Berlin - Reichstagsgebäude und Spreebogen

  • Der dort dargestellte Hammelsprung ist übrigens unter dem amtierenden, die Geschäftsordnung des Parlaments missachtenden Bundestagspräsidium durch eine subjektiv-überschlägige Feststellung der Beschlussfähigkeit ersetzt worden.

    Und das ist leider rechtens.
    Im Speziellen handelt es sich um die nächtliche Sitzung am 27.06.2019 unter der Präsidiumsleitung von Claudia Roth (Grüne). Hier sollte um 01:30 Uhr (!) über eine Gesetzesvorlage zur "Anpassung des Datenschutzrechts" abgestimmt werden. Es waren ca. 90 von 709 Abgeordnete anwesend.
    Der Antrag der AfD, einen Hammelsprung durchzuführen, weil offensichtlich zu wenige Abgeordnete anwesend sind, wurde vom Präsidium abgelehnt - die Beschlussfähigkeit "beschlossen".
    Ich zitiere aus der Geschäftsordnung des Bundestages:
    "Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.
    Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden.
    Wird sie auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen." Zitat Ende.

    Dies bedeutet im Umkehrschluss, daß, wenn der Sitzungsvorstand diesen angemeldeten Zweifel nicht bejaht, die Beschlußfähigkeit gegeben ist - egal, wieviele Abgeordnete zugegen sind. Ein Skandal.

    Also: dieser Teil der Geschäftsordnung führt sich selbst ad absurdum - kann doch der Sitzungsvorstand einfach bestimmen, daß die Beschlussfähigkeit gegeben ist, obwohl sie das de facto nicht ist.
    Begründet wird dies damit, daß die Abstimmung im Bundestag zwar rechtlich notwendig, aber u.U politisch ohne Bedeutung sein kann, weil die Sache bereits in Ausschüssen und Fraktionen vorgeklärt ist.

  • Auf den meisten von mir auffindbaren Ansichten des alten Sitzungssaals befindet sich dort über dem Sitz des Präsidenten, wo im heutigen Plenarsaal der Bundesadler wäre, diese helle Leerfläche. Es gibt aber auch Ansichten, auf denen eine große Wandmalerei zu sehen ist. Weiß jemand was dort genau zu sehen war und warum es entfernt worden ist?

    Zahlreiche Ausstattungsdetails wurden erst nach der offiziellen Einweihung angegangen. Wallot hatte noch 1895 mit Anton von Werner über eine Ausmalung verhandelt. Die kleineren Gemälde sollten dabei Grund- und Schlusssteinlegung des Gebäudes, das mittlere Hauptgemälde eine Version von Werners bekannter Kaiserproklamation zeigen. Die Bismarck nicht ganz wohlgesonnene Stimmung im Reichstag jener Zeit, hat dies aber verhindert und die Pläne wurden nicht weiter verfolgt.
    Erst 1907 wurde ein neuer Wettbewerb zur Ausmalung des Plenarsaales ausgeschrieben, den der Münchner Professor Angelo Jank für sich entschied.
    Janks "Reichstags-Triptychon" zeigte in der Mitte eine Szene des Deutsch-Französischen Krieges. Kaiser Wilhelm reitet, umringt vom Kronprinz Friedrich-Wilhelm, Bismarck, Moltke und Roon nach der Schlacht von Sedan am 2. September über das Schlachtfeld. Die linke Szene stellte Karl den Großen beim Empfang von arabischen Abgesandten des Kalifen Harun ar-Raschid dar, die den Kaiser um Unterstützung im Kampf gegen die Kalifen von Cordoba ersuchen. Das rechte Gemälde zeigt die Unterwerfung der lombardischen Städte und Mailand durch Friedrich I. Barbarossa 1158.

