Bachstadt Leipzig - die Matthäikirche

  • Wennals Thema hier nicht allein die „Matthäikirche zu [lexicon='Leipzig'][/lexicon]“steht (die auch Barfüsserkirche, Neukirche bzw. Franziskanerkirche genannt wird), so hat dies seine Bewandtnis darin, was wir in diesem Artikelsehen und konstatieren müssen.

    Leipzigkann erst wieder „aufblühen“, wenn es etwas auf sich hält undsich auch seiner Kulturgeschichte bewußt wird, das vorgelebte Niveauund die daraus verpflichtende Verantwortung annimmt, Vergangeneskritisch aufarbeitet und so geschichtliche Kontinuität herstellt, umdiese mit neuen Entwicklungen in die Zukunft fortzuschreiben.

    Dazugehört langfristig u.a. aufgrund der von Johann Sebastian Bacherlangten Bedeutung auch die Wiederherstellung seinerWirkungsstätten, worunter auch die Neukirche fällt, die 1494 aufdem seit 1239 bestehenden Franziskanerkloster erbaut wurde und seitihrem Umbau im Jahre 1879 Matthäikirche genannt wird.

    Seitder „Wende“ erleben wir eine Welle der „bronzenen Drops“- derGedenktafeln auf Fußwegen und an Hauswänden. Meist sind es nurAlibiveranstaltungen, weil sie nur anonym oder pauschal an etwaserinnern, ohne die eigentliche Qualität des oder der zu Ehrendenbzw. deren Leistungen wieder zum Allgemeingut werden zu lassen bzw.wieder für Neues zum Leben zu erwecken.

    Stadtplanausschnitt um 1880

    Soist die Bauaufgabe bei der Neukirche bzw. Matthäikirche eigentlichrelativ einfach umschreibbar. Hier geht es um die Wiederherstellungstädtebaulicher Strukturen, d.h. mit der Neubebauung derTöpferstraße, dem Wiederauf- bzw. Neubau der Matthäikirche und derWiederherstellung des Matthäikirchhofes kann auch die GroßeFleischergasse dann städtebaulich wieder komplettiert werden. Wiedieser Wiederaufbau auf den historischen Grundrissen erfolgt, kannsorgsam überdacht werden, da mit den weiteren baulich in Betrachtkommenden Wirkungsstätten Johann Sebastian Bachs d.h. derJohanniskirche und der Paulinerkirche eine beachtliche Varianzbreiteexistiert, die jedem Vorhaben seine eigene Spezifik gewährt – vonder äußeren und inneren Ausgestaltung bis zur Orgel. Daß das dieKirche umschließende Hotel dann vermutlich nicht wieder „Müller“heißen wird, ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung. AberKorrespondenzen zwischen den Bauten auf historischem Grund und denfunktionalen Anforderungen der Umbauungen lassen die Matthäikirchebestimmt wieder als eine der schönsten und stimmungsvollstenKirchen von ganz [lexicon='Leipzig'][/lexicon] zur Geltung bringen. Nun von dergedanklichen Überlegung zur Realität.

    Auch hier gehen wir wieder von der Stadtgeschichte aus.

    Die Neue Kirch mit Hof

    mit freundlicher Genehmigung von Graphikantiqauriat Koenitz, wo es bestimmt weitere unbekannte Abbildungen zu haben gibt.

    Man bedenke, daß die Stadtsilhouette über hunderte Jahre die Stadt [lexicon='Leipzig'][/lexicon] prägte. Selbst in den 1930er Jahren hatte man weiter den markanten Ausblick von der Matthäikirche:


    Blick in RichtungFleischergasse Coffe Baum, Zills Tunnel und Markt

    Inder Stadtsilhouette Nikolaikirche, etwas weiter entfernt der Johanniskirchturm und die Paulinerkirche mit Glockenturm – weiter rechts entfernt dasVölkerschlachtdenkmal.

    Die Stadtsilhouette vor den Gründerzeitbebauungen gibt es auch mit Blick auf die Matthäikirche


    Schauen wir uns nun von allen Seiten das Gebiet um die Matthäikirche an.

    Beginnen wir dabei mit dem Fleischerplatz 1908:

    Dies zeigt die vollbebaute Töpferstraße bis zur Matthäikirche. Links nicht im Bild das Alte Theater. Die Straße in Richtung Brühl war damals von größerer Bedeutung. Am Eckgebäude rechts kann man ausmachen, daß es früher zu den Märkten recht stimmungsvoll zuging:

    Farblitho um 1880. Zur Beitragserstellung noch im Graphikantiquariat Koenitz erhältlich.

    Die Attraktivität des Platzes wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß im oberen Stadtplanteil noch die Promenade eingezeichnet ist. Denn im Jahre 1777 war dieses Gebiet ebenso beachtet wie beliebt:

    Auch wenn heute vor der IHK heute bunte Fahnen wehen, scheut man leicht den Vergleich in der Winterzeit mit braun-schwarzem Schnee, aber es muß nun mal sein ...

    Die Töpferstraße ist derzeit nicht existent wie z.B.

    Töpferstraße 2 um 1940, im Bild unten der linken Straßenseite zugeordnet.

    Zur Töpferstraße gehört natürlich auch der Töpfermarkt mit dem gut erkennbarem Hotel Müller

    Hierzu auch ein Winterbild

    gelaufen 19.01.1912, Blick auf die Matthäikirche vor dem Bau der Feuerversicherung.

    Über hundert Jahre später im Januar 2016 als Dittrichring

    Der Blick auf die Matthäikirche aus dem nächsten Winkel:

    noch vor 1880 als Lehmanns Garten, rechts vorn an der Pleiße Carieri ...

    als Bosestraße um 1900

    im Jahr 2013

    Blick auf Feuerversicherung und Matthäikirche dahinter um 1920

    Der gleiche Standort im Januar 2016

    Bei den Neubebauungen um die Matthäikirche bedenke man, daß auch die Zugänge bedacht wurden:

    Der Zugang zur Kleinen Fleischergasse links und damit zum Matthäikirchhof ist hier gut erkennbar.

    Die Sicht der Kleinen Fleischergasse (das Gegenstück zum Foto vom Matthäikirchturm) mal in einer künstlerischen Sicht:

    vermutlich um 1880

    etwa vom gleichen Standort aus im Januar 2016

    Damit kommen wir zur umgrenzenden Großen Fleischergasse. Im hinter Teil zur Kleinen Fleischergasse:

    Die Szenerie vor 1907

    Vergleich im Jahre 2004

    Der vordere Teil zum Brühl verdeutlicht nun die Problematik des II. Weltkrieges:


    Große Fleischergasse 1944/5 (Fotograf nicht bekannt)

    Große Fleischergasse 2016, rechts Hain"spitze".

    An dieser Stelle nach links führte die Straße zum Matthäikirchhof.

    Das Vergleichsfoto in den Kriegstagen

    Und das Vergleichsfoto im Januar 2016

    Durch den ahistorischen Verbau des Geländes für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR sind weitere Vergleiche schlecht möglich. Einer sei jedoch mit aufgenommen, bevor es im zweiten Teil zur genaueren Bestimmung der Matthäikirche kommt.

    Hier noch einmal die Sicht vom Töpferplatz vor dem Abriß der alten Gebäude

    Eine gewisse Parallele bietet die Geisterpforte auch im Vergleich zur gegenwärtigen Situation.

    Es folgt der zweite Teil.

  • Dazugehört langfristig u.a. aufgrund der von Johann Sebastian Bacherlangten Bedeutung auch die Wiederherstellung seinerWirkungsstätten, worunter auch die Neukirche fällt, die 1494 aufdem seit 1239 bestehenden Franziskanerkloster erbaut wurde und seitihrem Umbau im Jahre 1879 Matthäikirche genannt wird.

    Ach so ehrenwert Dein Wunsch auch ist, für so unrealistisch halte ich leider eine Wiederherstellung der Matthäikirche.
    Kirchenrekonstruktionen wird es so schnell in [lexicon='Leipzig'][/lexicon] nicht geben, das hat die Diskussion um die Universitätskirche gezeigt: Selbst das bißchen Remineszenz die erreicht wurde und daß dort überhaupt gebetet werden darf, das bißchen wurde hart erkämpft und fiel beinahe kurzsichtigem Fortschrittsglauben und falsch verstandener Säkularität zum Opfer.
    Die zweite größere Chance auf eine Kirchenrekonstruktion in [lexicon='Leipzig'][/lexicon] wurde bei der Standortwahl für den Neubau der Trinititatiskirche vertan. Was ist das in diesen Zeiten überhaupt für eine einmalige Gelegenheit, wo andernorts Kirchen geschlossen, abgerissen, entweiht werden, wo aber jetzt aber eine Gemeinde einen mittelgroßen Kirchenraum benötigt (Nach heutigen Maßstäben ist es ein großer Kirchenraum):
    Da hätten sich mindestens eine Rekonstruktion der alten Trinitatiskirche oder aber eine (Teil-?) Rekonstruktion der städtebaulich umso wichtigeren Johanniskirche angeboten. Diese Optionen wurden kaum je in Erwägung gezogen. Stattdessen wurde dann diese Schuhschachtelkirche vis a vis zum Neuen Rathaus hochgezogen und diese beieinträchtigt zu allem Überfluß die eigentlich großartige (wenn auch nie so erdachte) Sichtachse Bayerischer Platz-Windmühlenstraße-Neues Rathaus.

    Nein, nein auch wenn bald der Betonklotz auf dem Matthäikirchhof fällt, wer sollte dort eine Kirche errichten? Wo gäbe es in [lexicon='Leipzig'][/lexicon] dafür eine Lobby? Zudem ist die alte Matthäikirche kaum noch im Bewußtsein der Leipziger, scheint mir.

    2 Mal editiert, zuletzt von Kaoru (17. März 2019 um 18:34)

  • Bacherlangten

    Wennals... Artikelsehen ... Leipzigkann ... undsich ... Vergangeneskritisch ... umdiese ... Dazugehört ... Bacherlangten ... seinerWirkungsstätten ... aufdem ... seitihrem ... Seitder ... derGedenktafeln ... nurAlibiveranstaltungen, ... etwaserinnern ... Ehrendenbzw. ... bzw.wieder ... Soist ... eigentlichrelativ ... Wiederherstellungstädtebaulicher ... derTöpferstraße ... derWiederherstellung ... GroßeFleischergasse ... Wiedieser ... kannsorgsam ... Betrachtkommenden ... derJohanniskirche ... Varianzbreiteexistiert ... vonder ... dieKirche ... „Müller“heißen ... AberKorrespondenzen ... denfunktionalen ... Matthäikirchebestimmt ... stimmungsvollstenKirchen ... dergedanklichen
    ...


    Hat das einen tieferen Sinn, dass so häufig das Leerzeichen zwischen aufeinanderfolgenden Wörtern fehlt? Wurden der Text in Schreibmaschinenmanier geschrieben und die manuellen Zeilenwechsel dann fehlerhaft ersetzt?
    Bitte korrigieren, sonst verliert man schon bald die Lust, das zu lesen. Danke. Wir als Moderatoren können unmöglich die Tippfehler in allen Beiträgen beseitigen.

  • Hat das einen tieferen Sinn, dass so häufig das Leerzeichen zwischen aufeinanderfolgenden Wörtern fehlt?

    Möglichenfalls hat er eine schnurlose Tastatur, und die Batterie gibt langsam den Geist auf. Ich hatte das auch mal, bin seitdem wieder zur USB-Tastatur zurückgekehrt.

  • Vorgelagert dem Fleischer- und Töpferplatz war nichts Geringeres als die Promenade.

    Und so war es nur folgerichtig, daß man auch den Matthäikirchhof zum Ring hin öffnete und dort bereits im Jahre 1913 Max Klingers Sockel für das vorgesehene Richard-Wagner-Denkmal einschließlich Treppenanlage aufstellte.

    Blick auf das Einweihungsgeschehen an der Töpferstraße. Man baute sogar extra eine Tribüne für das Ereignis. Im Hintergrund die Bebauungen in Richtung Große Fleischergasse.

    Klingers Denkmalsockel um 1930

    Doch dann nahmen die Diktaturen ihren Lauf.

    Die Sicht nochmals um 1940. Zu diesem Zeitpunkt hatten NSDAP und Leipziger Stadtverwaltung Größeres vor.

    Der Sockel ist hier verschwunden und war für den vorgesehenen Richard-Wagner-Hain an das Elsterflutbett verfrachtet worden. Dort überstand er auch die zweite deutsche Diktatur. Und was passierte nach der „Wende"? Nicht etwa der historische Bezug wurde aufgenommen, sondern nachträglich wurden zur Ehrung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR mit Sicherheit erhebliche Fördergelder für eine geschichtsfälschende Aufstellung verpraßt.

    Aufstellung zu Ehren des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) im Jahre 2012

    Und danach (Aufnahme Januar 2016): Ein auf jugendlich getrimmter, zum Sockel vergleichsweiser Zwerg, der Richard Wagner darstellen soll, schaut von Klingers Werk in Richtung Walter Ulbrichts einstiges Herkunftsviertel – wo bereits schon reichlich Geschichte geklittert wurde.

    Doch zurück zur Matthäikirche. Das bekannteste Hauptmotiv ist der Blick auf den Matthäikirchhof.

    Als Postkartenmotiv ist diese Ansicht in den verschiedensten Varianten zu finden.

