gesichtsfeld, was aber nicht lange gut gehen kann. Auch das ist alles andere als eine neue Erkenntnis: Gebäude wirken im Ensemble. Mehrere Gebäude an einem Ort stehen im Bezug zueinander.

    Wir aber werden konfrontiert mit einer Art von Architektur-Ideologie, die "Bezug" durch "Kontrast" ersetzt wissen will. Nun ist ein Kontrast grundsätzlich nichts Verwerfliches, aber er ist eine Sache, die auch schiefgehen kann. Wer einmal in [lexicon='Frankfurt am Main'][/lexicon] vor dem Goethe-Haus oder der Hauptwache stand, der weiß, dass "Kontrast" hier nichts Belebendes in sich trägt. Nein, dieser Kontrast erstickt, er lässt keinen Freiraum. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber das Goethe-Haus wirkt nicht! Und diese Erkenntnis tut weh, denn sie trägt das Wissen in sich, dass das Goethe-Haus wirken KÖNNTE, wenn man es denn ließe... so aber verliert es sich in einer Masse von Durchschnittarchitektur, es ist nur ein bezugsloses Relikt aus einer anderen Zeit... Kein belebender Dialog zwischen Alt und Neu. Der einzige Dialog, der hier stattfindet, besteht darin, dass das Alte sagen möchte "Ich bin so schön, lasst mich frei sein", und das Neue überschreit es in einer hässlichen, unharmonischen Stimme.

    Es gibt einen bestimmten Typ Architekt, der sich um Bezüge nicht schert. Alles, was er tut, geschieht im Zeichen einer architektonischen Selbstverwirklichung. Die Idee, dass man sich auch dienend in eine Tradition stellen kann, ist ihm fremd. Aber eine Kunst, die sich nur aus dem Inneren eines Individuums speist und keine Bezüge zulässt, ist eine läppische, erbärmliche Kunst, weil sie nichts mitteilt. Sie KANN nichts mitteilen, weil sie für andere nicht nachvollziehbar ist. Ein Maler, der einen kerzengeraden Pinselstrich auf eine Leinwand bannt, mag angeben, dass dieser Strich das Gefühl banger Hoffnung symbolisiert, welches er beim Malen empfunden hat; aber er kann nicht einfordern, dass der Betrachter dies in seinem Gemälde erkennt. Denn ohne Bezüge *IST* dies nicht erkennbar: Der Pinselstrich könnte genauso gut überschäumende Freude symbolisieren. Folglich ist das Werk keine Kunst, also auch kein Kunstwerk, denn das individuelle Gefühl eines Malers, der sich anderen über seine Kunst nicht mitteilen kann, ist etwas Belangloses, etwas Nichtssagendes, mit Sicherheit aber keine Kunst. Mag sein, dass sein Werk von Nutzen sein könnte als Sujet für eitle, selbstgefällige Gelehrtengespräche elitärer Kreise von Pseudo-Intellektuellen - womit wir vom Maler wieder zurück beim Architekten wären. Eine Architektur ohne Bezüge? Eine Architektur, die den Rahmen ihres Umfeldes missachtet, die nichts weiter zu sagen hat als "Hier baue ich"? Nein, danke!!!

  • Restitutor, ich kann Dir in allen Punkten nur zustimmen. :daumenoben:
    Es kann nur dann wieder aufwärts gehen, wenn die Architekten beim
    Entwerfen eines Hauses auch mal nach links und rechts schauen.
    Respekt vor den Bauwerken der Vergangenheit - das ist der Schlüssel
    zu einem menschenfreundlichen Stadtbild !

  • Sehr schön formuliert und auf den Punkt gebracht, was man sonst immer nur in der Magengegend fühlt. Danke dafür.

    :applaus:

  • MIt dem gleichen Thema habe ich mich auch befasst und mehrmals mit Mitstudierenden und Proffesoren diskutiert!

    Ich muss dir leider wiedersprechen, denn von dieser Architektur von der d gearde sprachst, hat serh wohl Bezüge und eigentlich immer ein durchlaufendes Konzept, befasst man sich damit!

    Und genau das ist die Problematik, die Architektengeneration von heute nimmt sich raus die perfekten Stilikonen zu sein (zumind die guten).
    Sie wissen was gute Architektur sind was ein gutes KOnzept ist etc.
    Leider sind diese sog. Konzepte die meist in einem Bau inne wohnen für einen Aussenstehnden oder Jm der sich mit der Materie eher nicht befasst nicht wirklich auf einem Blick zu erkennen.
    Der Architekt von heute möchte ehrlich Acrhitektur entwerfen. Ehrlich Architektur ist für einen Architekten, Form follows Function. Um das mal an einem Bsp etwas zu verdeutlichen, betrachten wir einfach mal den Kölner Dom. ER ist im Grunde ehrliche Architektur, würde man die Ornamentik weglassen, den baukörper also alleine auf die Statisch relaventen Teile reduzieren. Dann wird nichts vorgetäuscht was es sein sol sondern jedes Bauteil hats eine statische und baukonstruktive Architektur.

    So aber das ist ja nunmal die Problematik, die so denken sind ungefähr ein Bruchteil unserer Gesellschaft! Leider wollen die meisten in D nunmal eher klassifizierende Architektur in ihren Städten sehen oder sagen wir diplomatisch ein miteinander. Und ich denke es ist die Aufgabe des Architeken sich mehr mit den Wünschen der breiten Massen ausseinander zu setzen.

