Bremen - Kornhaus

  • Dieser Themenstrang soll dem nach der St. Ansgarii Kirche und dem Essighaus wichtigsten – heute aber leider unbekanntesten – Bremer Rekonstruktions-Desiderat gewidmet sein: Dem ‚Kornhaus’, welches - wie aus seinem Namen unschwer abzuleiten ist - das städtische Getreidemagazin beherbergte.
    Die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, die Epoche in der das Gebäude entstand, war in Bremen von der Neuerrichtung bzw. Renovierung staatlicher Großbauten geprägt: Den Anfang machte von 1586 bis 1588 die Stadtwaage, den Abschluß bildete der ambitionierte Umbau des alten gotischen Rathauses, der kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges vollendet war. Zeitlich zwischen diesen beiden Projekten lag die Erbauung des Kornhauses in den Jahren 1590 bis 1591. Das verbindende Element aller genannten Gebäude war die Person des Steinhauermeisters Lüder von Bentheim, der mit diesen drei Hauptwerken seines Oeuvre Gipfelpunkte der ‚Weser-Renaissance’ schuf.
    Gemeinsam mit der Stadtwaage flankierte das Kornhaus die wichtigste Handelsstraße der Stadt, die Langenstraße, an der die Packhäuser der Kaufleute dicht an dicht standen. Fast an ihrem östlichen Anfang befand sich die Stadtwaage und am gegenüberliegenden westlichen Abschluß des Straßenzuges, dort wo vordem eine Mauer mit Turm die ältesten Teile der Stadt gegen die vor den Toren gelegene nicht ummauerte ‚Steffensstadt’ abgrenzte, war das Kornhaus belegen.
    Nachdem es seine Funktion an der Wende zum 19. Jahrhundert eingebüßt hatte, wurde immer noch sein künstlerischer Wert geschätzt, was ihm das Schicksal vieler mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Packhäuser ersparte, die während des Baubooms der Gründerzeit niedergelegt wurden. So konnte sich das Kornhaus neben Rathaus, Schütting, Gewerbe- und Essighaus zu einer der ‚Ikonen’ der Stadt mausern, welche jeder Besucher gesehen haben mußte, da sie im Baedeker mit einem Stern versehen waren.
    Der zweite Weltkrieg ließ nur Teile der Fassade zur Langenstraße übrig. Diese waren jedoch zum Wiederaufbau vorgesehen, bis ein starker Sturm die Hälfte des verbliebenen Restes zum Einsturz brachte. In der Folge entschied man sich für den Abtrag der traurigen Ruine. Der Wappenstein, welcher das Gebäude als städtisches Eigentum gekennzeichnet hatte, ziert heute die Front des Bremer Staatsarchivs.
    Am historischen Standort befindet sich gegenwärtig ein freier Platz. Das Areal wurde nicht wieder bebaut, was ja für Rekonstruktionsvorhaben immer von Vorteil ist, muß doch in solchen Fällen nicht erst ‚usurpatorische Bebauung’ in kostenintensiver Weise fortgeschafft werden !

    Im Folgenden einige Bilder aus der Geschichte des Hauses und als Abschluß eine Visualisierung wie eine ‚Reko’ im Stadtbild wirken würde.

    Die 'Landseite' des Kornhauses vom Ende der Langenstraße aus gesehen

    Eine farbige Version derselben Perspektive

    Frontalansicht, welche die charakteristischen Elemente der Weser-Renaissance an der Fassade dokumentiert: Die Obelisken als Giebelbegrenzung und die starke Betonung der Gebäudekanten durch Hausteinquader. Links oberhalb der ersten Packbodenluke ist das Bremische Wappen eingelassen (heute am Staatsarchiv)

    Blick von der Straße 'Am Geeren' auf das Gebäude und sein Umfeld

    Die 'Wasserseite' des Kornhauses zur Weser hin war ebenso reich geschmückt wie die Seite zur Langenstraße

    Der Bombenkrieg ließ nur die Frontfassade zur Langenstraße stehen. Die Bauverwaltung plante nach dem Kriege den Wiederaufbau....

