Lutherstadt Wittenberg

  • Also vor jedem historischen Denkmal und Kunstwerk, an dem sich in Zukunft womöglich irgendjemand aufgrund des aktuellen Zeitgeistes stört

    Ist es Zeitgeist, sich an übelstem Antisemitismus zu stören? Wir schauen mal, was der BGH zu dem Relief zu sagen hat, wie es bis 1988 ohne Kontextualisierung zu sehen war:

    Zitat

    Zwar wies das Relief jedenfalls bis zur Verlegung der in Bronze gegossenen Bodenreliefplatte am 11. November 1988 einen das jüdische Volk und seine Religion massiv diffamierenden Aussagegehalt auf und brachte Judenfeindlichkeit und Hass zum Ausdruck.


    https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pre…22/2022094.html

    Kunsthistoriker, Historiker, Webdesigner und Fachreferent für Kulturtourismus und Kulturmarketing

    Mein Bezug zu Stadtbild Deutschland: Habe die Website des Vereins erstellt und war zeitweise als Webmaster für Forum und Website verantwortlich. Meine Artikel zu den Themen des Vereins: Rekonstruktion / Denkmalschutz / Architektur / Kulturreisen

  • Und das siehst Du als "Chance"? Also vor jedem historischen Denkmal und Kunstwerk, an dem sich in Zukunft womöglich irgendjemand aufgrund des aktuellen Zeitgeistes stört, werden nun distanzierende, abwertende, ideologische und neunmalkluge Erläuterungen angebracht, die erklären, wie der brave Bürger sich dazu zu stellen und zu verhalten hat?....

    Na, dann sehe ich schon demnächst die Tafeln vor jedem Bismarckdenkmal stehen, in denen sich von dessen "antidemokratischen, kolonialialistischen, militaristischen, sexistischen..."

    Das ist alles richtig. Es geht aber nicht um "uns", die weder ein Problem mit der Kuppelinschrift noch mit einem Kaiser Wilhelm haben. Der Zeitgeist in nun mal wie er ist, hypermoralisch, bigott und inquisitorisch. Das gilt besonders für Berlin, wo es keine Martin-Luther-Straßen mehr geben soll, Ernst-Thälmann-Straßen aber schon, und wo Straßen nach dem Krawallbruder Rudi Dutschke benannt werden. Absurd, aber Realität.

    Solange man diese Realitäten nicht ändern kann heißt es sich ihnen anzupassen, sprich: Bildersturm zu verhindern. Wenn die ach so schreckliche Kuppelinschrift am Berliner Schloss nur "geduldet" werden kann wenn daneben eine "anklagende Erklär-Tafel" steht, dann ist das natürlich unendlich infantil, aber dennoch hundert mal besser als der Bildersturm. Das gleiche gilt für das Hamburger Bismarck-Denkmal.

    Und im Fall Wittenberg halte ich die "Erklär-Tafel" sogar für sehr sinnvoll. Denn in einem Land, in dem 6 Millionen Juden ermordet werden ist ein antisemitisches Relief nun einmal keine Nebensächlichkeit oder Bagatelle, auch nicht wenn es aus dem tiefsten Mittelalter stammt.

  • Es war ja abzusehen, dass die Auseinandersetzungen um die "Judensau" an der Stadtkirche nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs weitergehen würden. Der Gemeindekirchenrat hatte schon vorher ein zwölfköpfiges Expertengremium eingesetzt. Dieser "Beirat zur Stätte der Mahnung" ist nun nach intensiver interner Diskussion zu einem Ergebnis gekommen und

    . . . empfiehlt, die Schmähplastik nicht mehr im öffentlichen, sondern in einem geschützten Raum, in einer Art Lernraum zu zeigen. Allerdings weiter innerhalb des Stadtkirchenensembles Wittenberg. Christoph Maier, Mitglied des Beirates, betont, diese Empfehlung sei kein Einknicken, sondern eine Form der Weiterentwicklung der jetzigen Präsentation.

    Bereits am 16. Juli hatte der MDR gemeldet, die Stadtkirchengemeinde sei "offen für eine Abnahme der Schmähplastik". Zu diesem Zeitpunkt war eine Neufassung des Textes der Erklärtafel bereits beschlossene Sache. Den derzeitigen Text könnt ihr auf diesem Foto lesen. Er ist sachlich und nüchtern gehalten. Mir gefällt der Text in seiner bisherigen Form und die Gestaltung des Außenraumes an der Südseite des Chores gut. Aber leider ist das in unserer heutigen Zeit zu dezent und anspruchsvoll. Unter diesen Umständen finde ich es besser, die Schmähplastik abzunehmen, als den südlichen Kirchhof in ein großes, auffälliges Holocaustmahnmal zu verwandeln. Der Kirchhof ist nämlich eines der lauschigsten Eckchen in der Wittenberger Altstadt.

    Befremdlich fand ich die Kritik von Margot Käßmann am BGH-Urteil (dazu MDR-Bericht vom 19. Juni 2022). Frau Käßmann hatte über viele Jahre leitende Funktionen in der evangelischen Kirche inne. Sie kennt Wittenberg sehr gut. Hat sie sich denn früher für eine Abnahme der Schmähplastik eingesetzt? Müsste sie ihre Kritik nicht an die eigenen Reihen, an die evangelische Kirche, richten?

