Vorgaben für den Zerstörungsgrad von Städten nach dem Zweiten Weltkrieg?

  • Es werden die Zerstörungen von Städten im WWII jeweils in % angegeben. Es stellt sich aber die Frage: Wie wurde das denn überhaupt bemessen? Gab es dafür einheitliche Vorgaben? Ab wann galt ein Gebäude als "zerstört"?

    Hintergrund: M.E. wurden hohe Zerstörungsgrade angegeben um den Abriss nur wenig beschädigter Gebäude zu rechtfertigen um großflächig etwas anderes errichten zu können.

  • Ich kenne historische Pläne, auf denen man eingetragen hat, wie stark jedes einzelne Gebäude einer bombardierten Stadt beschädigt war. Das wurde in mehreren Stufen definiert, ungefähr so:
    - unbeschädigt
    - leicht beschädt, bewohnbar
    - beschädigt, eingeschränkt bewohnbar
    - stark beschädigt, nicht bewohnbar
    - zerstört

    Die beiden letzten Stufen waren dann zum Abbruch vorgesehen. Natürlich war das immer auch eine Ermessensfrage der Erfasser, wie sie ein Haus einstuften. Ich kenne mindestens einen Fall, in dem der Eigentümer den Abbruch eines stark beschädigten Fachwerkhauses verhindert hat, und es so retten konnte. Ich denke aber, dass das nicht der Regelfall war - nach dem Krieg war man wohl eher froh um jedes noch leidlich benutzbare Gebäude. Da aus ideologischen Gründen noch benutzbare Gebäude abzureißen, kann ich mir kaum vorstellen, wenn die Innenstädte sowieso in Trümmern lagen.

  • In Hannover gibt es eine Schadenskartei, für jedes Haus eine Karte, worin der Zerstörungsgrad einzelner Bauteile (Aussen-/Innenwände, Decken, Treppen, Dächer, Fenster, Schornsteine...) erfasst ist, sowie die Anzahl der jeweils vor und nach der Zerstörung vorhandenen benutzbaren Wohneinheiten. Diese Kartei wurde unmittelbar nach Kriegsende angelegt (Sommer 1945) und zwei Jahre später nochmal mit dem Status Quo aktualisiert. Daraus resultiert ein berechneter Zerstörungsgrad in % mit einer Stelle hinter dem Komma... Hintergrund war in der Tat die Erfassung des Wiederaufbauaufwandes zur effektiven Wiederherstellung von Wohnungen mit minimalem Materialeinsatz. Ausserdem ist für jedes Haus noch das Zerstörungsdatum notiert - in Hannover gab es von August 1940 bis zum 28. März 1945 insgesamt 88 Luftangriffe mit Bombenabwürfen.
    Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Materialknappheit in den ersten Nachkriegsjahren viele Altbau(Fassaden) gerettet hat, da es in dieser Notlage doch am effektivsten war, in zahlreichen ausgebrannten Häusern einfach neue Decken einzuziehen und neue Dächer aufzubringen - Flächenabrisse unterblieben so zunächst. Wie gesagt, die Argumente dafür waren rein rationell, nicht emotional. Man trifft in solchen Häusern manchmal putzige bautechnische Zustände an, in einem war eine Hälfte der Frontseite durch eine Sprengbombe herausgerissen (lt. Foto) und die anschliessenden Räume um 20 cm abgesackt, in den entsprechenden Wohnungen - des nun wieder kompletten Hauses - haben die erhaltenen Fussböden und Decken auf 2,00 m Breite (Flur) in allen Etagen 15 - 20 cm Gefälle (mit Hartfaserplatten ausgeglichen)! In einem anderen Haus, Baujahr 1882, das bis zur Kellerdecke ausgebrannt war (am 28. März 1945), steht eine Wand zum Innenhof auf 3 Etagen Höhe insgesamt 15 cm aus dem Lot - ich habe dort ein komplettes Aufmass erstellt und bin beim CAD-Zeichnen fast verzweifelt, bis sich der Schiefstand durch mehrmaliges Nachmessen bestätigt hat...

    Wer zwischen Steinen baut, sollte nicht (mit) Glashäuser(n) (ent)werfen...