    Bis ein Sturm die linke Hälfte des Torsos zum Einsturz brachte. Das bedeutete dann das 'Aus' für den historischen Bau

    Gegenwärtig befindet sich ein baumbestandener Platz auf dem Areal

    So würde eine Rekonstruktion wirken:

  • Das wäre sicher eine wünschenswerte Rekonstruktion für Bremen. Allerdings bräuchte es eines Vereins, der dieses Projekt mit der nötigen Überzeugungskraft den Bürgern und Politikern nahe bringen könnte. Es könnte nämlich mal wieder Stimmen geben, die den Wegfall einiger Parkplätze oder die Fällung von einigen Bäumen beklagen werden. Diesen muss man den Mehrwert der Rekonstruktion erklären.
    Eine solche Rekonstruktion sollte dann aber auch auf das Umfeld abstrahlen. Dieser grauselige Wasserbetten-Laden links im Vordergrund sollte ein primärer Abrisskandidat sein.

  • Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Visualisierung nicht ganz richtig ist. Das vierte Bild zeigt in die Straße „Am Geeren“ als Verlängerung der Langenstraße in Richtung stadtauswärts, nicht von der Straße „Am Geeren“. Nur so ist auch die Sonnenbestrahlung (Haus Richtung Westen) im ersten Bild zu erklären. Das Kornhaus lag ja auch in der Straße „Am Geeren“, nicht mehr in der Langenstraße. Entsprechend der Visualisierung (Haus Richtung Osten, fast Nord-Osten) läge das Haus immer im Schatten. Der „grauselige Wasserbetten-Laden“ (Heimdall) steht auf dem Gelände des Kornhauses. Das Gebäude wurde erst vor einigen Jahren saniert. Eine Reko ist für mich ausgeschlossen.

  • Und dennoch stand es dort, wo 'Pagentorn' es verortet. Sonst gäbe es ja auch keine Uferseite. huh:)

    Markierung des Neuen Kornhauses im Plan von 1796:

    Nadel = Natel

    In Bremen steht die Sonne halt im Norden...

    Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.
    (Immanuel Kant)

  • Um gewisse Irritationen hinsichtlich der exakten Lage des Kornhauses auszuräumen, habe ich die folgenden Bilder zusammengestellt:

    Stadtkarte von 1938. Das Kornhaus ist rot hervorgehoben.

    Aus dem Adreßbuch der Freien Hansestadt Bremen für das Jahr 1939 (digitalisiert durch die Staats-und Universitätsbibliothek Bremen), geht eindeutig hervor, daß das Kornhaus an der Langenstraße gelegen war. Es hatte die Nr. 75.


    Das Adreßbuch spricht in nicht ganz richtiger Weise vom 'Alten Kornhaus'. Unter dem Begriff war nämlich ein vor 1591 für den Zweck der Getreidespeicherung genutztes Gebäude in der Nähe der St. Martini-Kirche bekannt. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach hat die Adreßbuch-Redaktion mit dem gewählten Terminus lediglich ausdrücken wollen, daß das Kornhaus nicht mehr seiner ursprünglichen Funktion diente.

    Unmittelbar westlich des Kornhauses begann tatsächlich die Straße 'Geeren'. Das Kornhaus selber war das westlichste Haus der Südseite der Langenstraße. Die Grenze zwischen Langenstraße und Geeren ist hier grün markiert.


    Und nun einige Flugbilder aus der Vorkriegszeit (das Kornhaus ist jeweils rot hervorgehoben):

    Blick von Süden über den Teerhof und Schlachte.

    Blick von Süden auf den westlichsten Teil der älteren Altstadt. In der Bildmittel der Platz 'Am Brill'. Die St. Ansgarii-Kirche ist am rechten Bildrand zu erkennen.

    Blick von Westen auf Steffenstadt (am unteren Bildrand ist die spitze neugotische 'Turmnadel' der St. Stephani-Kirche zu sehen) und ältere Altstadt.

