Tschechien: Sehnsucht nach der Platte

  • So einen Trend hätte ich mir nicht unbedingt erwartet. Ich könnte mir kaum vorstellen, in so einer Wohnburg zu leben. Da wird einem ja jeden morgen schlecht, wenn man aus dem Fenster schaut und die Nachbarhäuser sieht... Aber wenn man ästhetische Kriterien außer Acht lässt, ist solch eine Wohnung sicher nicht so schlecht. Man ist in der Nähe der Innenstadt, hat gute Infrastruktur, viele Nachbarn, es ist billig. Und in Tschechien wird sich wohl auch kaum so viel Gesindel um die Blocks rumtreiben, wie es bei uns oft der Fall ist. Ich könnt´s mir nicht vorstellen, aber die Plattenbewohner verstehen.

  • Von Rußlanddeutschen habe ich auch schon gehört, daß einige unter ihnen gerne in Plattenbauten wohnen, weil diese an die alte Heimat erinnern. Ich selbst habe 10 Jahre in einem westdeutschen Äquivalent gewohnt und mir hat es gefallen. Die Miete war niedrig, die Wohnung hell und komfortabel und die Aussicht vom 10. Stock aus wundervoll.

  • Tja, wenn es ihnen so gefällt, dann sollen sie so wohnen.

    Allerdings dürfte die Verdichtung in diesen pflegeintensiven Großsystemen nur so lange funktionieren, wie es eine gemeinsame kulturelle Gemeinschafts-Basis unter den Bewohnern gibt. Spätestens, wenn die Nachbarn nicht mehr die eigene Sprache sprechen und andere kulturelle Gepflogenheiten bezüglich Ruhezeiten, Sauberkeit, Mülltrennung usw. an den den Tag legen, dürfte die Flucht ins Eigenheim bzw. die Kleineinheit wieder einsetzen.

  • Spätestens, wenn die Nachbarn nicht mehr die eigene Sprache sprechen und andere kulturelle Gepflogenheiten bezüglich Ruhezeiten, Sauberkeit, Mülltrennung usw. an den den Tag legen, dürfte die Flucht ins Eigenheim bzw. die Kleineinheit wieder einsetzen.


    Oder respektive wenn die eigene Toleranz aufhört. Integration kann nur mit allen Beteiligten funktionieren. Vollkommene Assimilierung kann und darf keine Lösung sein.

  • In dem Land mit den verhältnismäßig meisten Kommunistenwählern in Europa wundert mich das auch nicht :gehtsnoch: . Trotzdem, wenn man sich den Artikel durchliest, dann wird schnell klar, dass es vor allem der niedrige Preis ist, der diese Form der gerade noch artgerechten Menschenhaltung attraktiv macht. Wenn ich in CZ leben müsste, dann wäre ich vermutlich sogar froh darüber, wenn die Sozen unter sich am Stadtrand blieben und die hochkulturelle Kleinseite weitestgehend mieden :cool: .

  • Die Gründe dafür sind aber wohl eher in der Landflucht der letzten Jahre, den völlig überhitzten Mieten in den Großstädten und den Gentrifizierungsprozessen in zuvor bürgerlichen Quartieren zu suchen. Da die Plattenbauviertel meistens weit draußen liegen, wird nun eben zunehmend die Mittelschicht sowie Leute mit kleinen Renten in diese Stadtteile gedrängt. Das Ganze kann man also eher als Symptom der Urbanisierung denn einer zunehmenden Attraktivität von Plattenbauvierteln gewertet werden. Auch stellt sich die Frage, was mit den Leuten passiert, die bisher diese Stadtteile bewohnt haben.

    Einmal editiert, zuletzt von RMA (30. April 2014 um 23:27)

  • Naja, Stuttgart-Asemwald ist glaube ich auch eine Ausnahme, die Ausstattung der Wohnanlage ist wesentlich hochwertiger (z.B. Dachschwimmbad etc.) als in anderen Trabantenstädten, daher war es nie Problemviertel sondern stets gutbürgerliche Wohngegend. Ansonsten stimme ich aber RMAs Vermutung zu. Gerade Wände. ebene Fußböden und ein sinnvoller Grundriss haben auch ihre Vorteile.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Wenn ich etwas Polemik einwerfen darf: Man sollte nicht alles glauben, was im SPIEGEL steht ("40 Prozent"). Zwei, drei gute Artikel pro Printausgabe gibt es. Der Großteil des Restes ist Ausfluß unterbezahlter Journalistenhirne und sollte besser ignoriert werden.

  • Was mich betrifft, so war ich immer vom DDR-Städtebau sehr enttäuscht. Das sollen sozialistische Plattenbausiedlungen sein? Die Dederoni sollen sich mal bei den Genossen in der CSSR umschauen, dachte ich mir.

    https://www.google.at/search?q=panel…zne%3B400%3B300

    Keine Frage, die paneláky haben einen eigenen Kultstatus. Ich bin ja früher mit einer Pemmin camkvézn, hab also auch meine Zeit in panelový dům verbracht. In einem Richtigen, nicht in so'nem DDR-Abklatsch. Daher kann ich sagen: so schlecht ist das wieder auch nicht. Es hat alles seine Vor- und Nachteile.