    Hier einige Studien des Malers:
    https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitData/ima…_1912/1/042.jpg
    https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitData/ima…_1912/1/041.jpg
    https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitData/ima…_1912/1/040.jpg
    https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitData/ima…_1912/1/039.jpg
    https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitData/ima…_1912/1/043.jpg


    Die Gemälde waren sofort umstritten. Schon an der Motivauswahl störten sich die Kritiker. Stresemann, damals weitgehend unbekannt, monierte bspw. die Wahl einer kriegerischen statt einer parlamentarischen Szene. Bemängelt wurde zudem die moderne, der Sezession verhaftete Malweise von Jank. Darüberhinaus stoß man sich an historischen Ungenauigkeiten wie dem dicken Wintermantel Wilhelms, obwohl die Schlacht an einem warmen Spätsommertag geschlagen wurde. Auch die unübersehbar im Dreck liegende französische Flagge erregte Anstoß (auch international).

    Im Herbst 1908 wurden die Gemälde im Plenarsaal aufgehangen:


    https://i.ebayimg.com/images/g/60oAAOSwDJZb2rkQ/s-l1600.jpg (groß) (Die Szene mit Karl dem Großen ist hier falsch beschrieben)


    Zu sehen waren sie dort aber nur wenige Wochen. Schon Anfang 1909 wurden sie nach einer Entscheidung der Ausschmückungskommission aus dem Plenarsaal entfernt und im Sitzungssaal des Haushaltsausschusses aufgehangen, dem zweitgrößten Saal nach dem Hauptplenarsaal. Gelegen im 1. OG über dem Osteingang. Dort hingen die Gemälde mindestens bis 1933. Pikanterweise wurde dort im August 1914 auch über die Kriegskredite abgestimmt, was ein elsässischer Abgeordneter mit Verweis auf die Gemälde kritisch anmerkte.

    Den Reichstagsbrand hatte der Saal unbeschädigt überstanden. Der Prozess machte einige Ortstermine im Gebäude und traf sich dort. Auf Fotos, die häufig fälschlicherweise mit dem Leipziger Reichsgericht als Aufnahmeort betitelt sind, sind die Gemälde im Hintergrund zu sehen. Das weitere Schicksal ist wohl unbekannt.

    https://media-cdn.sueddeutsche.de/image/sz.1.161…75?v=1522292162
    https://media04.berliner-woche.de/article/2015/0….jpg?1554761647

    Danach blieben die Plätze für die Gemälde im Plenarsaal leer. In Weimarer Zeit sind sie immer mal wieder für Inszenierungen genutzt worden. Reichskunstwart Edwin Redslob nutzte den Platz bspw. für verschiedene Reichsadlerdarstellungen wie hier bei einer Kundgebung im Reichstag zum „Pfalz- und Rheintag“ 1924. Adler-Entwurf von Ernst-Böhm.

    https://3.bp.blogspot.com/-4VpkZuRsG-8/W…%2B1924%2B2.jpg

    Dieser Adler hing wohl, mindestens zu feierlichen Anlässen wie dem Verfassungstag, bis 1929 im Reichstag.

    Einmal editiert, zuletzt von Saxonia (8. Juli 2019 um 13:26)

  • Ergänzung zu den 'Metamorphosen' der Ostwand des Plenarsaals

    So in etwa dürfte man sich die - von Saxonia angesprochene - ursprünglich von Wallot intendierte Version der Ostwand des Plenarsaals mit den Gemälden Anton von Werners vorzustellen haben: Links die Grundsteinlegung des Reichstages, in der Mitte eine Holzschnittfassung von Werners 'Kaiserproklamation' (aus dem Jahre 1880, die deutlich von der älteren 'Schloßversion' von 1877 abweicht) und rechts die Schlußsteinlegung des Reichstages 1894. In den Konchen sind die Tugend-Statuen von Fritz Klimsch frei ergänzt.


    Ob der folgende Holzschnitt, der die erste Sitzung im neuen Reichstag 1894 zeigt, tatsächlich die seinerzeitige Realität wiedergibt, kann bezweifelt werden. Es sei denn es handelte sich bei den zu sehenden drei Gemälden um ephemere Kunst.