    Und nun noch einige aktuelle Ansichten:

    Lage des Kornhauses im Verhältnis zu den anderen Bremer Rekonstruktions-Desideraten:

    Überflug des heute leeren Areals des Kornhauses:

    Hier kommt sehr schön die Baustruktur des von Heimdall zurecht als schauerlich bezeichneten Wasserbetten-Hauses zum Ausdruck !

  • Da liegt doch eine Rekonstruktion nahe.

    Warum wurde die Ruine nicht wiederaufgebaut oder zumindest gesichert? Nach dem Krieg, selbst nach dem Sturmschaden, scheint doch noch ein Großteil der Aussenmauern gestanden zu haben.

    Sind hier vor dem Abbruch Teile ausgebaut worden? Sind, außer dem Wappenstein, noch Spolien vorhanden?

    Man hat den Platz des Kornhauses doch sicher bewußt von Bebauung freigehalten. Sollte hier ein späterer Wiederaufbau möglich bleiben oder war dieser sogar geplant?

  • Hier noch einige Informationen:

    Eine weitere Ansicht der 'Wasserseite' des Kornhauses. Man sieht, daß das Gebäude direkt auf der Ufermauer der Weser ruht.


    Blick auf die Südseite des westlichen Endes der Langenstraße. Im Hintergrund ragt die Fassade des Kornhauses (mit seiner hervorlugenden Windenverdachung) empor. Es ist deutlich erkennbar, daß das Gebäude etwas schräg zum Straßenverlauf stand.
    Solche Straßenbilder findet man heute noch in Lüneburg oder in den Hansestädten der Ostsee von Lübeck über Danzig bis Riga und Reval. Vor dem Kriege konnte auch Bremen mit solchen den 'hansischen Geist' atmenden Ensembles aufwarten.


    Davon blieb leider nichts mehr übrig: Bei der Gegenüberstellung mit dem Ist-Zustand wird einem schwer ums Herz !


    Das Kornhaus wurde auch 'Rolandsscheuer' genannt. Der Grund ergibt sich aus den folgenden Bildern:

    Mittelteil der stadtseitigen (nördllichen) Fassade mit dem Wappenstein (links) und der Widmungsinschrift (rechts von der ersten Packbodenluke):

    Der gerettete Wappenstein, der heute die Frontseite des Staatsarchivs Bremen ziert:

    Die Widmungsinschrift, in der auf Roland Bezug genommen und die Funktion des Gebäudes erläutert wird:

    Die nun noch folgenden Bauzeichnungen stammen aus dem Werk 'Romanische, Gotische und Renaissance-Baukunst in Bremen' von Rudolf Stein:

    Die Landseite:

    Die Wasserseite:

    Gebäudeschnitte:

    Grundrisse der Etagen:

  • Sehr geehrter Andreas ! Von weiteren Spolien des Kornhauses - z.B. im Depot der Bremer Denkmalpflege - ist (zumindest mir) nichts bekannt. Und ob der Platz nach der Beseitigung der Ruine für einen späteren Wiederaufbau bewußt freigehalten wurde, möchte ich vor dem Hintergrund der hiesigen Baupolitik der 50er bis 70er Jahre doch sehr bezweifeln. Für mich sieht es eher wie ein Zufall aus. Aber diesen Zufall sollte man in der Tat nutzen.... :smile:

    Auf jeden Fall vielen Dank für Ihre konstruktiven Fragen !! cclap:)

  • Wenn man einmal den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses als Vergleich heranziehen darf, so wissen wir Rekonstruktionsfreunde, daß es nicht allein die Boddien'schen Fassaden-Attrappen von 1993 waren (so großartig und überaus hilfreich sie auch gewesen sind), sondern daß es darüber hinaus noch des schlüssigen (man kann darüber streiten, ich weiß; auch mir wäre die sofortige Innenrekonstruktion der Parade-Etage lieber gewesen) Nutzungskonzeptes des 'Humboldt-Forums' bedurfte, um den Durchbruch zu schaffen.