    Ich selber halte viel von Prof. Hans Kolhoff, da die Architektur die er entwirft, zum einem sehr anspruchvoll im Bezug auf die Massstäbe sind, er nicht so verspielt in Barock überschwängt sondern bei den klaren Formen des Neo Klssizismus bleibt was zu gleich eine gewisse Reminiszenz an moderne Bauten ist und sich die Bauten eigentlich immer perfekt in ein gewachsenens urbanes Gefüge eingliedern.

    Leider ist es oft so dass die Archis die klssifiziert Bauen, ncht gerade anspruchsvolle Architektur an den tag lege, sondern eher sehr verkitscht Bauen, was das Ansehen des "New Urbanismus" leider etwas in verruf bringt!

  • Es ist weniger eine Stil- denn eine Form und Materialfrage. Ein Fachwerkhaus kann auch innerhalb einer nüchternen 50'er Jahre-Umgebung wirken, wenn sich diese in Bauvolumen, Höhe, Farbgebung und Dachneigung am Vorkriegszustand orientiert. Eine solche reduktive Architektur, wie wir sie im heutigen Nürnberg vorfinden, kann den Vorkriegszustand nicht ersetzen, jedoch die Tradition und Stadtidentität weiterführen und sogar schön sein - indem man die Formen verwendet, welche in Deutschland zu allen zeiten und jenseits von Stilprämissen im Bereich der Stadtkerne usus waren. Rekonstruktionen wirken in einem solchen Umfeld auch - Pellerhaus u.a. würden nicht isoliert, sondern ins Stadtgefüge integriert.


    Dagegen sind die kühlen "Center-District-Areas" unserer Innenstädte in allen Belangen meilenweit entfernt von den, was man als bezugnehmend oder menschenorientiert bezeichnen könnte. Ein weitgehend traditionsloser, europäischer Klassizismus a la Kollhoff oder Patzschke kann sich dagegen behaupten, jedoch keine richtigen, ortsgebundenen Bautraditionen. Es sind genaugenommen Industrieanlagen des Kommerzes, aber keine Innenstädte, wie sie über anderthalb Jahrtausende in Deutschland und Mitteleuropa existierten. Sie erzeugen bewußte Brüche und mit ihrem aufdringlichen, oft schreienden Spiegelglas-und Techgestänge visuelle Gewalt.

    Sie sind auch genau zu diesem Zeck erdacht und in dieser Form konzipiert worden - zur Zerstörung und Relativierung. Weniger die Wünsche des Architekten sind hierbei ausschlaggebend, sondern die des Bauherren und der Stadtverwaltung.

    Nein, die werden gedünstet

  • der wiederaufbau nürnbergs ist sicherlich ein äusserst positives beispiel, grundlege formen, in schlichterweise wieder aufgebaut.

  • Wissmut
    jörn
    naja... für mich als Nürnberger ein trauriger Abklatsch dessen, was über 600 Jahre Bestand hatte, :traurigboese: ein - zugegebenermassen gelungenes - Provisorium nach den barbarischen Kriegsverwüstungen, eine Erinnerung an ein Stadtbild, das früher in seiner Perfektion mit Venedig oder Florenz verglichen wurde... :traurigboese:

    Das ist es doch, wonach wir streben müssen: Die Wiederherstellung solcher perfekter Stadtorganismen, auch wenn uns das als Generation vollends nie gelingen wird - keine Angst, dieser Illusion gebe ich mich nicht hin. Aber Provisorien, die nach dem Krieg aus der Not heraus geboren wurden, dürfen wir nie als das Ende der Entwicklung akzeptieren.

    Grüße

  • Die Probleme liegen halt im wesentlich auch daran, daß Deutschland sehr dicht besiedelt ist - wir können den Flughafen halt nicht wie die Norweger irgendwo in einem abgelegenen Tal verschwinden lassen (wie im Falle des Umzugs des Flughafens Oslo nach Gardermoen), sondern beeinträchtigen damit automatisch irgendeine Fläche oder Siedlung. Daß dies irgendwelche tiefenpsychologischen Gründe hat, glaube ich nun wirklich nicht...

    Auch der unvermeidbare Bezug auf die Waldschlößchenbrücke darf nicht fehlen:

    "Denn der 200 Jahre lang unberührte Ort auf der Anhöhe über der Elbe ist durch einige der schönsten Stadtgemälde und durch unzählige schwärmerisch huldigende Dichtungen gleichsam geheiligt"

    Nur was meint der Autor mit "200 Jahre unberührter Ort"? Im 19. Jahrhundert wurden doch beide Elbufer von der Innenstadt bis zu den ehemals unabhängigen Dörfern von Blasewitz und Loschwitz zugebaut, von "unberührt" ist da keine Spur mehr. Man könnte glauben, das Obere Elbtal sei ein menschenleeres Naturschutzgebiet wie der Naturpark Bayerischer Wald...

  • Wieder einmal faßt Herr Haubrich, wie gerufen, in passende Worte was mir ebenfalls im Kopf herumgeht. Dasselbe gilt auch für den anderen Artikel über die Wohnghettos bei Paris.

    In dubio pro reko