  • Der Plenarsaal im DDR-Spielfilm

    Übrigens hat sich die DEFA die Mühe gemacht, für einen Propaganda-Film über Ernst Thälmann den Plenarsaal in den Babelsberger Studios recht exakt zu 'reanimieren'.

    Über den Inhalt dieser Filmsequenz brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Selbstredend teile ich nicht die zum Ausdruck kommenden Ansichten dieses KPD-Vorsitzenden... ;)


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  • Ein Krummstab im Reichstag

    Auf einem der zahllosen Reliefs innerhalb des Reichstages war die folgende Bischofsstabkrümme zu sehen. Da sie sich auf dem Relief im Kontext von weiterem, eindeutig identifizierbarem historischem Assescoire befand, nehme ich an, daß auch sie nicht bloß der Phantasie des Bildhauers entsprungen war, sondern ein konkretes historisches Vorbild besaß. Die Krümme enthält eine Darstellung der beiden Apostelfürsten (Petrus - mit den Schlüsseln; Paulus - mit dem Schwert). Meiner Meinung nach könnte diese Krümme in einem der Kirchenschätze von Mainz, Köln, Aachen oder Frankfurt a.M. angesiedelt sein; aber belegen läßt sich das bisher nicht.

    Weiß hier ein Miforist vielleicht mehr ?

  • Würden hier Einwände gegen die These bestehen, daß es sich bei der Krümme um ein reales oder fiktives Exemplar aus den Beständen des Hohen Doms zu Brandenburg an der Havel handelt ? Denn diese Kathedrale war - soweit ersichtlich - die einzige in deutschen Landen, die unter dem gemeinsamen Patrozinium von Petrus und Paulus stand. Wenn dem so wäre, würde das Relief von der Hand Otto Lessings ein in sich stimmiges Programm einer borussistsich aufgefaßten Translatio Imperii enthalten, welches ich hier in den nächsten Tagen aufzeigen möchte. Paul Wallot - als Ideengeber - hätte mit diesem eine ikonographische Glanzleistung vollbracht...

  • Eine sehr scharfsinnige Überlegung. Man müsste die Bestände des Brandenburger Domschatzes eruieren, eventuell ist die Krümme auch auf einem Epitaph dargestellt?

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.


  • Aus meinem Staube…


    Auf der Zentralachse des Reichstages, über dem Durchgang von der Kuppelhalle zur westlichen Vorhalle, befand sich das oben stehende Relief. Jeder, der das Parlament durch diesen Haupteingang verließ, konnte es sehen – eventuell umstrahlt von der untergehenden Sonne im Westen…

    Beschreibung

    Das Relief besteht aus vier, in der Tiefe des Raums hintereinander liegenden Ebenen:

    Zuvorderst sieht man einen auf dem Rücken liegenden Drachen mit nach außen gebogenen Gliedmaßen, der zwar kein Feuer mehr speit (sein bezahntes Maul ist annähernd geschlossen), aus dessen Rumpf aber noch Flammen hervorquellen. Auf diesem Drachen hat sich ein Adler mit majestätisch ausgebreiteten Flügeln niedergelassen, welcher ein Blitzbündel in den Fängen hält. Der Drachen schaut zu dem Adler auf, welcher diesen Blick aber nicht erwidert und mit nach oben gewendetem Kopf über den Drachen hinwegschaut.

    Die um eine Stufe erhöhte zweite Ebene enthält – links vom Drachenkopf – die ehrwürdige Reichskrone und – rechts vom geringelten Drachenschwanz – ein gerolltes Dokument mit angehängtem Siegel.