    Insofern würde ein Wiederaufbau des Kornhauses ebenfalls von einer überzeugenden zukünftigen Nutzung abhängen. Dafür schweben mir folgende erste Gedanken vor: Auf dem gegenwärtig leeren, baumbestandenen Platz, der meistens als Parkplatz genutzt wird, findet allwöchentlich ein 'Bauernmarkt' statt, auf dem sich die in diesem Teil der Altstadt noch recht zahlreiche Wohnbevölkerung mit frischen Produkten vom Lande versorgen kann.
    In Boston in Massachusetts existiert ein ähnlich langestreckter Bau, wie das Kornhaus einer war, welcher für Marktzwecke revitalisiert wurde: Der sogenannte 'Quincy Market'. Dort gibt es nicht nur Nahrungsmittel in großer Vielfalt zu erwerben, sondern im Umfeld werden auch kulturelle Angebote gemacht. Das Kornhaus könnte als Markthalle im Erdgeschoss und in den darüber liegenden Böden für gastronomische und z.B. Kleinkunstzwecke genutzt werden. Nur so eine erste Idee..

    Im Folgenden Bilder des 'Bauernmarktes auf dem historischen Standort des Kornhauses, sowie Bilder vom Außen- und Innenbereich des Quincy-Market im schönen Boston:

    Der Bauernmarkt 'Am Fangturm'

    Der Quincy-Market in Boston:

    In Breite und Länge war das Kornhaus dem Quincy-Market fast ebenbürtig.

    Eine Innenansicht des Quincy-Market. Man sieht, die Geschoßhöhe ist nicht sehr hoch - den Packböden des Kornhauses vergleichbar...
    Und auch hier wird der Innenraum durch Stützen strukturiert !

  • Welch ein wunderbarer Renaissancebau. Das ist ja neben dem Nürnberger Pellerhaus einer der ganz heißen Reko-Kandidaten unter den Bürgerhäusern dieser Epoche. Vielen Dank für die Übersichten! Das Nutzungskonzept als u.a. Markthalle gefällt mir sehr gut. Sicher würde eine Reko auch starke Verbesserungen des Umfeldes nach sich ziehen. Bremen ist heute vor allem im Altstadtgebiet nicht viel mehr als ein Schatten seiner selbst.

  • Von weiteren Spolien des Kornhauses - z.B. im Depot der Bremer Denkmalpflege - ist (zumindest mir) nichts bekannt

    In der mir zur Verfügung stehenden (allerdings wenigen) Literatur habe ich versucht etwas über den Verbleib von Spolien des Kornhauses herauszubekommen. So ist in dem von Nils Aschenbeck herausgegeben Buch "Bremen - der Wiederaufbau 1945 -1960" Edition Temmen 1997, angegeben, das Steine des Kornhauses bei der originalgetreuen Rekonstruktion der Fassade des Roselius-Hauses in der Böttcherstraße verwendet worden seien. Ob hierbei tatsächlich Spolien verwendet wurden, konnte ich allerdings nicht herausfinden. Es spricht viel dafür, dass der kriegszerstörte Giebel des Roseliushauses mit Ziegelsteinen, die bei dem Abbruch des Kornhauses geboren wurden, neu errichtet wurde. Vergleiche:

    http://www.boettcherstrasse.de/de/architektur#section-11

    Es wundert mich, dass wenn schon Ziegelsteine geborgen wurden, nicht auch die Sandsteinverzierungen der Fenster und die Gesimse vor dem Abriss ausgebaut wurden. Zumindest der parallel zu dem Wappen angebrachte Inschriftenstein dürfte doch die Zeiten überdauert haben. Auf einer Abbildung in dem oben genannten Buch, dass die Kornhausruine nach Beseitigung des rechten Fassadenteiles zeigt, sieht es so aus, als sei der Inschriftenstein von der Fassade entfernt worden, die Stelle an die dieser nach den Zerstörungen noch war, ist leer.

    Über den Umgang mit kriegbeschädigten Baudenkmälern im Bremen der Nachkriesgzeit siehe auch:

    http://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-…rid,227805.html

    Die beschädigte Stadtwaage, hätte beinahe das gleiche Schicksal wie das Kornhaus getroffen, das zunächst wohl in der Tat zur Wiederherstellung vorgesehen war. Bei diesem haben sich dann leider die Gegner eine der noch vorhandenen und sicher aufbaufähigen Ruine durchgesetzt.