  • ...wenn es ihnen mit dem Abnehmen und Einlagern zu teuer wird, könnte man auch einfach eine Regenbogenfahne davor hängen oder - noch besser - einen stabilen Sonnenkollektor davor schrauben. Allerdings hätten dann die Experten und Gremien und Journalisten weniger zu tun, und eventuelle Künstler, Schilderautoren und Gedenkstättengestalter würden nichts verdienen. Auch dies sind also Probleme im Deutschland des Jahres 2022.

  • Haben wir nicht genügend andere, enorm wichtigere Probleme in Deutschland? Warum stört man sich ausgerechnet jetzt an dieser ,, Judensau'', sie ist doch äußerst gut und klar kommentiert worden. Ich finde den Text der Erklärtafel sehr klug, mahnend und eindeutig formuliert. So viele Jahrhunderte ist sie an dieser Kirche und urplötzlich stört sich jemand an dieser historischen Figur die in ihren historischen Zusammenhang betrachtet werden muß. Da müssten noch ganz andere Dinge entfernt werden. Morgen stört sich jemand am Glockenklang, übermorgen am Kreuz auf dem Kirchturm. Ähnlich am Berliner Schloss, äh Humboldtforum. Man kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus.

    In der Architektur muß sich ausdrücken, was eine Stadt zu sagen hat.
    Eine Stadt muss ihren Bürgern gefallen, nicht den Architekten

  • Durch die komplette Beseitigung des Reliefs wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
    Mit dem Relief und der erklärenden Tafel würde der bis ins Mittelalter zurückgehende offene Antisemitismus in der Stadt sichtbar gemacht und angeprangert werden.
    Viele, weiß ich aus Erfahrung, sind sich dem tatsächlich gar nicht bewusst. Wenn sie an Diskriminierung und Verfolgung von Juden denken, denken sie ans Dritte Reich. Als ob Antisemitismus auf einmal im frühen 20. Jahrhundert vom Himmel gefallen wäre.
    Dies ist ein hevorragendes Beispiel dafür, dass dieser Hass schon sehr viel früher und in aller Öffentlichkeit zelebriert wurde.
    Durch die Tilgung dieses unschönen Zeitzeugen wird der unschöne Teil Wittenbergs Geschichte geglättet und verwischt.
    Wo auch immer man das Relief nun hinbringt und ausstellt, wird es von weniger Menschen wahrgenommen und weniger Emotionen und Gedanken wecken als an seinem ursprünglichen Ort.

  • Allerdings ist das tatsächlich eine besondere Situation. Hannah Arendt hat schon in dem legendären Fernsehinterview klar gesagt, dass man prinzipiell alles wieder gut machen kann, nur eben dieses imhumane Kapitel der Menschheitsgeschichte nicht. Das Deutschland, welches nach seinen schwärzesten Jahren alles richtig machen will, sieht sich nun diesen Dingen gegenüber und will darauf die passende Antwort finden. Ein Ruhmesblatt ist die Inschrift gewiss nicht. Eher eine Zumutung für eine weltoffene Gesellschaft. Doch es ist Geschichte und diese darf nicht einfach negiert werden. Gleiches gilbt im Übrigen für alle Hakenkreuzmotive, welche heute noch auf der ein oder anderen Kirchenglocke, Hausfassade, Treppenhaus usw. zu finden sind. Und weil man hier eben nichts wieder gut machen kann, ist es auch so ein Sonderfall.

    Überraschend ist nun der Umgang im Ausland mit solchen Dingen. Dort wickeln sich schon mal britische Studenten in einer Ausstellung in eine Hakenkreuzfahne und als Deutscher steht man staunend daneben. Das komplette Verbannen geht gar nicht. Wie soll man sich sonst ein umfassendes authentisches Bild dieser Zeit machen können? Das wird schon auf dem Gelände eines KZ schwierig, wenn nicht mehr viel Originalsubstanz erhalten ist. Vorbildlich ist der Umgang in München mit dieser Geschichte. Es gibt nicht nur eine sehr würdevolle Gedenkstätte für die Geschwister Scholl mit unglaublich guter Erzählung, auch die NS-Gedenkstätte in der Nähe des Führerbaus lässt einen mit vielen starken Eindrücken zurück. Es muss nicht extra erwähnt werden, dass gleiches auch für Dachau gilt.

    Doch man sollte die Kirche mal im Dorf lassen. Wie viele dieser Inschriften aus dem Mittelalter sind eigentlich bekannt? Ist es etwa der berühmte Einzelfall? Dann muss es doch möglich sein, diesen entsprechend auszustellen. Mit einer würdevollen Ausstellung in Münchener Qualität über die Menschen der damaligen Zeit, zu ihren Einstellungen, ihren Kabalen, ihren Lieben. Vorurteile in einer bildungsfernen Zeit. Die von Hetze zu Tragödien führen können. Und nicht einer peinlichen Negierung der Geschichte.