  • Der Hintergrund warum ich diesen Strang erstellte war, dass der Eindruck der offiziellen Zerstörung und des inzwischen tatsächlichen Stadtbildes manchmal divergiert.
    Das Beispiel war Koblenz welches zu 86% zerstört war, aber das Stadtbild einen ganz anderen Eindruck hinterlässt obwohl noch nach dem WWII Gebäude abgerissen wurden.

  • Der Hintergrund warum ich diesen Strang erstellte war, dass der Eindruck der offiziellen Zerstörung und des inzwischen tatsächlichen Stadtbildes manchmal divergiert.
    Das Beispiel war Koblenz welches zu 86% zerstört war, aber das Stadtbild einen ganz anderen Eindruck hinterlässt obwohl noch nach dem WWII Gebäude abgerissen wurden.

    Möglicherweise bezieht sich der Zerstörungsgrad auch nur auf den Innenstadtkern der jeweiligen Stadt? Und es könnte ja auch sein, dass manches von dem, was als zerstört galt, dennoch wieder aufgebaut wurde, vielleicht auch nur provisorisch, und dann ein paar Jahre später abgerissen. Wenn ich mir den Wikipedia-Eintrag zum Luftkrieg ansehe, so sind die Angaben dort keineswegs einheitlich strukturiert, was sicher auch an der unterschiedlichen Datenlage liegt. Angesichts der damaligen Situation würde ich die Prozentangaben also mit Vorsicht betrachten.

  • Ich vermute je länger desto mehr, dass die Zahlen in Prozent jeweils den Zerstörungsgrad der Innenstadtkerne angeben. Ich beschäftige mich zwar nicht sonderlich mit diesem Thema, aber so auf die Schnelle sind mir drei Seiten in den Sinn gekommen, die dich interessieren könnten:


    Frankfurt a. M.:

    Modell der zerstörten Altstadt im Historischen Museum von Frankfurt:
    http://blog.historisches-museum-frankfurt.de/?s=stadtmodell

    Interessant ist die folgende Passage aus dem Blog:

    Zitat

    [...] handelt es sich bei dieser Darstellung von 1946 um eine grobe Übertreibung, angefertigt als „Argumentationshilfe“ zur Begründung eines städtebaulichen Neuanfangs.

    Nürnberg:

    Schadensplan von Nürnberg 1945 nach der Kapitualtion ("geprüfter Gesamts-SCHADENSPLAN der Altstadt NÜRNBERG":(
    http://www.stadtatlas-muenchen.de/stadtatlas-nue…n-altstadt.html
    Zwar ein bisschen unscharf in der Gratisversion, aber gegen ein bisschen Geld erhält man hier auch die hochaufgelöste Version.

    Auf der Wikipediaseite gibt es einen ähnlichen Schadensplan, der Eintragungen zerstörter Gebäude von verschiedenen Angriffswellen zeigt:
    Schadensplan von Nürnberg 1945 vor der Kapitualtion ("Plan der Stadt der Reichsparteitage NÜRNBERG -Altstadt-":(
    https://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriffe_auf_Nürnberg

    Ich habe die beiden Pläne nicht miteinander verglichen, aber auf den ersten Blick unterscheiden sie sich nicht wesentlich voneinander.

    Einmal editiert, zuletzt von Riegel (20. Juli 2015 um 15:55)

  • Zitat

    handelt es sich bei dieser Darstellung von 1946 um eine grobe Übertreibung, angefertigt als „Argumentationshilfe“ zur Begründung eines städtebaulichen Neuanfangs.

    Eine sehr interessante Aussage die erklären lässt warum die Städte in Deutschland so hässlich sind wie sie sind ...

  • Wer sich etwas tiefgreifender mit der Thematik befassen möchte, dem empfehle ich die Dissertation von Fr. Prof. Dr. Uta Hohn: Die Zerstörung deutscher Städte im zweiten Weltkrieg. Regionale Unterschiede in der Bilanz der Wohnungstotalschäden und Folgen des Luftkrieges unter bevölkerungsgeographischem Aspekt. Duisburger Geographische Arbeiten Bd. 8 1991.
    Desweiteren findet sich im Sammelband von J. Nipper: Kriegszerstörung und Wiederaufbau deutscher Städte. Kölner Geographische Arbeiten Bd. 57 ein weiterer Aufsatz von Fr. Hohn: Die Zestörung deutscher Städte 1940 bis 1945: Luftkrieg und Stadtplanung, Schadenerfassung und Schadensbilanz.

    Labor omnia vincit
    (Vergil)