    Die von Pagentorn vorgeschlagene Nutzung eines wiederaufgebauten Kornhauses als Markthalle finde ich optimal.

  • Sehr geehrter Andreas !

    Vielen Dank für die hilfreichen Informationen (bzgl. der Wiederverwendung von Ziegeln des Kornhauses für die Restaurierung des Roseliushauses). Diese waren mir nicht so präsent !

    Als kleines Dankeschön stelle ich hier zwei Ansichten ein, welche die Verbindung des Kornhauses mit den anderen Baudenkmalen der Stadt verdeutlichen:

    Auf dem ersten Bild - aus der Sorger-Dia-Serie - steht der Betrachter im Herbst 1939 auf der nagelneuen Westbrücke und schaut flußaufwärts auf die Südseite der Atlstadt mit ihren sich wie an einer Perlenschnur aufreihenden Packhäusern. Gewissermaßen gerahmt vom Turmhelm der Liebfraunkirche zur linken und dem Doppel der Domtürme zur rechten ragt im Bildmittelgrund ein dunkler Bau mit seinem roten Ziegeldach direkt bis an die Ufermauer des Flusses. Damit haben wir hier eine farbige Ansicht der Weserseite des Kornhauses. Weiter rechts, umgeben von den hohen Giebel der Reisbörse / Argo-Reederei und dem Turm von St. Martini, sind die hohen Dachaufbauten und der sich mehrfach verjüngende Helm der Baumwollbörse zu sehen. Mir kommt beim Betrachten dieses Bildes die Anfangszeile jenes Gedichtes in den Sinn, welches der große Bremische Dichter Rudolf Alexander Schröder seiner Heimatstadt widmete und dessen Titel einfach nur aus dem Namen der Stadt besteht. Die Zeile lautet: "Uralte Stadt, am grauen Strom".


    Als zweites Bild eine Postkarte, die nicht nur zeigt, wie sich Kornhaus und Stadtwaage in ihrer Wirkung auf die Langenstraße gegenseitig ergänzten (ohne jedoch 'Sichtkontakt' zu haben - dafür war der Straßenverlauf zu gewunden), sondern auch, wie stilbildend sie für andere Gebäude in der Stadt waren, z.B. für die Sonnenapotheke in der Sögestraße.