    Die dritte Ebene besteht aus einem Altar (dessen Oberkante von einem uneinheitlichen Fries abgeschlossen wird )auf dem Gegenstände liegen bzw. gegen diesen gelehnt sind: Über die linken Kante des Altars ist die kaiserliche Stola mit ihren markanten, von zweireihigen Perlen-Kreisen umgebenen Adler-Medaillons geworfen. Gegen den Altar gelehnt und von den Falten der Stola umgeben, erkennt man das von einem Adler gekrönte Zepter der mittelalterlichen deutschen Könige. Ihm zur Rechten, das kaiserliche Zeremonienschwert, dessen Scheide mit seinem Gurt locker umwickelt ist. Das Ende des Letzteren überlagert den Stab des Königszepters. (Bis auf das Königszepter befinden sich alle diese Kleinodien heute in der Geistlichen und Weltlichen Schatzkammer der K.u.K Hofburg in Wien). Hinter Zepter und Schwert wird – auf dem Altar stehend – der Reichsapfel teilweise sichtbar. Über der rechten Kante des Altars befinden sich ein Bischofsstab mit Petrus und Paulus in der Krümme sowie ein zweiarmiges Metropolitenkreuz.

    Die vierte und hinterste Ebene besteht aus einer Sonnendarstellung, deren Scheibe zwischen den Flügeln und dem Kopf des Adlers sichtbar wird und deren abwechselnd gerade und züngelnde Strahlen den oberen Hintergrund des Reliefs dominieren. Über Allem schwebt, die vier Ebenen verbindend, die heraldische Krone des deutschen Kaiserreichs, deren beschriftete Infuln durch die Strahlen der Sonne geflochten sind und deren Korpus über dem Kopf des Adlers positioniert ist.

    Deutung

    Die Deutung soll mit der Feststellung beginnen, daß das Relief von einer- aus kaiserlichem Zeremonienschwert, Blitzbündel und Drachenschwanz gebildeten – deutlichen Diagonalen unterteilt wird. Wenn man zudem die Sonnenscheibe, das Zeremonienschwert und den Bischofsstab als Bestandteile eines Uhren-Ziffernblatts versteht, dann wäre der Bereich links dieser Diagonalen als die ältere Zeit (also die Vergangenheit) und der Bereich rechts derselben, als die jüngere Zeit (Gegenwart und Zukunft) anzusehen.

    Nach der Theorie von Harry Eilenstein (Die Symbolik der Schlangen und Drachen: Die Götter der Germanen, Bd.41, S.246) haben die französischen Könige an der altgermanisches Vorstellung von einer sich in der Kampfeskraft der Berserker manifestierenden ‚Feuerschlange’ in ihrem stilisierten Symbol der ‚Fleur de Lys’ in sublimierter Form festgehalten , welch Letztere somit keine Lilie, sondern die Person des für den Kampf brennenden Königs selber ist und dadurch mittelbar auch eine Feuerschlange, einen Drachen, darstellt. Insofern wäre der auf dem Boden liegende – vom Adler offensichtlich überwundene – Lindwurm nicht bloß als allgemeines Symbol der dem deutschen Volk missgünstig gesonnenen Mächte zu betrachten, sondern auch ganz konkret als Symbol der französischen Monarchien (insbesondere von Ludwig XIV, der die von Kardinal Richelieu ersonnene Staatsdoktrin von der Rheingrenze erstmals umsetzte, bis hin zu Napoleon III., der an dieser weiterhin offensiv festhielt.) Die auf dem Boden vor dem Altar liegende Reichskrone, sowie die übrigen abgestellten Reichskleinodien sind hier natürlich als ganz buchstäblicher Verweis auf die - von den Aktivitäten des Usurpators Napoleons I. hervorgerufene - Niederlegung der Kaiserwürde durch Franz II. und damit auf das Ende des Heiligen Römischen Reiches zu deuten. Das ist der Bereich der ‚Vergangenheit’ unterhalb der Diagonalen.