    Die Szenerie, wenn man von der Kleinen Fleischergasse auf den Matthäikirchhof kam (gelaufen 01.02.1907)

    So anspruchslos die Matthäikirche außen erschien, so war sie in dem beschaulichen Winkel des Stadtkerns umso anziehenderund schöner, wie dies Alfred Thürmer, Kirchen-Inspektorvon St. Matthäi beschrieb. (Leider ist der Text zu lang, so daß dieser explizit folgt.

    Die Neukirche noch zu Johann Sebastian BachsLebzeiten:

    DIE NEUE KIRCHE - 1699 als Gottesdienstkirche geweiht und 1703 mit einemDachreiter und Eckturm versehen. Ihre Gestalt erhielt sich so bis zuihrem Umbau im Jahre 1879.

    Grundriß

    Schnitt

    Dachreiter

    Zum Text hier nun noch die entsprechenden Fotos vermutlich aus den 1930er Jahren

    Die Orgel wurde 1703-4 von Christoph Donat dem Älteren und dem Jüngeren eingebaut. Sie erfuhr zalhreiche Erweiterungen und Reparaturen - letztlich vor der Zerstörung mit einem Umbau der Firma Eule.

    Aufgrund des Grundrisses wird erkennbar, daß die Matthäikirche einanderes Raum- und Klangerlebnis als z.B. die Thomaskirche ermöglicht. Auch die Lichteinflüsse ergeben durch die großen Fenster eineandere Wirkung. Quasi abgeschirmt durch die Umbauungen stellt sie wiedie anderen Kirchen einen Ruhepol im innerstädtischen Getriebe desAlltags dar.

    Wie schon in ihren Anfängen ist die Neukirche wieder auf einerZwingburg, einer des 20. Jahrhunderts, zu errichten.

    Zur jetzigen Realität - Impressionen als Abschluß

    Man könnte umfängliche Aufsätze allein zur dieser Problematikschreiben. Denn man bedenke immer, wer hier im Jahre 1990 ausgezogen ist bzw. von hier aus angeleitet wurde, sitzt heute - so nicht in Rente oder tot - z.B. in Ämtern und Behörden, ist Beamter oder Abgeordneter und könnte jederzeit wieder einziehen, wenn es gemäß tschekistischem Eid gefordert wird, da dieser über der Glaubens-, Wissenschafts- oder sonstigen Freiheit steht. Es betrifft alle Themen der Schwerpunktstadt [lexicon='Leipzig'][/lexicon].

    Hier wie auch bei anderen Beiträgen geht es nur erst einmal um eine Wissensbereitstellung, auch und gerade um jenes Wissens, das man im Leipziger Rathaus, in der Lokalpresse etc. (wo eben die Kader sitzen...) gezielt unterdrückte bzw. unterdrückt.

    Aber vielleicht sprechen die Bilder erst einmal für sich- selbst nach 25 Jahren "Deutscher Einheit". Es hat sich baulich wenig verändert (siehe auch Vergleiche 2007und Aktualisierung 2013). Lenins Worte bewahrheiteten sich in der Weise (er meinteallerdings den weltweiten Übergang vom Imperialismus zumKommunismus): "Wenn die Gesellschaft zugrundegeht, kann man ihren Leichnam nicht in einem Sarg vernageln. Dieser Leichnam geht mitten unter uns in Verwesung über, er verfault und steckt uns selbst an." Zu diesen Formen der "Verwesung" gehören eben Wissensunterdrückung, Desinformation und Verheimlichung von Verbrechen.

    Speziell im Falle der Matthäikirche muß hinzugefügt werden, daß auch bei den archäologischenAusgrabungsarbeiten an der Matthäikirche SED und Stasi ihrerkulturbolschewistischen bzw. menschenverachtenden Gesinnung gerechtwurden und hier zielgerichtet Gräber beraubten. So fällt auchdieses verschwundene Kulturgut unter die Haager Konvention undRückgabeansprüche von 75 Jahren ...

    Gerade hier gilt es, aktiv zu werden, um [lexicon='Leipzig'][/lexicon] wieder eine Zukunft zusichern. Die Matthäikirche - auch in ihrer Bezugnahme auf KönigGustav Adolf und vermutlich viele andere, international bekannte,historische Persönlichkeiten kann in ihrem friedlichen Wirken außerordentlich vieldazu beitragen.

    Die Realität, wie sie auf ihrem Boden derzeit erlebbar ist, hat keine Zukunft - einige Impressionen Januar 2016 - folgend.

  • Alfred Thürmer , Kirchen-Inspektor von St. Matthäi

    Der Platz, auf dem die ehemalige Neukirche steht, ist historischer Boden. Die Geschichte dieses seit ihrem Umbau 1879 „Matthäikirche" genannten Gotteshauses führt uns in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts, in die Regierungszeit des Markgrafen „Dietrich des Bedrängten" und „Heinrich des Erlauchten" zurück. Hier stand in altersgrauen Zeiten einst das Franziskanerkloster, das von den Franziskanermönchen um 1239 auf einer Zwingburg erbaut worden war. Am Denkpfeiler hinter der Kirche in der schmalen Schlippe steht gegen zehn Meter hoch die Zahl „1494", an der viele gewiß achtlos vorübergehen. Diese Zahl ist der Geburtsschein der Matthäikirche; denn sie sagt uns, daß die alte Neukirche 1494 errichtet worden ist. Darunter befindet sich die Zahl 1699, die das Jahr der Erhebung, zur Gottesdienstkirche nach langem Verfall kündet. In der Zwischenzeit hat die Kirche gegen 150 Jahre völlig verlassen dagestanden. Denn [lexicon='Leipzig'][/lexicon] war wiederholt durch Teuerung, Pestilenz, Belagerungen, Eroberungen und mannigfache Unglücksfälle aufs äußerste geschwächt worden, so daß nur geringe Spuren früheren Glanzes übriggeblieben waren.

    Nachdem aber Friede eingezogen und die Einwohnerschaft wieder gewachsen war, wurde die Kirche 1699 glücklich mit einem Kostenaufwande von 18000 Meißner Gulden im Barockstil vollendet und unter großer Beteiligung der Bürgerschaft am 24. September geweiht. Unter der napoleonischen Herrschaft litt die Kirche abermals und zwar dadurch, daß sie 1806 in ein Militärgefängnis und 1813 in ein Lazarett umgewandelt und dadurch fast ein Jahrzehnt hindurch ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen ward. Um sie den gottesdienstlichen Zwecken wiederzugeben, ist sie notdürftig wiederhergestellt worden und in solcher Beschaffenheit bis 1879 verblieben. In diesem Jahre ist sie durch Baurat Dr. Mothes in spätgotischem Stil umgebaut worden, nachdem sie bereits 1876 zur Pfarrkirche erhoben worden war. Sie ist dann unterm 15. Februar 1880 geweiht worden.

    Bereits 1892 fing man an, sich auf das 400jährige Bestehen der Kirche zu rüsten. Aus diesem Anlaß ist sie aufs neue besonders schön ausgeschmückt worden. Welch wertvolles und unerläßliches Ausdrucksmittel die Farbe in der Kunst der Malerei ist, davon bietet uns die Matthäikirche ein schönes Beispiel. Die Durchführung des künstlerischen Gedankens in der Architektur sowohl wie in der Malerei ist hier in geradezu hervorragender Weise gelöst worden. Vornehmheit in der Linienführung und künstlerische Ausführung schaffen Würde, Andacht, Wärme und Stimmung. Von besonderer Schönheit ist die Anordnung von Altar, Kanzel, Taufstein und Lesepult, über welch letzterem ein Altarrelief aus alter Zeit angebracht ist.

    Die dekorativen Malereien, die den Charakter der Spätgotik tragen, zeichnen sich durch schöne Stilisierung aus. Mit vielem Glück sind die Pflanzenmotive zu stilvollen Ornamenten verarbeitet und tragen noch heute reichen Stimmungsgehalt. Die Kappenverzierungen im Altarraum zeigen Darstellungen, die auf Taufe, Konfirmation, Abendmahl und Trauung Bezug haben und nach oben hin mit den vier Evangelisten abschließen. Die noch zum Chore gehörige Wandfläche der Südseite ist mit der „Bergpredigt" geschmückt. Die darunter befindliche Ratsloge zeigt das in Gobelinmalerei ausgeführte mächtige Stadtwappen Leipzigs. Mit besonderer Sorgfalt sind auch die von Malereien und sinnigen Sprüchen unterbrochenen Emporen behandelt, biblische Darstellungen, die mit Pflanzenfüllungen abwechseln. Die Orgelempore ist neben Füllungen mit Pflanzenmotiven mit einer Darstellung des „Einzugs in Jerusalem" versehen. Die schön geschnitzte Kanzel mit ihrem hohen Schalldeckel steht an wirksamer Stelle. Die dunkle Holztäfelung und das Porphyrrot der Säulen und Wände wirken besonders stimmungsvoll. Als ein hervorragend schöner Schmuck stellen sich die Münchner Glasmalereien dar. Damit ist der Plan, die Hauptreformatoren Luther und Melanchthon sowie die Leipziger Reformatoren Cruciger und Mykonius auf der einen Seite und die Reformationsfürsten Friedrich der Weise, Johann der Beständige, Johann der Großmütige sowie Herzog Heinrich der Fromme und König Gustav Adolf auf der anderen Seite gegenüberzustellen, in dankenswerter Weise verwirklicht und damit ein schönes Reformationsdenkmal in der Kirche geschaffen worden.

    Die drei besonders schönen und farbenprächtigen Altarfenster, die die „Geburt", „Kreuzigung" und „Auferstehung" Christi darstellen, sind gleich den nördlichen und östlichen Giebelfenstern „Jesus am Jakobsbrunnen", „Barmherziger Samariter" und „Auferweckung Lazarus" ein weiterer künstlerisch erhebender Schmuck der Kirche. Ruhe und Vornehmheit geben einen überaus wohltuenden Gesamteindruck. Auch die im Altarplatz auf erhöhten Postamenten aufgestellten Statuen Moses, Johannes der Täufer und der vier Evangelisten bilden einen sinnreichen Schmuck des Gotteshauses und tragen nicht wenig zur würdigen Ausgestaltung bei. Die Orgel mit ihrem reichen Prospekt fügt sich trefflich in das Ganze ein. Leider sind die Prospektpfeifen dem Kriege zum Opfer gefallen. Die überaus günstige Raumwirkung, verbunden mit einer guten Akustik, der gefällige Baustil, die herrlichen Glasfenster, die durch die prächtigen Malereien, Holztäfelungen und Teppiche erzeugte würdige und ruhige Vornehmheit lassen von der häufig in protestantischen Kirchen auftretenden Nüchternheit der Ausstattung nichts erkennen. Der Gesamteindruck ist ein so auf das Gemüt wirkender und weihevoller, daß wir ohne Uebertreibung wohl sagen können: Die Matthäikirche ist eine der schönsten und stimmungsvollsten Kirchen von ganz [lexicon='Leipzig'][/lexicon].

  • Welchen Grund hat das eigentlich, daß sowohl die Universitätskirche, die Thomaskirche als auch die Mathäikirche über jahrhunderte hinweg vollkommen ungestaltete, man kann sagen, häßliche Giebel hatten? Gut alle diese Kirchen standen mit einer Giebelseite zur Stadtbefestigung (trotzdem sie diese deutlich überragten) aber selbst der stadtseitige Giebel der Thomaskirche blieb bis zur neugotischen Umgestaltung ein Giebel der auch hätte eine Brandwand sein können. Warum erhielten diese drei Leipziger Stadtkirchen ihre Giebelfassaden erst im mittleren (klassizistische 1. Fassade der Unikirche) oder im späten 19. Jahrhundert (übrige Kirchen) ? Fehlte vorher schlicht das Geld? Gab es Pläne aus spätgotischen Zeiten für die Giebelseiten? Oder hat man sie gar für verlängerungen als Provisorien konzipiert?
    Vielleicht kann mir da ja wer weiterhelfen, für eine Antwort wäre ich sehr dankbar.

    2 Mal editiert, zuletzt von Kaoru (17. März 2019 um 18:44)

  • Welchen Grund hat das eigentlich, daß sowohl die Universitätskirche, die Thomaskirche als auch die Mathäikirche über jahrhunderte hinweg vollkommen ungestaltete, man kann sagen, häßliche Giebel hatten? Gut alle diese Kirchen standen mit einer Giebelseite zur Stadtbefestigung (trotzdem sie diese deutlich überragten) aber selbst der stadtseitige Giebel der Thomaskirche blieb bis zur neugotischen Umgestaltung ein Giebel der auch hätte eine Brandwand sein können. Warum erhielten diese drei Leipziger Stadtkirchen ihre Giebelfassaden erst im mittleren (klassizistische 1. Fassade der Unikirche) oder späten 19. Jahrhundert (übrige Kirchen) erhielten? Fehlte vorher schlicht das Geld? Gab es Pläne aus spätgotischen Zeiten für die Giebelseiten? Oder hat man sie gar für verlängerungen als Provisorien konzipiert?
    Vielleicht kann mir da ja wer weiterhelfen, für eine Antwort wäre ich sehr dankbar.