    2 Mal editiert, zuletzt von Pagentorn (11. April 2015 um 10:24)

  • Auch wenn viele Leser aufgrund der Überschrift den Eindruck haben könnten, daß ich nun endgültig verrückt geworden bin, so entspricht die oben gemachte Aussage nichtsdestotrotz den Tatsachen. Denn bis auf den heutigen Tag passieren täglich tausende von Bahnreisenden, welche die Empfangshalle des 1889 eingeweihten Bremer Hauptbahnhofes (übrigens in Deutschland hinsichtlich der Bogenspannweite seiner Perronhalle nur noch vom ehemaligen Anhalter Bahnhof in Berlin übertroffen – mit dem er auch stilistisch eng verwandt ist) durchqueren, ein 1951 über dem Eingang der zu den Gleisen führenden Tunnelpassage angebrachtes Werbe-Kachelmosaik der Bremer Tabakfirma Martin Brinkmann (welches leider die untere Fensterreihe verdeckt, welche ursprünglich eine Durchsicht von Empfangs- zur Perronhalle ermöglicht hatte; bei der Sanierung des Bahnhofes war es aus Kostengründen nicht möglich, dieses schöne Kunstwerk schonend zu bergen, andernorts im Bahnhof anzubringen und auf diese Weise die Sichtbeziehung wieder herzustellen; sehr bedauerlich !).
    Auf diesem Kachelmosaik sind neben Tabakballen, Hafenszenen und den Bremer Stadtmusikanten auch einige historische Gebäude dargestellt. Man sieht dort den St. Petri Dom, den Schütting (Sitz der Handelskammer am Markt), die alte Post an der Domsheide und – jawohl – das Kornhaus !
    Zwar sind die beiden auf Höhe des Erdgeschosses eingefügten Türen wohl der künstlerischen Freiheit entsprungen, denn weder auf der Land-, noch auf der Wasserseite des Gebäudes gab es in dieser Position angebrachte Öffnungen, aber die in der Fassaden-Mittelachse zentral durch alle Etagen gehende Reihe der Packbodenluken und die den Giebel begleitenden Obelisken identifizieren das dargestellte Gebäude eindeutig als das Kornhaus.
    Nun stellt sich aber das Problem, daß die alte Post an der Domsheide zum Zeitpunkt als das Mosaik im Jahre 1951 entstand bereits seit sechzig Jahren aus dem Stadtbild verschwunden war, da sie für das 1891 bis 1895 nach den Plänen der Architekten Klingenberg und Weber erbaute Gerichtshaus weichen mußte; und auch das Kornhaus war zu dieser Zeit nur noch eine Ruine, sodaß die Firma Brinkmann - und in gewisser Weise auch Bremen - mit nicht mehr existenten baulichen Schönheiten für sich warben !
    Es wird nun natürlich niemand fordern, das imposante, burgartige Gerichtsgebäude an der Domsheide abzureißen, um diesen Widerspruch aufzulösen. Aber der Grund und Boden des Kornhauses ist nach wie vor unbebaut. Hier könnte man also Abhilfe schaffen, bevor dieser ‚Etikettenschwindel’ am Bahnhof allgemein bekannter wird. Denn was gegenwärtig am Bahnhof den eintreffenden Gästen verheißungsvoll versprochen wird, kann in der Realität nicht eingehalten werden: Wo Kornhaus draufsteht ist momentan leider kein Kornhaus drin !

    Der Bremer Hauptbahnhof - nach Plänen von Hubert Stier 1886-1889 erbaut

    Die Nordseite der Empfangshalle mit dem Mosaik vor der ehemaligen unteren Fensterreihe zur Perronhalle

    Alte Post und Kornhaus auf dem Mosaik

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (12. April 2015 um 12:26)