    Hier ein paar Anmerkungen:
    1) Die Polemik Plattenbau versus Altstadt existiert dort nicht, hat nie existiert. So sehr man die Altstädte verkommen ließ, man riss nie nicht ab. Und wenn man was abriss, ließ man die Fläche meistens brach. Die altstadtangepassten Plattenbauten, die man in Quedlingburg, Halle oder Cottbus bewundern darf, gibt es in der CSSR nicht.
    Ausnahmen bestätigen die Regel.
    Es gibt einzelne Stadtkerne, die gnadenlos niedergerissenen und durch P.D. ersetzt wurden. Dabei handelte es sich gerne um (natürlich vormals rein deutsche) Empirstädte. Offenbar schätzten man das Ältere zusehr, und offenbar waren die Gründerzeitlicher zu solide gebaut. Beispiele: Asch (Westböhmen), Freiwaldau in Schlesien und Hof in Mähren, mitunter auch Stadterweiterungsgebiete aus dieser Zeit: Kaaden, Prachatitz. Dazu noch Städte mit (deutscher) Volksarchitektur: Wallern (Südböhmen), Grumberg (Nordmähren).
    Aber das sind Ausnahmen. In der Regel ging man anders vor.
    Im Buch Zaniklé Sudety wird auch die Altstadt Egers als Stück verschwundenes Sudetenland angeführt, was jedem Normaltouristen einigermaßen seltsam anmuten dürfte. Ich selbst erinnere mich etwa, dass mir Eger viel liebevoller renovierter als etwa Bamberg vorkam. Aber der Schein trügt - in Cheb wurde offenbar reiner Fassadismus betrieben. Dahinter verbergen sich -á la Gdansk - Plattenbauten.
    Aber auch das ist eine Ausnahme, wie ja Cheb überhaupt eine Ausnahme darstellt. Fränkisches Mittelalter ist in Böhmen ja eher dünn gesät.

    Der Regelfall betrifft mehr die von Heimdal angeführte Problematik.
    Tschechien ist für unsere Verhältnisse ein wunderbar monokulturelles Land. Zwar ist nunmher nicht mehr zu übersehen, dass es jetzt auch schon vielerortslosgeht, dass die Pionierpflanzen emporsprießen (Kebabbuden), aber die Tschechen sind ein politisch begabtes, verschlagenes Volk und werden aus unsere Fehlern rechtzeitig lernen. Dazu haben sie, damit sind wir endgültig beim Thema Glück gehabt: die Loslösung von der Slowakei kam für sie zur rechten oder letztmöglichen Zeit. Zwar mussten sie genug Zigeuner schlucken, aber auf dem Gros blieb das Brudervolk sitzen.
    Es war immer umgekehrt, wie Heimdall vermutet: Die "Panelhäuser" wurden von ethnischen Tschechen bewohnt, denen man modernen Fortschritt bieten wollte. Für die Zigeuner blieb da nur die verkommene, menschenleere Altstadt, die man aus Denkmalschutzgründen nicht wegreißen konnte. Ich erinnere mich, dass ich seinerzeit um eine Gasse am Olmützer Michaelsberg einfach einen Bogen gemacht habe. Dort durchzugehen schien - Kommunismus hin oder her - einfach zu bedrohlich. Dabei wusste ich damals höchstens vom Märchen, was Zigeuener sind.
    Heute hat man die Zigeuner errfolgreich aus den Altstädten weggebracht. Wie man hört, hat man ihre Abwanderung nach - Kanada (!) gefördert - Tschechen sind schlau, wenngleich kaum seltlos oder ethisch einwandfrei agierend.
    In Panelhausvierteln gab es immer wieder Probleme mit ihnen, siehe die "berüchtigte", von unserren Medien liebevoll und mitleidsheischend aufbereitete Geschichte um die "Mauer von Ústí". Freundin Kaoru wird natürlich über die Intoleranz der nicht romanesken Bewohner empört sein, die sich kulturunsensibel das Recht erdreisteten, nach Mitternacht in Ruhe schlafen zu wollen.
    Aber generell dürfte das von Heimdall skizzierte Problem in recht geringem Ausmaße bestehen.
    2) Entscheidender ist ein anderer, hieer nicht gewürdigter Aspekt: Plattenbauviertel sind die zeitgemäße Anwort auf die heutige Verkehrssituation. Das Wohnen an tiefen Gründerzeitstraßen, in denen der Verkehrslärm widerhallt, ist belastend geworden.
    Plattenbauten gewähren viel Sonne, grünen Ausblick, liegen verkehrsberuhigt, und sind zumeist verkehrstechnisch gut angebunden.
    Mit der auf manche Menschen niederschmetternden Fernwirkung ist man im Inneren nicht konfrontiert. Dazu kommt eine gute Erreichbarkeit von Naherholungsgebieten.
    3) Dazu kommt eine Sehnsucht nach dem früheren Lebensgefühl.
    Nicht alles war im Kommunismus schlecht. Es gab Arbeit, Brot, Freizeit, leistbare Preise, und es war die Zeit, in der meine Generation jung war. Der Rückblick verklärt, auch dieser Aspekt gehört dazu.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

    2 Mal editiert, zuletzt von ursus carpaticus (5. Mai 2014 um 15:02)