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    Die Mattäikirche war 1494 als Franziskanerkirche, mithin als Bettelordenskirche errichtet worden. Diese sehr einfachen Kirchen waren in aller Regel von Bettelorden errichtet worden. Die Bettelorden hatten nur sehr begrenzte finanzielle Mittel und konnten und wollten von ihrer Einstellung her auch nur ganz einfache Gotteshäuser. Diese lagen denn meistens auch in den Stadtteilen, in denen der ärmere Teil der Bewohner der Stadt wohnte. Wohl deshalb lagen die Bettelordenskirchen oft in der Nähe der Stadtmauer. Vor den Stadtmauern befanden sich Wassergräben. Oft handelte es sich um nahezu stehende Gewässer, in die auch noch die Fäkalien eingeleitet wurde. Neben Fröschen und Kröten hielten sich dort oft Mengen von Ratten auf, ebenfalls Heerscharen von Stechmücken. Zudem verbreitete sich von den Wassergräben ausgehend im Hochsommer ein schrecklicher Gestank. In der Nähe der Stadtmauer zu wohnen, war deshalb dem armen Teil der Städter vorbehalten. Viele Bettelordenskirchen hatten gar kein Gewölbe, höchstens im Chor, ansonsten eine Flachdecke. Es gab auch Bettelorden für Frauen, deren Kirchen waren durchwegs noch deutlich einfacher und strenger gestaltet, als die der Männerorden. Bei mehreren dieser Frauenklosterkirchen, die ich besucht habe, waren z. B. die Fenster lanzettförmig schmal. Nachdem eine Stadt die Reformation eingeführt hatte, mussten die Ordensleute i. d. R. diese Stadt verlassen. Danch waren diese Kirchen zunächst verwaist und wurden oft als Lager, Magazin, z. B. als Salzlager und für ähnliche Zwecke verwendet. So scheint es auch in Leipzig gewesen zu sein. Wenn dann später durch Zuwachs der Einwohner ein weiteres Gotteshaus nötig machte, wählte man dann häufig eine der alten Ordenskirchen, was billiger war, als neu zu bauen. Diese Kirchen wurden aber von der Gemeinde dann mit der Zeit doch als zu armseelig empfunden. Man hat sie mit meist nach und nach umgebaut und verschönert. Das gilt nicht nur für das Interieur, sondern auch für die äußere Gestalt. So kam es dann z. B. auch zu schöneren Giebeln etc.

    5 Mal editiert, zuletzt von Villa1895 (28. Januar 2016 um 21:24)

  • Kleiner Nachtrag zur städtebaulichen Einbindung

    Hier die angrenzende Szenerie von oben:

    Fliegeraufnahme vermutlich aus den 1930er Jahren

    Man sieht deutlich die verdichtete Bebauung, sowohl rechts unten der Töpferstraße, der Großen Fleischergasse als auch andeutungsweise am Brühl. Mit dem Alten Theater und der Ständigen Gewerbeausstellung sind zudem noch jene Strukturen vorhanden, die in "unseren" Zeiten zugunsten einer "autogerechten Stadt" für den extensiven Straßenausbau geopfert wurden.

    Interessanter ist noch die Sicht auf die Promenade und den Töpferplatz aus dem Jahre 1901:

    Auch wenn die Matthäikirche hier nur angeschnitten zu sehen ist, zeigt die Aufnahme aus dem Verlag von G. Friedrich rechts nicht nur gut den Verlauf der Töpferstraße, sondern auch die Höhengliederung des ehemaligen Stadtkerns und des Barfußberges im Verhältnis zum Ring außerhalb. Wie auch die Thomaskirche strahlt die Matthäikirche gemeinsam mit ihrem Vor- und Umfeld eine gewisse Erhabenheit aus.

    Gegenwärtig (zu Beginn des 21. Jahrhundert) hat die gleiche Szenerie eine Verweilattraktivität von Null. Trotz der gewachsenen Bäume beherrschen der lautstarke und abgashaltige Verkehr das Bild, zumal die Freiflächen vor der IHK und im Bereich der unbebauten Großen Fleischergasse als Parkplätze dagradiert sind.

  • Beginnen wir wieder mit einer kleinen Serie zur Matthäikirche, die gemäß Druckgenehmigungsnummer in der DDR vermutlich noch im Jahre 1968, wenn auch in schlechter Druckqualität erschien. Das ist deshalb beachtenswert, weil sie nicht nur zur Zeit der Vernichtung der Paulinerkirche und anderer geschichtsträchtiger Bauten wie Deutrichs Hof oder des zweiten Gewandhauses herausgekommen ist, sondern weil dies im Zusammenhang stand mit der Vereinnahmung des gesamten Geländes des Matthäikirchhofes samt Feuerversicherung und Nebengebäuden durch SED bzw. Stasi.

    Der Text hier jeweils mit der damaligen Originalbetitelung.

    Mittelschiff und Altarraum. 1879 durch Baurat Dr. Mothes aus dem Barock in die Gothik zurückgeführt. 1894 durch Baurat Zeißig erneuert. Total ausgebombt am 4. Dez. 1943.

    Blick nach Kanzel, Ratsloge und Ehrenmal …

    Blick vom Altar nach Kanzel und Orgel ...

    MATTHÄIKIRCHE LEIPZIG

    Dazu noch eine Aufnahme vor dem Umbau der Matthäikirche im Jahre 1879.

    Schon damals sieht man Müllers Hotel.

    Müller Hotel Matthäikirchhof 12/13 a. d. Promenade (Karte gelaufen am 22.4.1909)

    und dazu mal ein Blick von der Ecke der Großen Fleischergasse in Richtung Hotel Müller und Feuerwache

    (gelaufen am 18.10.1925)

    Heute sieht diese Sicht so aus:

    Vergleich 20. Mai 2017. Kurze Vor-Ort-Ergänzung: Hupende Autos und schimpfende Stimmen im Hintergrund der Großen Fleischergasse, weil zum sonnabendlichen Einkauf in der Innenstadt etliche Autos nebst dem abgebildeten warten, einen freien Parkplatz zu bekommen, währenddessen kein Durchkommen mehr in der Großen Fleischergasse ist.

    Bei all diesem sichtbaren Kultur"fortschritt" stellt sich die Frage: Wie soll man bei einer Neuplanung des Geländes um den Matthäikirchhof im 21. Jahrhundert vorgehen? Denn die Praxis im Leipzig der Zeit nach der Wende war, möglichst alle DDR-Bauten zu erhalten und wenn neu, dann möglichst nur schlechter und scheußlicher nach dem Arthur Schramm zugedichteten Satz: "Die Innenstadt ist voll entkernt, der Osten hat dazugelernt!"

    D.h. wenn man den Vergleich zur Zahntechnik verwenden will, bedeutet das, daß ausgebombte Fehlstellen bisher meist mit grobschlächtigen Betonmassen verfüllt wurden, ohne daß damit wieder ein funktionsfähiges Gebiß hergestellt wurde. Aber jeder dieser Investoren hatte bestimmt den Blick auf herausragende Altbausubstanz Leipzigs in seinem Portfolio.

    Da in diesem Falle jedoch schon an der Ecke Dittrichring zum Barfußgäßchen ein positives Zeichen von Wiederherstellung existiert, gibt es vielleicht auch Hoffnung.

    Die Planungsaufgabe im 21. Jahrhundert ist jedenfalls dank Digitalisierung schon etwas leichter. Da alle Adreßbücher bereits online sind, hat man gut historische Anhaltspunkte. Zudem kann man ermitteln, was an Bestand über die Jahrhunderte in diesem Bereich existierte, was sich möglicherweise bewährt und auch nicht bewährt hatte. So steht dann die Frage, welche (heute und ggf. gesetzlich mögliche) Kleinteiligkeit kann man im 21. Jahrhundert herstellen kann, um wieder einen lebendigen und nachhaltig wirkenden wie attraktiven Innenstadtteil im Neukirch- bzw. Matthäikirchhof zu erhalten.

    Dazu schauen wir einfach mal auf einen Adreßbuchauszug.

    Aus dem Leipzig Adreßbuch von 1905. Bei älteren Adreßbüchern muß man noch unter dem Begriff Neukirchhof nachschlagen. Bei anderen ist dann die Numerierung detaillierter angegeben. Es ist also doch von Jahr zu Jahr in diesen recht unterschiedlich dokumentiert worden.

    Beim Matthäikirchhof gehen die Nummern bis 38, wobei die 1 bis 11 auf den Dittrichring fallen, d.h. Wünschmanns Hof, Feuerversicherung und Nebengebäude. Das zusehende Beerdigungsinstitut Ritter war z.B. die Nummer 32. So könnte es eine dankbare Studentenaufgabe sein, diese historischen Quellen systematisch aufzubereiten. Denn es gibt eine ganze Reihe kulturgeschichtlich wichtiger Aspekte wie Zöllners Haus Nr. 34, aber auch ganz profane Beschilderungen vom "Zum goldenen Weinfaß" Nr. 29 (vormals Neukirchhof 10), "Blauer Stern" etc.

    Dies betrifft auch die Töpferstraße 1 bis 4 mit Zur Goldenen Krone (1), Brandtstätter Musikaliendruckanstalt und Steindruckerei sowie Zum goldnen Schiff (2) oder Conditorei und Café Germania (4 oben angeschnitten zu sehen).

    Wie gesagt existierten alle Einrichtungen nicht über die gesamte Zeitspanne, auch nicht Müllers Hotel, aber man sollte schon das behutsam wieder aufnehmen, was auch für eine Zukunft attraktiv, lehrhaft wie prägend sein kann.

    Künstlerisch wurde der Matthäikirchhof mehrfach aufgegriffen wie von Peter Jacob 1906

    oder hier mit einer Gouache von Hartung (Näheres zur Darstellung leider nicht auf dem Blatt ersichtlich.).

    Dieses Atmosphärische des Matthäikirchhofs zeigt zumindest, daß es wieder ein beschaulicher Anziehungspunkt werden kann.

    Die Matthäikirche war Wirkungsstätte von Johann Sebastian Bach.

    Dies ist auch die langfristige Maxime, in diesem Sinne die Fläche der Matthäikirche wieder zu bebauen. Ob man nun scheinbar Unmögliches wagt, die Matthäikirche wieder in einer ihrer Formen wieder aufzubauen, sei dahingestellt. Die Maxime bleibt.

  • Wenn dieser Beitrag nun hier folgt, so hat es auch seine Bewandtnis. Denn es soll Geld aus Berlin geben. Geld. Fördergelder. Sogar Bundesmittel. Und der Genosse Religionslehrer will wieder einmal kraft seines Amtes einen Erinnerungsort kreieren, wo er schon wie beim Konjunkturprogramm II umfangreiche Fördergelder zur Geschichtsklitterung und Hübschung der Etzoldschen Sandgrube eben in den Sand setzen ließ. Dieses Mal nur in noch größeren Dimensionen.

    Es gibt ganz aktuell Bestrebungen, sich in die von der Stasi gesetzeswidrig einverleibten Gebäude vollends einzunisten.

    Das bedeutet, Leipzig nicht als Musik-, Kultur- und Bachstadt, sondern Leipzig weiter als Stadt der Stasi, der SED und ihrer weiter legendierten Vasallen, der inoffiziellen Mitarbeiter der MfS, der SED-Verbrechen, der Geschichtsklitterung, der Steuergeldverschwender, der "herrenlosen Häuser" etc. und s.o. des Fördergeldermollochs.

    Dies verdient Beachtung und somit einige Erläuterungen. Denn wir haben den Zustand am Matthäikirchhof oben gesehen. Und schon vor über zehn Jahren wurde dies dokumentiert:

    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/bach4.htm

    sogar im Jahre 2013 aktualisiert mit dem "Denkmal für den Unbekannten Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi":

    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/bach4b.html

    Hier nochmals einige aktuelle Impressionen.

    Fotos alle 20.05.2017

    Hier möchten Vertreter einer "Initiativgruppe" unbedingt einziehen und haben sich das Gelände wohl schon aufgeteilt.

    Vielleicht bekommen die Mitarbeiter dann auch noch eine neue Uniform, Herr Bohse vielleicht einen Legendierungsorden II. Klasse, oder andere Auszeichnungen werden an die Brust geheftet wie z.B. eine Treuemedaille für tschekistische Nachwendeverschwiegenheit, einen Stasi-Ablaßbrief oder den friedlichen Revolutionsorden zur Verballhornung der Bürger ...

    Mit Verlaub: Bis heute gibt es keine vollständige Strukturaufklärung des MfS. Schwerwiegende Stasi- und SED-Verbrechen sind wie nach der nationalsozialistischen Diktatur immer noch nicht aufgeklärt bzw. werden weiter unter den Teppich gekehrt. Das Zugeben von Fehlern damaliger Akteure von SED und Stasi, die genau wissen, welche Schweinereien sie begangen haben, existiert nicht. Eine Fehlerdiskussion gab und gibt es nicht. Von Wiedergutmachung - keine Spur. Statt Übergabe an das Bundesarchiv weiter Zensur durch nachgewiesen fragwürdige Kader in der BStU, die alles zurückhalten, was auch nur andeutungsweise die nicht veröffentlichten Teile des Einigungsvertrages vom 18.9.1990 tangieren könnte.

    Den Nicht-Leipzigern muß hier folglich kurz erklärt werden, was es mit den Metamorphosen von SED und Stasi bzw. der Legendierung getarnt als "friedliche Revolution" auf sich hat.

    In der Endphase der DDR 1989 verdoppelten sich die Demonstrantenzahlen montags, nachdem sich keiner mehr etwas von der "sozialistischen" Obrigkeit (es gibt zur heutigen Situation einige Parallelen) sagen lassen wollte. Das führte dazu, daß man immer mehr Einsatzkräfte aufbieten mußte mit dem ausufernden Problem, wie sich denn die Tschekisten von den aufmüpfigen Bürgern unterscheiden sollten, nachdem sich mit Tütchen in der linken Hand und ähnlichem Erkennungsmerkmal-Firlefanz nichts mehr ausrichten ließ.