    Gegenwart und Zukunft werden durch Krummstab und Metropolitenkreuz vertreten, was Vielen – gerade auch Zeitgenossen der Erbauung des Reichstages als unverständlich und unpassend erschien. Wenn man diese beiden – vordergründig eher in das alte, ‚heilige’ Reich passenden Elemente aber auf den Adler bezieht, dann ergeben sich erstaunliche Konnotationen: Sie würden dann nämlich die Vorgeschichte des Adlers erhellen, welcher in der vorliegenden Form den Truppenfahnen des Soldatenkönigs mit ihrem ‚Nec soli cedit’ Adlern entsprungen zu sein scheint. Wenn man die Krümme des Bischofsstabes mit ihrer Darstellung der beiden Apostelfürsten mit dem Dom zu Brandenburg an der Havel in Verbindung setzt, der unter dem gemeinsamen Patrozinium von Petrus und Paulus stand und das doppelarmige Kreuz auf das Erzbistum Magdeburg, dessen Suffragan der Bischof von Brandenburg ja war, dann hat man hier nicht nur einen Hinweis auf die Kernlande Preußens, sondern auch – in der Überordnung der Krümme über dem Metropolitenkreuz – einen Hinweis auf die protestantische, die altkirchliche Ordnung umstürzende Prägung dieses Staates, der mit seinem 'Adler' die französische Dominanz in Mitteleuropa (symbolisiert durch den Drachen) niederwarf. Gleichzeitig könnten Krümme und Kreuz noch eine andere Bedeutungsebene haben, nämlich als Symbole für Lothringen (das zweiarmige lothringische Kreuz ist ja bekannt) und das Elsaß (die Krümme wäre dann evtl. im Kirchenschatz von Straßburg angesiedelt).

    Abschließend noch zwei Hinweise:

    Der Drachen verbindet optisch die alte Reichskrone (neben seinem Kopf) mit dem aufgerollten, gesiegelten Dokument (neben seiner Schwanzspitze). Dies könnte als Verweis darauf betrachtet werden, daß es durch die Aktivitäten der französischen Monarchien, im Verlaufe von knapp sieben Jahrzehnten dazu kam, daß die deutschen von der Staatsform der gottgegebenen Monarchie (des alten Reiches) zu der verfassungsmäßig gebundenen (konstitutionellen) Monarchie des Deutschen Kaiserreichs übergingen.

    Und nicht unterschlagen werden soll natürlich die Inschrift auf den Infuln der heraldischen Krone. Diese lautet „Exoriar Aliquis“. Das ist eine Kurzform eines Zitats aus der ‚Äneide’ (4,625) von Virgil: „Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultur“. Frei übersetzt: „Ein Rächer wird aus meinem Staube (wörtlich Knochen) erstehen“. Das Zitat ist in seinem Kontext auf dem Relief natürlich zunächst einmal retrospektiv zu verstehen, nämlich als Deutung der Gründung des Bismarck-Reiches als Strafe an Frankreich für dessen Zerstörung des Heiligen Römischen Reiches. Wenn man die Inschrift aber auf das Relief selber bezieht, so ergäbe sich sogar die Möglichkeit einer zukunftsweisenden Interpretation, insofern derjenige, der das Relief und seine Darstellung vernichtet (und damit Einheit und territoriale Integrität des Bismarck-Reiches antastet), eines fernen Tages mit Konsequenzen zur rechnen haben wird. Nun, das Relief wurde bekanntermaßen im Zuge des sogenannten Wiederaufbaus beseitigt und wahrscheinlich dabei zerbrochen. Die Kenntnis dessen, was mit dem Kaiserreich geschah, darf hier vorausgesetzt werden.

    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…


    Abbildung 01
    Lage des Reliefs im Reichstag (roter Pfeil).


    Abbildung 02
    Aufriß der Wandelhalle (Ostwand). Das hier in Rede stehende Relief hatte auf der gegenüberliegenden Seite die exakt selbe Postition, wie sein hier rot eingekasteltes Gegenüber.


    Abbildung 03
    Zusammenstellung der Reichskleinodien


    Abbildung 04
    Kaiser Franz II. im Krönungsornat. Die Stola ist auf seiner Brust deutlich sichtbar.