  • Die Kubatur des Kornhauses wurde möglicherweise nicht nur von der Notwendigkeit, ausreichend Getreide zur Versorgung der städtischen Bevölkerung in Krisenzeiten einlagern zu können, sondern auch von dem in seinem Bauumfeld 1591 noch existierenden Relikten desjenigen Teils der Stadtmauer von 1229 bestimmt, welcher seit der Einbeziehung der Steffensstadt in den altstädtischen Befestigungsschutz im Jahre 1305 im Binnenbereich der Stadt zu liegen gekommen und deshalb als funktionslose hemmende Barriere schon 1551 ganz überwiegend abgerochen worden war. Hier, am westlichen Ende der älteren Altstadt, hatte sich vom besagten Teil noch das die Langenstraße abschließende Stadttor - die sog. ‚Natel’ - ein dieses Tor mit dem die Befestigung von 1229 im Westen abschließenden, direkt an der Weser stehenden Eckturm – dem sog. ‚Fangturm’ - verbindendes Stück Mauer und der 'Fangturm' selber in voller Höhe erhalten. Diese drei Elemente – zwischen denen das Kornhaus geradezu wie ‚eingespannt’ erscheint- wirkten nun auf jeweils spezifische Weise auf den entstehenden Bau ein: Das erst ab 1657 beseitigte Stadttor mag einer noch weiter nach Norden ausgreifenden Längenentwicklung des Kornhauses einen ‚Riegel vorgeschoben’ haben. Das erwähnte Stadtmauerstück, an das sich das neue Gebäude anlehnte, welches es aber nicht überbaute, markierte die Begrenzung im Osten, während sich das Kornhaus auf dem relativ großen freien Platz westlich derselben (dessen nach der Erbauung verbliebene Rest die spätere enge Gasse ‚Fangturm’ war) recht großzügig in die Breite ausdehnen konnte. Im Südosten integrierte das Kornhaus einen Teil der Westwand des Fangturmes, welcher aber ansonsten noch längere Zeit als selbständiger Baukörper erhalten blieb (auch wenn er nun die Anmutung eines Appendix besaß). Spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwanden die oberirdischen Teile des Fangturmes, als auf dem Nachbargrundstück (Langenstraße Nr. 76 ein großes Packhaus errichtet wurde, welches direkt an die Ostwand des Kornhauses angrenzte und somit das verbliebene Areal des Fangturms vollständig überbaute.
    Seit dieser Zeit waren somit das Kornhaus und das benachbarte Gebäude (dessen letzter Eigentümer vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg übrigens die Tabakfirma Georg Schünemann & Co. war) die unangefochtenen ‚Platzhirschen’ an dieser Stelle, welche das dortige Stadtbild dominierten. Lediglich der Straßenname ‚Fangturm’ hielt die Erinnerung an die alte Befestigungsanlage schwach aufrecht.
    Nach den Verheerungen, die das Jahr 1944 und die Jahre des ‚Wiederaufbaus’ mit sich brachten, hat sich dieses Verhältnis in sein Gegenteil verkehrt. Ein Zustand der sich durch kürzlich erfolgte ‚straßenbaugestalterische’ Maßnahmen zur ‚Attraktivitätssteigerung’ dieses Areals noch verstärkt hat. Die Straße ‚Fangturm’ wurde nämlich mit neuen Kantsteinen, größeren Baumringen und einer insgesamt ‚edleren’ Pflasterung versehen. In diesem Zusammenhang wurde ein Teil des Grundrisses des Fangturms im Bereich der Fahrbahn durch Basaltsteine hervorgehoben (für den Nichteingeweihten erschießt sich die Bedeutung dieser Pflasterung jedoch nicht, da keine Hinweistafel eine Erläuterung gibt; wer es nicht weiß, könnte somit auch an eine zufällige Laune der Steinsetzer denken – mal wieder typisch Bremen !!). Der Fangturm jedenfalls ist somit – wenn auch erst auf den zweiten Blick erkennbar – wieder präsent. An das Kornhaus, an welches bis vor einigen Jahren zumindest noch eine Eck-Kneipe am Beginn des ‚Geeren’ mit dem Namen ‚Zum Kornhaus’ gemahnte, erinnert nach deren Umbenennung in ‚Zum Fangturm’ hingegen nichts mehr. Man könnte meinen es hätte hier am Ort nie existiert !
    Wenn ich einen Vergleich heranziehen darf, dann stellt sich die Situation in etwa so dar, als wenn man in Berlin, den – ebenso wie den Bremer Fangturm (der Name rührt von ‚Gefangenenturm’ her) ja zeitweise als Gefängnis genutzten - Rundturm der nördlichen Stadtmauer von ‚Cölln’, welcher als ‚Grüner Hut’ bekannt ist, rekonstruieren, das Stadtschloß der Hohenzollern aber in der Versenkung belassen und weiterhin totschweigen würde !
    Nichts gegen den ‚Grünen Hut’ (ich hätte mich über seine und der ganzen historischen Ostfassade Wiederauferstehung natürlich sehr gefreut) und den ‚Fangturm’, aber das Schlüter’sche Stadtschloß und das Bentheim’sche Kornhaus machen schon mehr her !

    Und nun einige Bilder:

    Links: Letzte bekannte Ansicht des späteren Kornhaus-Areals vor dessen Erbauung auf der zwischen 1572 und 1591 entstanden Stadtansicht von Braun und Hogenberg.
    Rechts: Das nagelneue (gerade mal elf Jahre alte) Kornhaus auf dem flußseitigen Stadtpanorama Bremens von Jürgen Landwehr aus dem Jahre 1602. Auf diesem Gemälde wird deutlich, wie eindrucksvoll das Gebäude die Nahtstelle zwischen älterer Altstadt (rechts) und Steffenstadt (links) markiert, welche offenbar auch eine Grenze des Baustiles (rechts weiße, d. h. mit teurem Haustein verblendete Fassaden und links Dominanz des billigeren roten Backsteins) und damit wohl auch der sozialen Schichten der Stadt war. Ob die Höhenentwicklung des Kornhauses von Landwehr hier nicht etwas übertrieben wird, kann nicht abschließend beurteilt werden. Auf alle Fälle hat Landwehr die wichtigen öffentlichen Gebäude optisch etwas hervorgehoben.


    Illustrationen, die den baulichen Verbund von Kornhaus und Fangturm verdeutlichen:

    Links: Grundriß. Mitte: Rekonstruktionszeichnung nach 1945. Rechts: Ausschnitt aus dem Landwehr-Gemälde von 1602.


    Die ‚Spezial-Pflasterung’, welche einen Teil des Grundrisses des Fangturms wiedergibt. Im beigefügten Grundriß ist dieser Teil rot hervorgehoben.


    Aktuelle Ansichten des Fangturmplatzes (die noch unbelaubten Bäume ermöglichen, den heute leeren Raum des ehemaligen Kornhaus-Standortes in seiner Gesamtheit besser zu erfassen). Für Heimdall zur Kenntis: Im Hintergrund ist der schauerliche Bettenbau zu sehen. Er wurde tatsächlich ebenfalls jüngst ‚saniert’ und erstrahlt jetzt in ‚Kalkweiß’… Keine wirkliche Verbesserung für das Stadtbild !

    Die folgenden Bilder zeigen den Blick nach Norden.

    Die folgenden Bilder zeigen den Blick nach Süden, zum Fluß (und zur Brauerei Beck & Co.).

    Der neben der neuen Pflasterung einzige Hinweis auf die Geschichte des Ortes: das Straßenschild !

    Und hier noch der ‚Grüne Hut’. Auch er war eng in das Baugefüge des jüngeren Schlosses eingebunden; ähnlich wie der Fangturm mit dem Kornhaus verbunden war !

    3 Mal editiert, zuletzt von Pagentorn (14. April 2015 um 17:08)

  • Für die Öffentlichkeitsarbeit ganz wichtig - Bei den Wikimedia Commons müssten noch weitere Ansichten vom Kornhaus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden:
    https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:…emen?uselang=de

    Hier können Bilder hochgeladen und in die Kategorie "Kornhaus, Bremen" eingeordnet werden.

  • Ich konnte nicht widerstehen und mußte heute Abend einfach noch einmal zwei der Bremischen 'Reko-Stars' gemeinsam ins Bild bringen:


    Zunächst in einer Totalen, in Form des Gemäldes von Jürgen Landwehr aus dem Jahre 1602:

    Dann ein Ausschnitt aus selbigem Gemälde, welches die beiden 'Protagonisten' besonders gut in Szene setzt. Nein der Turm kippt nicht gerade um. Das sollte erst 342 Jahre später geschehen.... , die Perspektive der Kamera war leider lediglich etwas unglücklich :wink: :

    Und schließlich ein Blick vom Turm der Kirche auf den Platz 'Am Brill' und das Kornhaus (rot hervorgehoben):


  • Vielen Dank für die enorme Arbeit, die Sie in die möglichen Rekonstruktionen stecken, Pagentorn. Das Kornhaus ist für mich sogar Kandidat Nummer 1 für eine mögliche Reko, da 1. der Platz frei ist und 2. das Bauvolumen und somit die Kosten im Rahmen bleiben.

    Problem ist a.e. das bereits völlig enthistorisierte Umfeld, so dass das Gebäude auf Sicht ein Solitär umgeben von übelster 60er Jahre-Tristesse bliebe.

  • Die hiesige Umgebung sollte kein Hinderungsgrund sein, sondern im Gegenteil ein Ansporn. Jede "Traditionsinsel" ist unschätzbar wertvoll.
    Sie erweckt zunächst einmal die Erinnerung an die einstige Bedeutung und Herrlichkeit des konkreten Ortes. Zugleich stellt sie die minderwertige Umgebung in Frage, bis diese mit den Jahren Höherwertigem schwindet. So hat nahezu jede Rekonstruktion eine unmittelbare Wirkung als Impulsgeber für ihre Umgebung. Ein lokales Leuchtfeuer der Hochkultur und Geschichte.