    So kam es am 9. Oktober 1989 zu dem Kuriosum, daß über die SED-Schiene von Egon Krenz im Siegel der Verschwiegenheit herbeizitierte 5.000 besonders vertrauenswürdigen Genossen, die dann gleich die Nikolaikirche mit besetzten, den anderen Genossen praktisch gegenüberstanden, die mit Feuereifer eben möglichst jene bekämpfen sollten, die gewöhnlich in die Nikolaikirche gingen. D.h. die SED konnte ja schlecht auf sich selbst schießen. Und so wurde zugleich die Parole herausgegeben, daß es nicht 10-15.000 Demonstranten, sondern 70.000 seien, weil bereits zu diesem Zeitpunkt der "Point of no return" überschritten war und ausgewählte Kader als Akteure (mit ihrer Stasi-Akte zum Freilauf im Gepäck) sonst mit den SED-Hardlinern in Konflikt geraten wären. Der Effekt war allerdings nur, daß die Angst der Bürger weiter wich und die Zahlen folglich bis zur Grenzöffnung immer weiter anstiegen.

    Die erste Ausstellung zur Stasi fand im Jahre 1990 im damaligen Gebäude am "Sachsenplatz" statt. Wenn hierzu komischerweise kaum Fotos auftauchen, so weil diese im wesentlichen von deren eigenen, insbesondere jungen Perspektivkadern zusammengestellt wurde. Im wesentlichen handelte es sich um abgelegtes Zeug. Nicht der "beste Auslandsgeheimdienst der Welt" wurde präsentiert, sondern der Müll an alten Stempeln, Fotoapparaten und diversen absonderlichen "Geheimwaffen", die wohl den Stand der 1970er präsentierten. Kein einziger IBM-kompatibler Rechner war zu finden, obwohl sogar schon IM Ostap seine Dissertation schon zwei Jahre zuvor auf einem solchen verfaßte. Im Volksmund verwendet man den Begriff "Verarschung", was da 1990 und bis heute getrieben wird.

    Das bedeutet natürlich nicht, daß Aufarbeitung nicht notwendig wäre und alte Ausstellungsstücke nicht schon abschreckend und deprimierend genug sind. Auch viel Arbeit wurde z.B. in das Archiv Bürgerbewegung gesteckt. Aber dafür gibt es auf dem Gelände der ehemaligen Technischen Messe mehr als genug Platz.

    Man muß sich immer vor Augen halten: Unter dem Vorsatz, mit dem Sozialismus-Kommunismus eine bessere Welt zu schaffen, wurden hier systematisch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Menschen wurden generalstabsmäßig "kaputtgespielt". Zersetzung wurde hier wissenschaftlich betrieben, auch mit bewährten Kadern der "Karl-Marx-Universität" Leipzig. Von der "Operativen Psychologie", über Doping und chemische Kampfstoffen bis zur radioaktiven Verstrahlung wurde alles an erdenklichen Scheußlichkeiten erprobt und umgesetzt, was gegen den "Sozialismus" zu sein schien. D.h. die kriminelle Bandbreite ging weit über die Entrechtung von Sammlern, über Verscherbelung von Museumsgut, die Selbstbereicherung mit Westartikeln etc. pp. hinaus. Und das wird im lokalen Zentralorgan von "Bürohaus" bezeichnet.

    Wenn dies für den Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) nach eigenen Aussagen der authentische Ort ist, um Bildung, Forschung und Erinnerung zusammenzuführen, dann möge er bitte seinen Schreibtisch umgehend in diesem Gebäude aufstellen und den dortigen Paternoster-Aufzug benutzen. Vielleicht erinnert ihn das an die Genossen der HV A & Co., die ihn ansprachen, damit er nach Leipzig kam. Es ist eine Verhöhnung der Opfer. Um diese und die Aufklärung von SED-Verbrechen hätte Herr Jung sich mal kümmern sollen. Und vielleicht setzt sich Herr Roland Jahn selbst mal für einige Tage in einen der berüchtigten Tigerkäfige der Stasi, um im Selbstversuch zu dokumentieren, wie die Stasi Entmenschlichung im "realen Sozialismus" praktizierte. Wollen sich ehemalige Bürgerrechtler tatsächlich in Verhörzellen einmieten? Wollen sie an der kriminellen Grundstücksbereicherung und der Verbauung des Matthäikirchhofs der Stasi auch noch profitieren?

    Ich denke, nein.

    Und mal im Ernst. In der Distanz der Jahre gehe ich davon aus, daß nicht einmal die Peiniger oder jene, die wohl oder übel in dieses System verstrickt waren, sich wünschen, daß dieser häßliche Betonklumpen, an dem so viel Dreck und Unrecht haftet, wieder aufgepäppelt wird. Aber ich möchte nicht vorgreifen, sondern nur auf den Artikel hinweisen, den möglichst viele hier im Forum und darüber hinaus sehr aufmerksam lesen sollten. Dabei wird vielleicht auch verständlich, warum selbst Ortsansässige das lokale Zentralorgan nicht mehr ertragen können:

    http://www.lvz.de/Leipzig/Stadtp…-Zentrale-steht

  • Wenn nicht erst im Jahre 1989 der Unmut Leipziger Bürger wuchs, so weil unter der SED-Politik die Stadt Leipzig mit vielen, vielen erhaltenswerten Gebäuden zunehmend zerfiel, immer mehr Kulturwerte in den "Westen" - verschachert wurden vom berühmten Pflasterstein bis zur Straßenlaterne. Sammler wurden "entreichert" und weiteres Kultur- und Kunstgut stand schon auf Listen, um zum Erhalt eines kulturbarbarischen wie kriminellen Systems beizutragen.

    Das bedeutet - um eine gesellschaftliche wie kulturelle Kontinuität wieder herzustellen -, daß man das aufarbeitet, was die SED mit ihren Helfershelfern an bürgerlicher Kultur ausrotten wollte.

    Die Aufgabe, an Bildung nachzuholen, was unterdrückt und vernichtet werden sollte, steht eklatant weiter an!

    Nehmen wir z.B. das Reformationsjubiläum.

    Vor hundert Jahren gab D. Paul Kaiser auf 96 Seiten mit 38 Abbildungen zur Vierjahrhunderfeier das Werk "Unser Reformator Martin Luther" heraus bei Velhagen & Klasing in Bielefeld.

    Dr. th. D. Paul Kaiser war Pfarrer zu St. Matthäi. (aus der Leipziger Geistlichen-Serie von Louis Pernitzsch)

    Doch statt die Bildungsdefizite zu schließen - gerade aus genanntem Anlaß -, wird weiter schwadroniert über Erich Mielkes Bunker & Co.

    Schnell schnell weiter staatliche Gelder verbraten. Fördergelder für Lichtfeste verbrennen. Den 9. Oktober weiter legendieren. Doch permanenten Revolutionen und verstetigten Feiertagen sind vermutlich viele Bürgern längst überdrüssig. So lange das Niveau an Erich Mielke festgemacht wird und nicht an Johann Sebastian Bach und den Altvorderen, die über Jahrhunderte den Matthäikirchhof gestalteten und ihn belebten, wird es keinen Kulturforschritt geben!

    Aus diesem Grunde hier noch der Offene Brief an die Stadträte vom 15.09.2017:

    Es sei bemerkt, daß auch bei Erdarbeiten am Matthäikirchhof die Stasi Särge ungeöffnet "mitgehen" ließ. Aber nicht einmal das weiß Herr Roland Jahn und sonstige, die dafür eigentlich finanziert werden und dies hätten aufarbeiten müssen ...

    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/Matt…ffenerBrief.pdf

  • Im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum und (s.o.) Pastor D. Paul Kaiser muß natürlich auch Archidiakonus Max Pescheck genannt werden.

    Auch wenn es hier in erster Linie um Architektur gehen sollte, so ist doch einiges an Wissen bereitzustellen, was SED und Stasi nicht nur an dieser Stelle unbedingt ausrotten wollten. D.h. die SED schlachtete nicht nur Friedhöfe aus, um an Devisen zu kommen, sondern auch Literatur wurde ausgesondert und gezielt vernichtet, so daß Dokumente und Quellenmaterial (analog zur Leipziger Synagoge in der Gottsched- Ecke Zentralstraße) nicht leicht verfügbar ist.

    Hier sein Beitrag zu Caspar Cruciger, dessen Bildnis sich in der Matthäikirche befand.

    Caspar Cruciger

    geb. den 1. Januar 1504 in Leipzig, gest. den 16. November 1548 in Wittenberg

    Im Jahre 1519 fand in unserer Stadt – welcher Leipziger, welcher evangelische Christ wüßte es nicht – die berühmte Disputation zwischen Luther und Eck statt. Herzog Georg hatte sein Schloß, die alte Pleißenburg, dazu geliehen. Er war auch selbst dazu erschienen und hörte oft und fleißig zu. Auf den Straßen und in den Herbergen herrschte ein gar bewegtes Treiben, eine große Menge Menschen war zusammengeströmt, Leute von allen Ständen, Vornehme und Geringe, Gelehrte und Ungelehrte, Professoren und Studenten. Viele hörten mit großem Interesse zu, und gaben im stillen und später dann öffentlich dem Manne recht, dessen Hauptsatz lautete: er erkenne keinen Menschen, sondern Christum selbst für das Haupt der streitenden Kirche, und zwar auf Grund der heiligen Schrift. Unter denen, die mit gespanntester Aufmerksamkeit den Streit verfolgten und kein Auge von den Disputatoren verwandten, befand sich auch ein noch sehr junger Mensch, etwa im Alter unserer Konfirmanden. Es diente ihm aber auch die Disputation zur Konfirmation. Ihm fing das Herz an zu brennen unter Luthers flammenden Worten und die Augen gingen ihm vollends auf über die Mißstände der römischen Kirche. Auf nach Wittenberg, dem Herz der Reformation! - klang es in seiner Seele. Sein Sehnen ging in Erfüllung – und zwanzig Jahre später zieht der damalige Knabe, zum Manne gereift, mit den bewährtesten Vorkämpfern der Reformation in Leipzigs Mauern ein, um mit Hand anzulegen an die Einführung der Kirchenverbesserung in unserer Vaterstadt.

    Dieser Mann war Caspar Cruciger – Luthers Elisa, Melanchthons zweites Ich, des Mykonius Mitapostel, ein Kreuz- und Bannerträger Jesu Christi. Sein Bildnis wird wie das der anderen Reformatoren unserm Gotteshaus zur Zierde gereichen. Aus den edlen Zügen seines Antlitzes spricht Klarheit und Klugheit, Kraft und Milde. Es ist das Bild eines Mannes, dessen Einfluß auf die Entwickelung der evangelischen Kirche hoch anzuschlagen und dessen Erscheinung eine der reinsten und mildesten aus der Reformationszeit ist. Was seinen Namen betrifft – Cruciger heißt ja Kreuzträger – so hat derselbe zu manchem sinnigen Wortspiel Veranlassung gegeben. Als der junge Cruciger im Jahre 1522 auf kurze Zeit in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, nannte ihn Melanchthon scherzweise einen Crucifigus, das heißt Kreuzflüchtigen. Als er später als Apostel Leipzigs den dortigen Papisten tapfer entgegentrat, nannte ihn Luther den Crucifixor oder Kreuziger.

    Er hat aber nicht bloß Cruciger geheißen, sondern sein Leben zeigt, daß er ein rechter Kreuz- und Bannerträger Jesu Christi gewesen ist. Christi Kreuz war sein Panier.

    Caspar Cruciger ist also ein Leipziger Kind und wurde in den ersten Morgenstunden des 1. Januar 1504 geboren – gerade 20 Jahre später als ein anderer Reformator, Zwingli. Die Cruciger waren ein altes, aus Mähren stammendes Geschlecht, das von da nach Böhmen eingewandert, aber zu Zeiten der Hussitenkriege nach Sachsen geflüchtet war. Von seinem Vater wissen wir, daß er ein gachteter, nicht unbemittelter Bürger Leipzigs war, von Zorn erfüllt gegen Roms Tyrannei und mit Mut angethan, um der Wahrheit willen zu leiden. Er ist im Hause seines Sohnes in Wittenberg gestorben, bei welcher der Rektor der Universität dem Toten den ehrenvollen Nachruf widmete, er habe in der Erkenntnis Gottes und Anrufung seines Sohnes gelebt und sich sterbend ihm befohlen. Seiner frommen Mutter gedenkt der Sohn noch in späteren Jahren mit der innigsten Liebe; weil sie ihm schon eine tiefe Liebe zur Wissenschaft und echten Frömmigkeit eingepflanzt hatte. Mit derselben Liebe, mit welcher er dem Elternhause anhing, blieb er auch seiner Vaterstadt zugethan.