    Abbildung 05
    Das kaiserliche Zeremonienschwert mit seinem Gurt (in der Mitte der Darstellung).

    3 Mal editiert, zuletzt von Pagentorn (12. Juli 2019 um 16:51)

  • Eine brillante Deutung, lieber Pagentorn, und eine hervorragende Beschreibung. Chapeau!!!
    Mir kommen noch ein paar ergänzende Assoziationen: Der Drache ist tot, das schließe ich aus den leblosen Augen. Der Adler entsteigt den Flammen wie ein Phoenix - wohl auch eine Anspielung auf die Wiedergeburt des Reiches. Und wie der Preußenadler blickt er - mit ähnlicher Flügelhaltung - gen Himmel zur Sonne, also ein Hinweis darauf, dass das Reich durch Preußen erneuert wurde.
    Dann hält der Adler das Blitzbündel Jupiters, eine Referenz auf die Kaiserwürde (der antike Kaiser als Stellvertreter Jupiters), aber auch auf den Schlüter-Adler im Treppenhaus des Berliner Schlosses, der dort für Friedrich I. steht.
    Und schließlich beschirmt er mit seinen Schwingen auch die hinter ihm dargestellten Insignien bzw. die durch dieselben repräsentierten Institutionen, ähnlich wie schon der barocke Reichsadler es tat.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Eine sehr gute und weiterführende Ergänzung, lieber Seinsheim. Vielen Dank dafür !

    Auch mir war beim Betrachten des Reliefs die Ähnlichkeit des Adlers mit dem - von Ihnen abgebildeten - denobilitierten Hoheitszeichen des Freistaats Preußen aus der Weimer Zeit aufgefallen, sodaß man eventuell über eine gewisse Abhängigkeit des Letzteren vom Ersteren spekulieren könnte...

    P.S.: Die von Ihnen abgebildeten Fensterbekrönungen - mit den in der Tat dem vorliegenden Relief sehr ähnlichen Arrangements (so z.B. hinsichtlich des Metropolitenkreuzes) - läßt mich fragen, ob es sich um Fenster aus Klosterneuburg handelt, denn ich vermeine die - barock etwas verfremdete - Rudolfinische Hauskrone und den Erzherzogshut zu erkennen ?

  • Das in der Kuppelhalle direkt gegenüberliegende Relief, welches über dem Haupteingang zum Plenarsaal angebracht war, wies nicht die Komplexität seines Counterparts auf: Hier sah man lediglich einen Reichsapfel und Zepter haltenden Löwen, umgeben von Fahnen, Lorbeerzweigen und den - mit ihren Initialen gekennzeichneten - Schilden der - bis dato - drei Hohenzollernkaiser, wobei dasjenige Wilhelms I. von der bis 1888 geltenden Version der heraldischen Krone des Kaiserreichs überhöht war und das Schild Wilhelms II. einen Rand hatte, welcher mit der Kette des Schwarzen Adlerordens besetzt war. Hier hat sich der Bildhauer Otto Lessing, der auch die Bronze Reliefs am Berliner Dom und am Eosanderportal des Schlosses schuf, wohl mal eine schöpfere Auszeit genommen; oder der Ideengeber Paul Wallot wollte mal etwa weniger Anspruchsvolles... ;)

    P.S.: Nach all den - ja immer auch auf Preußen verweisenden - Adlern, ist der Löwe hier wohl als Hommage an das zweitgrößte der vier Königreiche, also an Bayern, gedacht ?!