    „Leipzig" - pflegte er zu sprechen - „ist eine Stadt, wo Wissenschaft und Künste blühen, wo ausgezeichnete Gelehrte in großer Menge sich aufhalten und studierende Jünglinge reiche Nahrung für ihren Geist finden können." Caspar war als Kind still und träumerisch und fand wenig Gefallen an den munteren Spielen gleichaltriger Genossen, so daß die Eltern glaubten, es fehle ihm an geistigen Anlagen. Zu ihrem freudigen Erstaunen machte er aber schnelle Fortschritte, so daß sie den erst 12jährigen auf die Universität gaben. Auch hier hatte er ausgezeichnete Lehrer, die sich für den fleißigen und begabten Knaben interessierten. Nach der Geistesrichtung, welche unserm Caspar durch Erziehung und Unterricht zu teil geworden, war es am Ende natürlich, daß das edle Herz des nach Wahrheit verlangenden Jünglings dem neuen Licht des lauteren Evangeliums sich zuwandte. Welch ein greller Widerspruch zwischen der Gottesverehrung, der Luther sein Wort lieh, und dem religiösem Leben, das damals in Leipzig herrschte! Tetzel, leider auch ein Sohn unserer Stadt, hatte mit seinem Ablaß gerade in der Stadt, in welcher Crucigers Kindheit und Jugend dahinfloß, die besten Geschäfte gemacht.

    Im Sommer 1521 brach in Leipzig die Pest aus. Diesen Anlaß benutzten Crucigers Eltern, um sich ohne Aufsehen nach Wittenberg zu flüchten. Melanchthon, dem Luther die Pflege der Jugend übertragen, gewann den jungen Studenten sehr lieb und nahm sich seiner freundschaftlich an. Mit ihm harmonierte er am meisten vermöge seiner natürlichen Begabung. Nie zog auch nur der leiseste Schatten über ihr Freundschaftsverhältnis. Unter des Freundes Anleitung legte er sich nun auf das Studium der Bibel und ihrer beiden Grundsprachen. Im Jahre 1524 erlangte der 20 jährige Jüngling die Magisterwürde und bald darauf wurde ihm auf Luthers Vorschlag ein wichtiges Schulamt in einer Stadt übertragen, die ehedem ein gewaltiges Bollwerk des Papsttums gewesen, dann aber ein fester Hort der Reformation geworden ist: in Magdeburg. Dort hat er auch jeden Sonntag gepredigt und das Volk strömte in die Kirche und erquickte sich an der Klarheit und Wärme seines Vortrages. Unter steter Bedrohung von seiten des Erzbischofs und einer papistischen Oberbehörde hat er hier drei Jahre lang tapfer ausgehalten und mit reichem Segen sein Doppelamt verwaltet. Die Wittenberger Freunde bedurften aber seiner und sehnten sich nach ihm. Die dortige Universität stand damals in der höchsten Blüte, die Zahl der Studenten war sehr groß und die Arbeitskräfte reichten nicht aus. Insbesondere fehlte es an Lehrern der Theologie. Infolge pfarramtlicher Geschäfte und allgemein kirchlicher Angelegenheiten war es die Ausnahme, wenn die theologische Fakultät einmal vollständig besetzt war. Zunächst hat nun der junge Mitarbeiter in der Theologie Vorlesungen über philosophische Gegenstände gehalten. Aber bald wendete er sich zu der Erklärung der heiligen Schrift alten und neuen Testaments, hier die Aufgabe erkennend, welche seiner eigentümlichen Begabung am meisten entsprach. Mit diesen Vorlesungen verband er aber auch eine eingehende Besprechung der einzelnen Glaubenslehren.

    Mit großer Entschiedenheit vertritt Cruciger den protestantischen Standpunkt, daß Gottes Wort Regel und Richtschnur des Glaubens und Lebens ist, und wenn er auch in der Rechtfertigungs- und in der Abendmahlslehre den Anschauungen Melanchthons huldigt, so werden wir darum nicht geringer von ihm zu denken.

    Noch verdient hervorgehoben zu werden als kein geringes Verdienst, daß der gefeierte Mann, der in hohem Grade die Geschicklichkeit des Schnellschreibens besaß, viele Predigten Luthers nachgeschrieben und zum Druck bereitet hat, und daß er ihm bei der Bibelübersetzung treulich geholfen, wobei ihm seine Kenntnis der Medizin und Naturwissenschaften und seine hervorragende Beherrschung des Hebräischen trefflich zu statten kam.

    Uns Leipziger interessiert vor allem der Einfluß, den er auf die Durchführung der Reformation in den sächsischen Ländern, namentlich in seiner Vaterstadt geübt hat. Das war für unsern Cruciger eine besondere Freude, seiner Vaterstadt als Apostel Christi zu dienen. Neben Luther und Melanchthon wurden Jonas, Mykonius und Cruciger zur Durchführung der Reformation nach Leipzig berufen. Luther reiste bald wieder ab, Cruciger und Mykonius aber blieben zurück, das angefangene Werk zu vollenden.

    Hier hatten sie noch manchen heißen Kampf zu bestehen, denn während die Bürgerschaft im großen und ganzen der Reformation anhing, traten ihnen die rohen Mönche und die meisten Lehrer der Universität feindselig entgegen. Da kam der 20. Juni. An diesem Tage hat es im großen Auditorium der Universität eine lebhafte Disputation gegeben zwischen den Wittenberger Theologen und den Leipziger Doktoren und Mönchen über Taufe und Abendmahl und ähnliches. Über acht Stunden stritten die beiden Apostel Leipzigs gegen die ihnen an Zahl weit überlegenen Gegner. Aber dem Geiste, aus dem sie redeten, vermochten jene nicht zu widerstehen. Unser Cruciger predigte abwechselnd mit Mykonius an jedem Sonntag in der Nikolaikirche und ordnete an, daß sofort nach Luthers Katechismus in den Schulen gelehrt werden solle und wöchentlich in der Kirche sogenannte Katechismusexamina zu halten seien. Wohl gab es bei der Visitation, die bald vorgenommen wurde, noch manche unerquickliche Auftritte und harte Kämpfe. „Ich bin Gott", schrieb Melanchthon, „und unsern Herrn Christum, daß er Eure Kämpfe und Gefahren leite und Euch behüte."

    Die Leipziger hätten gern Cruciger auf immer behalten, denn er hatte sich bei ihnen ein großes Ansehen erworben, aber Luther gab diesen „Fürbund in die Theologie, auf den er es nach seinem Tode gesetzt" nicht her. Der Kurfürst schlug zweimal den Leipzigern auf Luthers Rat die Bitte ab. Doch gestattete er, daß das Apostelpaar noch einige Zeit abwechselnd in Leipzig bleiben sollte, bis die Pfarrstellen besetzt wären. Am 21. März 1540 konnte Cruciger an Mykonius schreiben, daß die neugepflanzte Gemeinde sich zufrieden entwickle und das Volk zahlreich zur Predigt und Abendmahlsfeiern sich einfinde. Nachdem zu dieser Zeit Johann Pfeffinger „Superrattendent" geworden, konnte sich Cruciger vom Dienste dieser ihm so teuren Gemeinde zurückziehen und nach längerer Abwesenheit in Wittenberg im Kreise seiner Familie leben. Jetzt nahm er seine Vorlesungen wieder auf.

    Der Natur und den Wünschen Crucigers hätte ein wissenschaftliches Stillleben am meisten entsprochen. Sein Emblem war die Taube mit dem Ölblatt. Aber er, der bereits des Tages Last und Hitze getragen und manchen schweren Gang gethan, sollte nicht einmal einen stillen Feierabend genießen. Sein Lebensabend war geradezu eine Zeit des Kampfes bis aufs Blut. Nicht nur, daß er von Jugend auf eine schwächliche Gesundheit gehabt und späterhin auch mit beständiger Kränklichkeit geplagte war, nicht nur, daß jahrzehntelang eine große Arbeitslast auf seinen Schultern gelegen, auch die unausgesetzten gemütlichen und geistigen Erregungen, welche die Ereignisse der Zeit mit sich brachten, wurden immer größer. In seinen beiden letzten Lebensjahren heißt der Herr der Kreuzträger das Kreuz auf sich nehmen. Nach Luthers Tod begann für ihn die schwerste Zeit seines Lebens. Er mußte, wie schon früher einmal, das Rektorat verwalten in ernster, schwerer Zeit. Noch an Luthers Leiche hatte er es als seine und seiner Genossen Aufgabe bezeichnet, den reinen Verstand christlicher Lehre unverdunkelt auf die Nachkommen zu vererben. Welch eine schwierige und verwickelte Aufgabe war das! Welch eine Verantwortung lastete auf den Gewissen dieser Männer! Wie schwer gerade damals die Erfüllung des Gebotes: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist!" Die Leiden des Schmalkaldischen Krieges brachen herein, die Furie des Religionskrieges brach los. Kaiser Karls V. Feindselige Gesinnung trat immer offener zu Tage.

    Während der Belagerung Wittenbergs war Cruciger ein treuer Hirt und Tröster der Gemeinde. Die Studenten wurden entlassen; die Universität war aufgelöst. Unter heißen Thränen sahen die Reformatoren ihren Fürsten vom Schloß Wittenberg abziehen. Als denn nach der unglücklichen Schlacht bei Mühlberg am 4. April 1547 der neue Kurfürst die Wiederherstellung der Universität wünschte und die Rückkehr ihrer Lehrer, da war es Cruciger, der Sorge trug, daß die Vorlesungen wieder aufgenommen wurden.

    Von August 1548 an lag der teure Gottesmann so schwer darnieder, daß man an seiner Genesung zweifelte. Am 16. September schrieb Melanchthon an Veit Dietrich: „Crucigern scheint Gott dem traurigen Schauspiel der kirchlichen Zerwürfnisse entreißen zu wollen, denn seine Entkräftung verschlimmert sich zusehends." Aber ob er auch dem Leibe nach immer schwächer wurde, die Geisteskraft blieb bis zum letzten Atemzug frisch. Mit der größten Geduld trug er seine Schmerzen und, obwohl er über drei Monate hoffnungslos danieder lag, hörte seine Umgebung doch nie ein Wort der Ungeduld oder des Murrens über seine Lippen kommen, sondern das war sein Gebet: „Herr, erbarme dich meiner und vergieb mir alle meine Sünden wegen Jesu Christi, deines Sohnes, der für uns gekreuzigt und gestorben ist." Tiefgebeugten Herzens umstanden die Seinen das Sterbelager des teuren Familienhauptes. Viel machte er sich noch mit seinen Kindern zu schaffen, die er herzlich liebte und von Jugend an auf zu dem Herrn Jesu, dem großen Kinderfreund, führte. Alle seine Gespräche waren vorzugsweise auf das Jenseits gerichtet. In der Hoffnung, eines baldigen Eintritts in die himmliche Kirche, sah er ohne Grauen dem Tode Aug in Auge. In der Nacht vor seinem Tode wurde er durch einen Traum sehr beunruhigt. Sein Sohn Caspar und Johannes Bavarus, welche des Nachts an seinem Lager wachten, erzählen, er habe wie in heftigem Zorn mit den Zähnen geknirscht und mit dem Haupt geschüttelt, wie einer, der ein unwürdiges Ansinnen entrüstet zurückweist. Als ihn am anderen Morgen der Pfarrherr Fröschel besuchte, sprach er: „O, Magister Fröschel, wie eine schreckliche, grausame Disputatio habe ich heut im Traum gehabt!" und nachdem er ein wenig aufgeatmet hatte, fortfahrend: „Sie wollten mich überreden und darüber absolvieren, es sollte keine Not haben und mir nicht schaden. Aber ich habe widersprochen, das versichere ich." Auch auf dem Sterbebett und mitten unter den Schrecken des herannahenden Todes ein Mann, der nichts wider die Wahrheit kann, ein Kreuz- und Bannerträger Jesu Christi. Seine letzten Worte nach erbetener und erteilter Absolution lauteten: „Vater, heilige sie in deiner Wahrheit, mache, daß sie eins werden in uns!" Dann noch ein leises Amen und Caspar Cruciger übergab seinen Geist in die Hände seines himmlichen Vaters. Der Kreuzträger wurde zum Palmenträger.

    Am 16. November 1548 ist Cruciger aus dem Leben geschieden, und am 19. November wurde seine Leiche neben Luthers Gebeinen beigesetzt in der Schloßkirche, in welcher er so viele heilsame Predigten von den Wohlthaten Christi gehalten. Bugenhagen hielt dem geschiedenen Freund, dem Kreuz- und Bannerträger Jesu Christi, die Leichenpredigt über das Pauluswort vom guten Kampf. „Mit ihm habe ich die Hälfte meiner selbst verloren", klagte Melanchthon. Ein Jahr später setzte er seinem unvergeßlichen Freunde ein schönes Denkmal in einer Gedächtnisrede, an deren Schluß es heißt: „Danken wir Gott, daß er uns einen solchen Kollegen und Doktor geschenkt hat". - Danken auch wir dem Herrn der Kirche, daß er neben Luther einen Melanchthon, neben Mykonius einen Cruciger gestellt hat; daß wir solch edle Kreuz- und Bannerträger Jesu Christi haben, uns hinzuleiten zu dem heiligen Dulder und großen Kreuzträger Jesu Christi, dem Anfänger und Vollender unseres Glaubens. Eine Kirche, die kein Gedächtnis bewahrt für ihre Zeugen, hat sicherlich die Zeugenkraft selbst verloren. Aber nicht nur die Männer feiern wir, wir danken nur für die Gnade, die Gott an uns durch solche Rüstzeuge gethan.

    (Diesen Beitrag verfaßte Max Pescheck im Jahre 1894).

    Hierzu noch ein Foto von Rudolf Brauneis (Dresden), als Wünschmanns Hof noch nicht existierte.


    (gelaufen nach Wien, Stempel undeutlich, vermutlich 1903)

  • Der 18. November

    ist nicht nur der Todestag von Gustav Theodor Fechner, der sich heute zum 130. Male jährt und dessen Pseudonym hier weiterverwendet wird, weil er sich Leipziger Themen stellte und satirische wie ernste und hintersinnige bzw. auch heute und künftig nachdenkenswerte Beiträge verfaßte, sondern auch ein Geburtstag.

    Es ist der Geburtstag der Matthäikirche.

    Daß dieser derzeit kaum bekannt ist, weil zwei deutsche Diktaturen ihr arg zusetzten, mag nicht stören.

    Denn es gibt erstaunliche historische Parallelen, wie man in Leipzig schon einmal die Zwangsjacke abstreifen mußte und wie auch die Matthäikirche wie Phönix aus der Asche neu erstand.

    Aus diesem Anlaß hier erst einmal der Text zur Geschichte der Matthäikirche von Pastor D. Paul Kaiser.


    I.

    DieGeschichte der Matthäikirche.

    VonPastor D. Paul Kaiser

    Nichtbloß als einzelne Personen sind wir da mit unserm Denken undErinnern. DasMenschengeschlecht ist auch ein Ganzes und muß den Zusammenhangnicht vergessen mit sich selbst und das Nachdenken über sich selber.Das nennen wir Geschichte. - Aus der Geschichte unserer Matthäikirchewähle ich jetzt das Wichtigste aus vier Jahrhunderten und beginne.

    Mancherliebe Leser wird dieses Zeichen gar nicht kennen und denkt am Ende,es sei hebräisch und aus dem Alten Testament oder syrisch oder einegyptischer Hieroglyph. Aber an dieser Zahl – denn eine solche istes – sind die lieben Gemeindemitglieder schon hundertmalvorübergegangen, ohne sie vielleicht zu sehen. Man muß freilichdazu nicht bloß ein Paar offene, sondern auch gute Augen haben;sonst sieht man sie nicht. Denn die Gasse, in der sie steht, ist eng,und das Himmelslicht darüber ein ebenso schmaler Streifen. Auchsteht die Zahl etwas hoch an einem Pfeiler unserer Kirche. Aber wergute Augen hat, den bitte ich, einmal an die nordwestliche Ecke desGotteshauses hinzutreten und nach der Zahlenschrift auszuschauen.Dieselbe ist nämlich der Geburtsschein unsrer Matthäikirche. Denhaben alte Hände da oben angeschrieben und mit eisernen Zahlen inden Stein gesetzt. Warum? Damit er ja festsitze auch noch nach vielenhundert Jahren und nicht vom Regen ausgelöscht werde wie Leimfarbeoder Kalk – kurz, damit die nachkommenden Geschlechter darandächten, wenn wieder ein Jahrhundert um ist, und Gott für alleGnade dankten und bäten um ein Jahrhundert voll neuen Segens. Wirwollen auch die Erwartung der guten Leute nicht täuschen und zuschanden machen. Die Zahl ist heute unmodern; denn die Hände, diedas geschrieben oder geschmiedet haben, sind längst verfallen zuStaub. Die Jahreszahl ist: 1494. Sie ist soeben vergoldet worden,damit man sie besser sehe, und daß unsere Kirche als Jubilarin aucheinen goldenen Kranz bekomme wie zu einem goldenen Hochzeitsfest.Vierhundert Jahre sind also an unserem lieben Gotteshausevorbeigegangen.

    VierhundertJahre sind eine lange Gedenkzeit. Man könnte aus ihnen eine großeErzählung machen und Altes und Neues darin vorbringen; und zwar mehrAltes als Neues. Das Neue haben wir erlebt, und ´s ist auch nichtgar viel. Das Alte aber, welches wir nicht erlebten, haben manchenicht gehört oder wiederum vergessen. Altes, das man vergaß, ist sogut wie Neues, das man vernimmt. So wird auch das Alte für manchenwie neu sein.

    Wievieles hat sich um diese alten vierhundertjährigen Kirchenmauernnicht zugetragen, drinnen und draußen! Zudem ist vieles dabei, wassich nun und nimmer schreiben läßt, und nur im Himmel geschriebensteht. Die Geschichte der Herzen, die zwischen diesen Kirchenwändengeschlagen haben, froh und bang, und die hier erfüllt wurden mitGeist und Trost von obenher, wird erst droben offenbar.

    DasJauchzen und Seufzen, Danken und Bitten der Alten ist verstummt, aberimmer wieder geht ein Geschlecht durch dieselben Hallen und Thore desGotteshauses, und es ist gut und hat am Ende auch einen stillenSegen, wenn die gegenwärtige Zeit sich wieder einmal sinnend an denalten Denkpfeiler stellt und sich erinnert an die vergangenen Tage.

    2.Bei den Barfüßern.
    Beidiesem Kapitel muß ich etwas weiter vorn anfangen, als mit dem Jahrean dem Denkpfeiler. Denn die kirchliche Niederlassung am Neukirchhof,wie er noch immer heißt, aber hoffentlich nicht beständig heißenwird, weil das wenig Berechtigung mehr hat, ist älter als diegegenwärtige Kirche. Man glaubt etwa 200 Jahre. Ganz genau wissenwir es nicht. Denn vor 6 Jahrhunderten schrieb und druckte man nochnicht so viel wie heut. Auch sollten die gedruckten Buchstaben,welche vor nicht zu langer Zeit auch ihr vierhundertjähriges Daseingefeiert haben, noch erfunden werden.

    Umdie Mitte des dreizehnten Jahrhunderts war es, als seltsame Leutedurch die Thore unserer guten Stadt herein kamen. Heute muß manschon eine Reise machen, um solche Gestalten noch zu sehen; denn ausunserem Land sind sie wieder verschwunden und werden wohl auch kaumwiederkommen wie die Jesuiten. Sie fuhren nicht in Droschken heranund gingen auf der Landstraße, auf der sie her pilgerten, nichteinmal in Schuhen. Auch reiten durften sie nicht wie einmal ein alterPfarrherr trotz der dringlichen Mahnung seines fürstlichen Patronsauch nicht reiten wollte, weil ja geschrieben stünde; G e h e t hin(und nicht reitet) in alle Welt. Diese Leute gingen nämlich barfußihr lebenlang. Es waren Barfüßer. Eine Mühle und Gasse trägt nochheute bei uns ihren Namen. Warum sollten denn die Leute barfußgehen? Besonders im Winter hat das doch gewiß nicht zu denAnnehmlichkeiten gehört. Es war eine wörtliche Befolgung des WortesJesu, mit dem er die Jünger aussendete, und worin er sie anwies,keine Schuhe an den Füßen zu tragen, wie sie kein Gold noch Silberhaben sollten in ihren Gürteln. Das glaubten diese Mönche auf sichbuchstäblich anwenden zu müssen. Auch in ihren Kleidern machtendarum die Barfüßer keinerlei Aufwand und gingen alle gleich, wieheute ein Regiment Soldaten. Nur waren sie nicht so bunt, sonderntrugen nur eine dunkle Kutte mit einer Kapuze dran. An diesemKleidungsstück konnte kein Schneider etwas verpassen. Ein Strick umden Leib war der Gurt, welcher zur Befestigung der langenMönchskleider diente. So gingen sie der Demut und freiwilligen Armutwegen, in der sie wandeln sollten auf Erden.

    DieseBarfüßer waren Franziskaner – ein Orden, welchen ein reicherKaufmannssohn Franciscus gegründet hatte. Seinen Reichtum gab erweg, wie der reiche Jüngling sollte, aber nicht that. Er bettelte zuseinem Lebensunterhalt und führte von seinen Almosen ein ganzärmliches Leben. Er ging mit Aussätzigen um und küßte sogar ihreGeschwüre. Die einen hielten ihn für unsinnig, die andern fürheilig. Seine zärtliche Mutter lief ihm in die Einöde nach, in derer als Einsiedler lebte, und flehte ihn an, er möge zurückkehren indie Welt und einen ordentlichen Lebensberuf erwählen, aber die innigflehende Mutter mußte ohne den Sohn umkehren. Sein Vater verfluchteihn und wollte ihm seinen Vatersegen nicht erteilen, er aber spracheinen Bettler an, ob er nicht wolle sein Vater sein, und dieser Vatersegnete ihn. Sich selbst hielt er nicht für heilig, sondern für dengrößten Sünder. In seinen Reden an das Volk redete er nicht bloßseine Zuhörer an, sondern wandte sich auch an Engel und Teufel.Kurz, es war nach unserer heutigen Anschauung ein ganz absonderlicherMann, dessen Jünger in unserem Kloster wohnten. Freilich ganz wieihr Meister waren sie nicht. Eigentlich wollte der Papst damals keineMönchsorden mehr bestätigen; denn er meinte, es gäbe davon genug.Aber endlich hat er doch nachgegeben.

    DenBettelmönchen, unseren Barfüßern, waren an dem Ort, an dem sichbald ihr Kloster erhob, die Überreste einer Burg geschenkt worden.Die war nicht alt und von der Zeit zerstört gewesen wie sonstRuinen, sondern mit Gewalt niedergerissen worden, wie sie auch mitGewalt nicht gar viele Jahre vorher erbaut war. Sie sollte nämlicheine Art Zwangsjacke sein, in welche Markgraf Dietrich von Sachsendie gute freie Stadt Leipzig gezwängt hatte; denn sie war eineZwingburg, von welcher aus er der Stadt die schöne freieSelbständigkeit dauernd nehmen wollte. Aber nach des Markgrafen Todesollte die Sache anders kommen. Zwischen Dietrichs Witwe und demVormund seines unmündigen Sohnes herrschte Eifersucht und Streit. Wozwei sich streiten, hat oft ein dritter den Vorteil. Dieser Drittewar diesmal unsere liebe Stadt. Der Vormund Ludwig von Thüringenließ die Zwingburg am Ranstädter Thore (in Leipzig gab es derendrei) wieder abbrechen, weil die Witwe Dietrichs dieselbe mit ihrenAnhängern besetzte. Oft hat man aus einer Kriegskanone eineKirchenglocke gegossen, so wurde hier aus einer Zwingburg einKloster. Die Franziskaner-Barfüßer bekamen den Ort; es sollte andieser Stätte des Zwanges und Krieges nun für immer heißen:„Friede auf Erden!“

    Werdie an die Kirche grenzenden Häuser besucht, sieht in denErdgeschossen noch die alten Klosterbogen, in denen vor Zeiten diebarfüßigen Mönche wohnten. Heute befinden sich Schlosserei undKohlenhandlung und Kaufgeschäfte in denselben Räumen, in denen maneinst fastete und betete und manches Klostergut unterbrachte. Zuerstwaren die Klosterleute arm und blieben es wie der heilige Franciscus.Aber bald fanden die frommen Bettler doch einen Ausweg aus derlästigen Armut und sagten, wenn sie selbst kein Geld und Gut habendürften, so könnte es doch wohl das Kloster besitzen. DieKlosterkeller waren kühl und der Wein darin gut. Die Klosterküchelieferte manchen Braten; davon durften sie essen, wenn sie nichtFasttag hatten. Sie waren die armen Kinder eines reichen Hauses. Denndas Messelesen war damals einträglicher als das Predigen heutzutag.Die Mönche ließen das Kloster von wohlhabenden Leipziger Bürgernzu Erben einsetzen und versprachen, dafür auch nach dem Tode vieleMessen für die Verstorbenen halten zu wollen. Das war so zu sageneine Art Lebensversicherung, nämlich eine Versicherung des ewigenLebens. Die streng katholische Zeit glaubte fest an die seligmachendeWirksamkeit der guten Mönche. Dieselben hielten auch dieLeichenbegängnisse, und mancher Tote wurde in den Gewölben derKlosterkirche zur Ruhe gebettet, was als eine große vornehmeWohlthat angesehen wurde. Die frommen Brüder kamen sogar bald in denBesitz vieler Grundstücke, wußten dieselben wohl zu verwalten underrichteten auch außerhalb der Stadt, wie eifrige Geschäftsleute,ihre Filialen, eigene Häuser, die sogenannten Termineien. Ja auchdas schöne Rosenthal wurde das Eigentum der Barfüßer. Denn auchFürsten wollten nach dem Tode ihre Seelenmessen haben und bezahltensie vorweg und zwar fürstlich. So gaben die Markgrafen Friedrich,Wilhelm und Balthasar im Jahr 1380, wie eine Urkunde in unseremRatsarchiv deutlich nachweist, für Messen „zu gewissen Zeiten“unserem Kloster das Rosenthal. Und auch für die Burggrafen vonNürnberg übernahm man solche geistliche höchst einträglicheAmtshandlungen.

    Daaber fuhr ein rechter Schrecken wie ein trennender Messerstich durchdas Mönchsgewissen. Es waren Kirchentage gehalten worden, auf deneneine Verbesserung der Kirche verlangt worden war. Es waren auchOrdensleute aufgetreten, welchen den Klöstern ihren Reichtum mitgewaltigen Worten vorgehalten und die Rückkehr zur unbedingten Armutdes heiligen Franciscus und seiner ersten Jünger gepredigt hatten.Solch ein ernster mächtiger Prediger war der Barfüßermönch Johannvon Chioli, welcher 1452 auch nach Leipzig kam und von derBürgerschaft und der ganzen Klerisei in großer Prozession mitFahnen und Kreuzen eingeholt und in unser Kloster geleitet wurde. DemVolke predigte er auf dem Markt, und die Leipziger Bürger und ihreFrauen standen in Scharen vor diesem Barfüßer Johannes, ähnlichwie vor Zeiten das Volk vor dem Täufer Johannes oder wie die Leutevor dem Apostel Petrus bei der Pfingstpredigt, welche von der Predigtbewegt, fragten: „Was sollen wir thun?“ Und der Bußpredigersagte ihnen streng und deutlich, was sie sollten. Und er verlangtedie Karten und Würfel der Männer, mit denen damals viel gespieltwurde, und verlangte die Schleier und Spitzen der Frauen und ähnlicheDinge. Das wurde dann immer auf einen Haufen gethan und verbrannt,wie man Unkraut verbrennt auf einem Ackerfeld. Er wollte alleEitelkeit weg haben. Im Kloster aber blieb er dreißig Tage, und wenner von den Bürgern vieles verlangte, so verlangte er von den Mönchennoch viel mehr.

    Auchpries er das enthaltsame Klosterleben mit seinem beredten Mund alsein so herrliches, daß an einem Tage, wie es in einem Berichtdarüber heißt, sechzig Akademiker der Welt entsagten und die Kutteder Barfüßer angezogen haben.

    Solcheund ähnliche Anläufe gegen die Verweltlichung und den Besitz desOrdens verfehlten ihre Wirkung nicht, und man glaubte im Ordenselber, es könne nichts schaden, etwas von dem Reichtum abzulegen,und es werde dem Kloster nützen wie einem sehr vollblüthigenMenschen ein Aderlaß. So entschlossen sich die Barfüßer sogar, ihrschönes Rosenthal dem Rat der Stadt zu schenken; der steht somit ineiner alten Ehrenschuld zu ihnen und soll an unserem Jubeltage daranerinnert werden. Wenn das reiche Geschenk auch später einmal in dieHände des Landesherrn überging, so ist doch die Gabe der Barfüßernicht weniger zu ehren.

    Abernicht alle Franziskaner waren mit solchen und ähnlichen Vorgängenzufrieden. Es bildeten sich in dem ganzen Orden zwei Richtungen, einestrenge, welche ganz arm sein wollte, und eine milde, welche denKlosterherren mehr Besitz und Genuß erlaubte. Ohne Streit ist es inund außer den Klöstern dabei nicht abgegangen. In Leipzig kam esendlich dahin, daß die leichtfertigeren Mönche ganz aus dem Klostervertrieben wurden.

    Umdiese Zeit vollzog sich vor vierhundert Jahren die Gründung unsererKirche. Was die Barfüßer vorher für ein Gotteshäuslein gehabthaben, wissen wir nicht recht. Aber jetzt beschloß man einestattliche Kirche zu bauen, und die Klosterbewohner hatten dasBaugeld im Sack, ohne erst mit Steuern sich abzugeben und häßlichenFehlbeträgen. Man wollte den Dominikanern nicht nachstehen, welchedie jetzige Pauliner Kirche gebaut hatten. Acht Altäre zierten dasneue Gotteshaus.

    DiePriester der Stadt sahen die ausgedehnte Wirksamkeit der Mönche,welche wie sie, Beichte hielten, Messe lasen, Tote begruben, nichtgerade gern, und mancher Wettstreit entstand um die geistlichenVerrichtungen. Das Volk aber schätzte die Wirksamkeit der Mönche,und viele Bürger sahen es für eine Ehre und ein Glück an, in diegeistliche Brüderschaft aufgenommen zu werden. Dabei verblieben dieLaien zwar in ihrem Stande, aber waren doch dem Kloster nicht bloßsehr zugethan, sondern, so zu sagen, mit dem geistlichen Hauseverwandt.
    3.Wüst und verfallen.

    UnsereKirche war erbaut worden am Rande der alten Zeit, und ein Neuesbereitete sich vor. Das Geschick der neuen Klosterkirche war jetztdas des Klosters, und sehr lange haben die Barfüßer zwischen denhohen Pfeilern und an den schönen Altären ihre geistlichenVerrichtungen nicht mehr halten können. Es war ein gewaltiger Sturmdurchs Land gebraust, der manches Kloster umgestoßen hat in unseremdeutschen Land und in der ganzen Christenheit. Aber es war einFrühlingssturm, der die dürren Zweige wegnimmt von den hohen Bäumenwie ein Gärtner, und das alte stehengebliebene Laub herunterweht vonden Ästen. Das war die Reformation, welche die ganze Kircheverbesserte und die verdorbene Luft reinigte und einen fruchtbarenRegen aufs dürre Land goß. Eine Nachtigall hatte hell zu singenangefangen im Dunkel und in der Dämmerung, die „WittenbergerNachtigall“, nämlich unser Luther. Wer wüßte nicht davon, wieunser Reformator Dr. Martin Luther auch nach Leipzig kam und hierdisputierte und predigte, und wie die Leute, welche nicht mehr in dieKirche hinein konnten, mit Leitern an die zerbrochenenFensterscheiben stiegen, um ihn nur zu hören. Das ist ein Bild, dasich niemand zu zeigen brauche, so bekannt ist es. Und das weiß auchjedes Schulkind, wie der Herzog Georg von Sachsen ein gar heftigerGegner der Reformation gewesen ist und viel Gewalt angewendet hat, umdas helle Licht wieder unter den dunklen Scheffel zu bringen. Aberwas aus Gott ist, kann man nicht hindern noch dämpfen. Der Feind derneuen Lehre starb, und der Freund derselben stieg auf den Thron. Eskam für Leipzig das denkwürdige Pfingstfest 1539, an welchembekanntlich der neue Herzog Heinrich die Reformation in unserer Stadteinführen ließ.

    Wassagte man dazu im Kloster? So fest man die Klosterpforten vor dieser,wie man meinte, gar gefährlichen Neuerung zugehalten hatte, die neueLehre ist doch auch durch die Thüren gezogen wie ein frischer Wind.Auch in unserem Barfüßerkloster waren solche, die sich der Stimmeder Wahrheit, welche wie ein heller Posaunenton durchs Land ging,nicht verschlossen haben. Als der Franziskaner Fleck die ThesenLuthers gelesen hatte, rief er seinen Brüdern mit lachendem Mundezu: „Ha, ha, ha, der ist schon gekommen, welcher euch richtigtraktieren wird!“ Besonders lebte aber in unserem Kloster ein Mann,der sein besonderes Lebensbild in diesem Büchlein haben soll. Denndieser Barfüßer wurde, wie Justus Jonas ihn nannte, „ein rechternützlicher Apostel der Leipziger“. Er hat in einem unsererKirchenfenster, das sein Brustbild enthält, ein Ehrendenkmal inunserer Stadt erhalten. Das war Friedrich Mykonius, Luthers Freundund Mitreformer. Aber sonst war das Barfüßerkloster eine Burg deralten Anschauungen, und seine Bewohner glaubten es aufs eifrigsteverteidigen zu müssen gegen die eindringende Reformation. DieBarfüßermönche liefen wie eifrige Seelsorger in den Häusern umherund wollten die Leute abhalten, sich der neuen Lehre zuzuwenden. Ausunserem Kloster ging manche Streitschrift wider Luther in die Welt,und die scharfe Feder Luthers hat dagegen sich gewendet.

    Am6. August 1539 sah man ins Leipziger Rathaus viele in Kuttengekleidete Leute, mehr denn 50 Prediger und Mönche schreiten. Auchwar der ganze Rat versammelt, dazu die vom Herzog Heinrich bestelltenKirchen-Visitatoren und -Kommissarien. Da wurden denn die Ordensleuteeinfach verabschiedet.
    Wolltensie bleiben, so sollten sie ihre Kutte mit einem gewöhnlichen Rockvertauschen, „ein christliches Leben führen und ihren Unterhalterwerben“. Da zogen denn viele Mönche aus dem ketzerischen Leipzigweg wie die Schwalben, wenn es kühl wird im Herbst. Andere abernahmen die lutherische Lehre an. Noch andere trotzten dem Befehl derObrigkeit und blieben im Kloster wohnen; denn sie waren garverwachsen damit, wie eine Schnecke mit ihrem Häuslein. So ging esauch im Thomaskloster nebenan, doch half alles Sträuben nichts. Siestanden im Jahre darauf wieder vor dem eingesetzten Gericht underklärten, ihre Kapuze nicht ablegen und ihr Kloster nicht verlassenzu wollen. Erst im Jahre 1543 wichen sie der staatlichen Gewalt, undKloster und Kirche wurde von ihnen leer. Die verlassenenKlosterhäuser und -Güter fielen dem Landesherrn zu, der sie aberdem Rat der Stadt verkaufte.

    Esist schon oft dagewesen, daß ein Schuppen in Zeiten der Not zumGotteshaus gebraucht ward, aber hier gings umgekehrt. Hier wurde auseiner Kirche ein Schuppen, ein Warenhaus, eine Niederlage vonBlaufarben. Zum katholischen Gottesdienst war sie erbaut worden, aberder hatte aufgehört, und die Messen der Mönche hielt das Volk nachdem gewaltigen Umschwung der öffentlichen Meinung in derReformationszeit nicht mehr für nötig. So stand die Kirche da,ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen, dem Verfall preisgegeben, 156Jahre lang. Die angrenzenden Klostergebäude wurden vom Rat der Stadtan Privatpersonen verkauft. Die Unruhe einer schweren Zeit, der Sturmdes dreißigjährigen Krieges ging an dem verlassenen Gotteshausvorüber und versetzte ihm seine Stöße. Aus einem späterenKostenanschlag im Ratsarchiv können wir die damalige wüsteVerfassung der Kirche erkennen. Darin heißt es: „Die Gewölbe sindteils eingefallen, teils ganz böse, welches alles wieder gebessertund gemacht werden müßte.“ Aber immer reger wurde der Wunsch, dasverfallene Gotteshaus seinem ehemaligen Gebrauch zurückzugeben.Frommer evangelischer Bürgersinn brauchte ein neues Heiligtum. Wurdedoch trotz des Nachwachsens der Stadt regelmäßiger Gottesdienst nurin zwei Hauptkirchen gehalten, und kam es doch vor, daß, wie es indem an den Rat gerichteten Schreiben der Zünfte und Kaufmannschaftheißt, „ein großer Teil der Eingepfarrten und unter diesen vielefeine, angesehene, teils in öffentlichen Ämtern stehende Leute wieauch viele Fremde bei den Messen wegen Mangel an Raum und Stühlendie Sonntags-Predigten öfters unbesucht lassen mußten“. Daserfahre, so lesen wir in dem Bittgesuch an den Rat weiter, jederchristliche Hauswirt nicht ohne Betrübnis. Diesem Vorhaben, das ausder freien, frommen Liebe der kirchlichen Bürgerschaft hervorging,schenkte der Rat seinen Beifall.
    4.Die neue Kirche.

    Invielen ländlichen Gemeinden übernimmt ein Gutsbesitzer oder Bauerzum Kirchen- oder Schulbau in seinem Ort persönliche Dienste, gibtBausteine oder schafft den Vorspann. Manchmal ist er verpflichtetdazu. Wenn er es aber mit Freuden thut und nicht mit Seufzen, nichtbloß von Gesetzes wegen, sondern zu Gottes Ehre, und aus heiligerLiebe zu seinem Reich, so ist das von doppeltem Wert. So haben einstdie Kinder Israel nach der Heimkehr aus Babel selber teilgenommen amBau der Mauern Jerusalems. - Einen ähnlichen Eifer finden wir in derdamaligen Leipziger Bürgerschaft für den Bau unserer Kirche. DieMittel brachten die Leute zusammen, „ohne des Rates geringstenBeitrag“. Es fehlte an Gaben nicht, von den Backsteinen an bis zuden zahlreichen Geschenken zum inneren Kirchenschmuck. Die Leute,heißt es in der darüber in unserem Turmknopf befindlichenlateinischen Urkunde, haben das alles wetteifernd zusammengebracht,Männer und Frauen, Akademiker und Kaufleute. Da ist gleichsam diefromme Liebe mit in die Mauern und Bänke hineingebaut. Ob nichtsolch ein Gotteshaus dem Herrn am liebsten ist, zu dem so viel treueHände ganz freiwillig einen Baustein herzugetragen?

    DerKirchenbau wurde in fast einem Jahr beendet, und viele meiner liebenLeser kennen noch die alte „Neukirche“. Ein Bild des Innern (esgibt ein solches) brauche ich für viele nicht herzusetzen; denn siewaren darin zu Hause wie in ihrem eigenen Betkämmerlein. Da warenbesondere Kapellen hineingebaut oder Betstübchen für den Rat undmanche Leipziger Familie. Auch der Kurfürst Friedrich August derStarke hatte vom Rat eine Empore für sich und die fürstlichenPersonen, Minister und Bediente begehrt, die er in und außer denMeßzeiten betreten könnte. Der Rat der Stadt aber erwiderte, daßdie Kirche weder auf seinen Anlaß noch seine Kosten erbaut wäre,und daß er darum auch keine freie Hand habe, über die Kirchenplätzenach Gefallen zu verfügen. So erhielt auch die Kirche keinefürstlichen Kirchensitze.

    Esgibt eine Denkmünze, die zur Feier der Erneuerung geprägt wurde.Man sieht darauf den Vogel Phönix, der bekanntlich nach der Sage ausseiner eigenen Asche immer wieder aufersteht. Da haben die altensinnigen Leute für die wiederhergestellte Kirche ein gar passendesZeichen erwählt. Der Vogel sitzt auf einem brennendenScheiterhäuflein; weiter ist eine Kirche sichtbar mit einerlateinischen Schrift, die ich für die Gelehrten lateinisch (PULVEREDELITUI – TAMEN INDE RENASCENS – LUCE NITESCO NOVA – AEDES SAC.INSTAUR. LIPSIAE. 1699 24. Sept.), für die Nichtlateiner aber hierdeutlich hersetzen will:
    „Verborgenwar ich in der Asche – Aber daraus wieder erstehend – Strahle ichin neuem Licht – Das Gotteshaus ist erneuert Leipzig 1699 den 24.September.“

    AchtTage vorher wurde nach dem Kirchengebet in der Nikolaikirche folgendeAbkündigung verlesen, die ich ganz, wie sie lautete, herschreibe.Sie weicht wohl recht ab in Form und Sprache von unseren heutigenkirchlichen Bekanntmachungen und ist unmodern geworden wie ein altesKleid, aber es steckt darin ein frommer Geist, und die jetzigeGemeinde liest vielleicht gerne einmal eine Abkündigung, wie sieunsere Vorväter vor zweihundert Jahren vernommen haben.

    „EuerChristl. Liebe ist euch zu vermelden, wie daß E.E. Hochweiser Rathdie biß anhero sehr ruinirt gewesene und sogenannte Barfuß-Kirchebei verspührter Zunahme derer Bürger und Einwohner dieser Stadt,und auff dero geschehenes Ansuchen, auch vieler frommer Hertzendarauff gethanen ansehnlichen Beytrag, dergestalt renoviren und indergleichen Stand setzen lassen, daß hinführo der Gottesdienstdarinnen gehalten, Sonntags frühe und Nachmittags das Wort Gottesvorgetragen und gepredigt, Beichte gehört, und das heilige Nachtmahlhierauff dispensieret und ausgetheilet werden solle. Und wird derGottesdienst jedes mahl, der Zeit nach, wie bey denen beydenHauptkirchen gebräuchlich, angehen, zu welchem Ende denn bereitszweene Geistliche dahin verordnet, so voriges alles gebührendverrichten, der Anfang auch nächst-künfftigen Sonntag, als den XVInach Trinitatis darmit gemacht werden solle. Gott aber gebe seineGnad und Seegen, und bereite die Hertzen der Lehrer und Zuhörerdurch seinen Heiligen Geist, damit biß ans Ende der Welt, seinheilig und allein seeligmachendes Wort rein und lauter nach denenSchrifften derer Propheten und Aposteln und daraus gefaßetenAugspurgischen Confession, auch anderen Libris Symbolicis gelehret,niemals ohne sonderbahre Frucht gepredigt, deren Zuhörer Glaube anihren eigenen Heiland und Erlöser dadurch kräfftig gestärcket, vonihnen mit einem willigen gehorsamen Hertzen solches angenommen, undin dem beständigen festen Vorsatz ihr Leben nach denselbeneinzurichten und zu bessern darinnen behalten, tausendfältige Fruchtgebracht, endlich das Ende ihres Glaubens die ewige Seeligkeiterreichet, auch also keiner von ihnen verlohren werden möge um ihresund unsers einigen Erlösers JEsu CHristi willen, in Krafft desHeiligen Geistes. Amen.“

    Garfeierlich mag der Eröffnungsgottesdienst gewesen sein, der, wieberichtet wird, vor einer „unzählbaren Menge Volks“ gehaltenwurde. Da predigte der neuerwählte erste Prediger OberdiakonusSteinbach über das Evangelium des Sonntags, den Jüngling zu Nain.Das paßte auch gar wohl zu dem Vogel Phönix und der Kirche, diewieder auferstanden war.

    Nurein Ober- und Unterdiakonus amtierten an der Neuen Kirche, und einStudent war ihr erster Küster. Auch den Studierenden der Universitätwaren einige Bänke gegeben worden, und der Rektor derselben hattesie durch Anschlag ermahnt, diese Gunst anzuerkennen, mit den wenigenBänken zufrieden zu sein und keine anderen zu besetzen. Dabei hatteer nicht unterlassen, ihnen einzuschärfen, das Wort Gottes jaaufmerksam zu hören, für ihr Heil, für das Glück der Universität,Stadt und Kirche demütig zu Gott zu beten und ihr Leben nach dergöttlichen Richtschnur einzurichten.

    EinenTurm hatte die Kirche noch nicht. Den empfing sie erst vier Jahrespäter, im Jahre 1703, und damit war dem Bau der Neuen Kircheaufgesetzt. Ihr damaliges Bild steht hier vor unseren Augen.

    Hierwalteten nun treue Geistliche ein Jahrhundert lang ihres segensvollenAmtes.
    Wasein Seelsorger thut, das steht im Buche des Lebens und ist auf Erdennicht aufgeschrieben. Eine eigentliche bestimmte Gemeinde freilichgehörte zu der Kirche noch nicht; sie war eine Diakonenkirche, nureine Hilfskirche, an der kein Pfarrer stand. Aber gepredigt wurde inihr viel, vormittags und zur Vesper, Sonntags und auch zweimal jedeWoche alltags.
    Aberwieder sollten die kirchlichen Klänge verstummen. Böse Kriegszeitenbrachten sie zum Schweigen. Statt des Gesanges erfüllte Seufzen ihreRäume und manches stille Gebet aus dem gepreßten Herzen Gefangeneroder Verwundeter. Im Kriegsjahr 1806 wurden preußische Gefangenehier untergebracht, und das Gotteshaus wurde eine Kriegskaserne. Erstvier Jahre später konnte der Oberdiakonus Gräfenhain wieder dieerste Predigt in der Neukirche halten und wählte dazu den sehrpassenden Text Psalm 27, 4-6, der von beidem handelt, von Krieg undGottesdienst. Bald jedoch wurde das Gotteshaus wieder geräumt; dennnun trug man Verwundete herein aus der Völkerschlacht, und auchunsere Kirche war 1813 ein Lazarett. Nach drei Jahren konnten dieGottesdienste hier wieder veranstaltet werden. Im Jahre 1876 bekamdie Neukirche eine eigene Gemeinde und wurde Pfarr- undParochialkirche.
    5.Die Matthäikirche.

    Diesesletzte Kapitel kann das kürzeste sein. Denn was hier zu sagen ist,haben die meisten, welche dies lesen werden, selber erlebt. Vorvierzehn Jahren war`s, da hat die inzwischen altgewordene Kircheihren Namen „Neu-Kirche“ abgelegt und that im Grunde recht daran;sie war nicht mehr neu. Sie ward noch einmal umgetauft und zwar nachdem ersten Evangelisten in der Schrift genannt, dem Apostel Matthäus.Und wie der Name geändert ward, so ging`s auch mit ihr selbst. Eswar eine gründliche Umgestaltung, die sie erfuhr. Die altenBetstübchen wurden herausgenommen, die spätgotischen Formen wurdenhergestellt bis auf den Hauptturm hinauf und den Treppen- undNebenturm, welche beide statt ihrer runden Gestalt, spitzere Formenerhielten. Der Altarraum wurde hinzugebaut. Die Kirche wurdeerweitert.

    Abermanches Alte hatte doch noch verbleiben müssen, und es ging imInneren wie`s im Evangelium heißt: der neue Lappen hielt nicht aufdem alten Kleid. Die neuen Farben hielten nicht auf den alten Wänden.Altersgrau und verblichen sahen die Pfeiler und Wandflächen aus, undein langer tiefer Riß im Putz war wie eine klaffende Wunde. EineAbhilfe war dringend erforderlich und ließ sich nicht längerverschieben. Leider hat ein fünf Monate langer Bau und die Stätteder Sammlung und Erbauung verschlossen. Aber viele Hände haben sichaufgethan, um, was die vorigen Jahrhunderte nicht vollbracht, zuvollenden. In neuem Glanze strahlt unser Gotteshaus an seinemJubeltage.

    FreilichGlanz und Farbe, Turm und Kirche macht noch nicht die Gemeinde,gerade so wenig wie der Sonntagsrock den Christen macht. Es muß einfrommes christliches Herz hinein, und viele solcher schenke uns Gott!

    Mag der Text etwas auch lang sein für das Forum, so folgt noch wesentlich kürzer des Geburtstagsgeschenk für alle.

  • Zu einem Geburtstag gehört natürlich, daß jeder etwas geschenkt bekommt. Aus diesem Anlaß habe ich nun die kleine Publikation aufgeteilt, damit sich jeder ein passendes Stück nehmen, ausdrucken oder zugleich auch alles nutzen und weiterleiten kann.

    Die Unterteilung ist folgende:

    Teil I: Die Geschichte der Matthäikirche (10 Seiten mit Titelblatt, 422 KB)
    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/matthaeikirche.pdf

    Teil II: Friedrich Mykonius ( 4 Seiten, 151 KB)
    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/Mykonius.pdf

    Teil III: Caspar Cruciger ( 5 Seiten, 205 KB)
    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/cruciger.pdf

    Teil IV: Die kirchliche Vereins- und Liebestätigkeit in unserer Gemeinde ( 4 Seiten, 27 KB)
    http://www.paulinerkirche.org/tmp/matth/gemeinde.pdf

    In zwei Jahren gibt es nun folglich ein kleines Jubiläum: 525 Jahre Matthäikirche.

    Die Anregung, bis zu diesem Zeitpunkt die Fläche der Matthäikirche zu markieren, sollte wichtiger Schritt sein, damit dieser Ort wieder seine Bestimmung erhält. Der Slogan "Bach statt Mielke!" ist gesetzt. Und es ist in geschichtlicher Kontiuität ein Raum wieder zu erschaffen, in dem sowohl Gesänge der Mönche, Choräle, Bachs Werke, aber auch neue Werke erklingen. Ganz wie es bereits Diakonus Fritzsche 1894 formulierte: "Wir thun das nicht mit überladenem Putz und Prunk, was nicht evangelisch wäre, aber in sinnlicher, kirchlicher und erbaulicher Kunst."

    So ist auch der Geschichte am besten geholfen, indem nicht wieder irgendwelches Gelaber über Stasi & Co. zu hören ist, sondern Musiker und Künstler ihre Meisterschaft beweisen, gerade indem sie Kulturtradition leben und fortsetzen. Und es gibt genug - wie Armin Thalheim und Matthias Eisenberg -, die Bachs Erbe meisterlich pflegen, was ihnen die Stasi hier verweigerte.

    Aber auch jüngere Musikensembles und die Enkelgeneration hat hier ein Betätigungsfeld, was förmlich danach ruft, mit Freude und Andacht erorbert zu werden!

    Dies also als Glückwunsch zum Geburtstag der Matthäikirche.

    PS: Der erste Großsponsor erhält obiges Aquarell und jeder Cent, der als Spende eingeht, wird im Sinne der Publikation von 1894 verwendet.

  • Zum Buß- und Bettag, der ja in Sachsen Feiertag ist, hier noch mal eine Ansicht vor 1897:

    (gelaufen 18.9.1897 / 19.9.1897 in Leipzig)

    Links zu sehen der offene Pleißemühlgraben, Barfußmühle, dahinter Carieri und schön zu sehen die Feuerwache.
    Die Innenstadt dominiert bei dieser Ansicht entlang des Barfußberges in Richtung Rosental mit der Matthäikirche. Es hat noch etwas Organisches in der Beziehung vom Stadtkern über die Vorstadtbereiche zur umliegenden Natur. Damals hegte man keine Ambitionen, einen Fluß verlegen oder ein Hochhaus reinklotzen zu wollen, sondern es gab eine gewisse Ehrfurcht vor den Altvorderen und ihren Leistungen, weil sie sich meistens bei ihren Vorhaben etwas gedacht hatten ...

    Von der anderen Seite des Töpferplatzes in Richtung Fleischerplatz bot sich ebenfalls ein geschlossenes Bild:

    (gelaufen 5.2.1900 nach Dresden 6.2.1900)

    Die Töpferstraße mit dem Vorbau des Hotels Müller (an der rechten Ecke zum Barfußberg noch mit dem Atelier von Hermann Walter), wo die Matthäikirche quasi majestätisch herausragt. Diese Gebäudefront kann man bestimmt wieder schließen, auch reizvoll mit neuer Architektur. Vielleicht kann man auch die Verdichtung zugunsten der Matthäikirche etwas auflockern (Verschattung). Es sei denn, die Genossen im Leipziger Rathaus klammern sich weiter an die Bauten
    von SED und Stasi sowie an die von diesen vereinnahmte Feuerversicherung.

  • Bei Durchsicht meiner digitalisierten Altbestände fanden sich noch zwei Fotos aus dem Umbauungsbereich der Matthäikirche:

    Dies gehört noch zum Umbauungsbereich, der linksseitig mit den Neubebauungen entfernt wurde, während das folgende Foto zum direkten Matthäikirchhof gehört:

    Matthäikirchhof um 1880

    Mittig ist das schmalste Haus Leipzig zu sehen.

    Herr Hädicke, der dazu nachgeforscht hat, kann da bestimmt mehr dazu schreiben.

    Für heute abschließend nochmal die Ansicht vom Alten Theater zur Matthäikirche:

    Dies ist heute kaum vergleichbar, denn Leipziger Rathausambitionen mit den Verkehrsverbreiterungen für eine autogerechte Stadt, mit den Stasiknastbauten, wo vorgesehene "Tigerkäfige" noch eingebaut werden können, mit der gegen das Bürgervotum gerichteten Fehlverlegung der Pleiße und unattraktiven wie ökologiefeindlichen Hochhausplänen zur Stadtverschandelung sind immer noch Realität.