  • Ich habe vergessen, anzugeben, dass es sich um die Bekrönungen der mittleren Beletage-Fenster an den gartenseitigen Eckpavillons der Würzburger Residenz handelt - also um Schönbornsche Reichsikonographie.
    Was den Löwen betrifft, so wäre vielleicht neben der Assoziation mit dem bayrischen Löwen, der dann gleichsam als Waffenbruder des Adlers auftritt, eine allgemeine Anspielung denkbar. Der Löwe ist ja das klassische Attributstier für Heldenmut, Stärke, Wehrhaftigkeit aber auch fürstliche Großmut. Mit einer ähnlichen Konnotation begegnet er uns dann ja auch - wieder im Zusammenspiel mit dem Adler auf dem Kranzgesims der Kolonnade - am ehem. Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Der Leu als Herrscher zu Lande und der Aar als Herrscher zu Luft, gewissermaßen.
    Dass man beide Tiere gelegentlich kombinierte, zeigt wieder ein Beispiel als der Würzburger Residenz: die unter Adam Friedrich von Seinsheim geschaffene Wappenkartusche im Treppenhaus der Würzburger Residenz spielt auf die Allianz zwischen Fürstbischof und Kaiser im Siebenjährigen Krieg an (das Seinsheimwappen wird von zwei Löwen gehalten).

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Anbei noch einige Ansichten des 'Löwen-Reliefs':

    Auf diesem Bild sind die originalen Türen des Haupteingangs zum Plenarsaal unter dem Relief und seinen beiden flankierenden Begleitern gut zu erkennen.

    Andere Perspektive mit Blick in die südliche Wandelhalle.

    Das Relief und die gesamte Portalsituation des Plenarsaals war auch noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit - selbst nach den Graffiti-Orgien der Rotarmisten mit schwarzer Kohle - fast vollkommen intakt. Die sogenannten 'Puristen' haben in ihrem Abräumwahn einen schweren Kunstfrevel begangen und wirklich Schuld auf sich geladen ! Hier steht der Fotograf unter dem 'Adler-Relief' und blickt durch die geöffneten Türen in den 1933 ausgebrannten Plenarsaal hinein bis zu den Fenstern des Ostrisalits.

  • Die willkürliche Zerstörung des Inneren des Reichstags ist in der Tat ein unglaubliches Kulturverbrechen gewesen.

    Noch zum Adler: Sein Kampf gegen die Schlange findet sich schon in der Antike (römische Mosaiken) und dann natürlich auf Schinkels Schlossbrücke. Im Kaiserreich scheint dieses Motiv gleichfalls recht beliebt gewesen zu sein. Gelegentlich wird es sogar noch heute bemüht (Cover des Spiegel). Selbst als Attributstier des Evangelisten Johannes habe ich ihn schon einmal gegen die Schlange kämpfen sehen (in St. Johann in Südtirol), wohl in Anspielung auf die Legende, dass das Gift, das man Johannes in einem Becher reichen wollte, daselbst in Gestalt einer Schlange entwich.

    Wer einer Halbwahrheit eine weitere Halbwahrheit hinzufügt, schafft keine ganze Wahrheit, sondern eine ganze Lüge.

  • Lieber Seinsheim,

    schön, daß sie mit dem Mosaik ein Element aus dem Großen Kaiserpalast in Konstantinopel hier einstellen und damit in die 'Ahnenreihe' des Adler-Reliefs in der Kuppelhalle des Reichstags aufnehmen !

  • Aber wir brauchen gar nicht bis in die Hauptstadt des christlichen Byzanz zu schauen, dann auch am Reichstag selber fanden sich weitere Darstellungen des mit Schlangen kämpfenden Adlers: So z.B. oberhalb des Südportals - und dort in spiegelbildlicher doppelter Ausführung. Hier ist der Adler offenbar in einer regelrechten Schlangengrube gelandet, denn man erkennt gleich drei Reptilienköpfe...


  • Auch die Adler hatten den Krieg - größtenteils - überdauert, wurden aber dann bei der 'Renovierung' des Reichstages in den 1960er Jahren abgeräumt:

    Dies Nachkriegsfoto läßt zumindest den westlichen der beiden Adler noch erkennen:

    Bild aus der Gegenwart mit dem nun oben 'kahlen' Südportal: