Mehr Abriss wagen - Abrechnung mit der Nachkriegsmoderne

  • Ein großartiges Manifest, das endlich mit der Glorifizierung der Nachkriegsmoderne schonungslos aufräumt. So deutlich und eindeutig wie Autor Alan Posener es im Artikel "Mehr Abriss wagen!" (Die Welt vom 14.11.10) auf den Punkt bringt, habe ich es bisher noch in keinem Artikel der deutschen Tagespresse gelesen:

    http://www.welt.de/print/wams/kultur/article10919990/Mehr-Abriss-wagen.html\r
    http://www.welt.de/print/wams/kultur/ar ... wagen.html

    ...

  • Obwohl der Autor hier spezifisch auf die Nachkriegsmoderne Bezug nimmt, kann ich der Botschaft des Artikels nicht zustimmen. Hier wird doch wieder in dasselbe Horn gestoßen wie eben in der Nachkriegszeit, fort mit dem Alten, nur das Neue macht uns selig. Die Bestandshüter werden als verzagt und fortschrittsfeindlich diffamiert, was muss der Autor dann nur von den Franzosen oder Italienern halten, die nicht daran denken, ihre Städte dem Umbau ausschließlich der Erneuerung zuliebe preiszugeben. Sie leben scheinbar sehr gut und zufrieden mit der Devise des konservativen Bewahrens. In Deutschland mit seiner ganz speziellen Vergangenheitsproblematik dagegen wird eine solche Haltung von intellektuellen Geistern noch immer als Zukunftsverweigerung angesehen. Nur in ständiger Umwälzung und Erneuerung liegt Fortschritt, so ihre Überzeugung. Aber wir brauchen auch das Bewährte, Vertraute, das uns bei aller Veränderung begleitet und erhalten bleibt, auch wenn es sich dabei manchmal um wenige ansehnliche Objekte handelt. Die Realisierung all der Neubauten, von denen Herr Posener schwärmt, führt uns jedenfalls auch nicht in bessere Zeiten. Da genügen schon Namen wie Zaha Hadid, und man weiß, es gäbe zwar Veränderung, aber kaum eine Verbesserung.

    In dubio pro reko

  • Na ja, das klingt allerdings schon recht eindeutig:

    Zitat

    Grundsätzlich aber verdient keine Epoche weniger Rücksicht als die Nachkriegsmoderne, die unbarmherzig mit ihren Vorgängern aufräumte und in deutschen Städten mehr Verwüstungen anrichtete als der Bombenkrieg. Gerade als Reaktion auf diese Kahlschlagmentalität entstand ja die inzwischen vorherrschende antiquarische Stimmung. Es ist schon ironisch, dass die Bauten jener Zeit nun davon profitieren.

    Und dass gegenüber der Stillosigkeit der unsagbaren Wiederaufbaumoderne ein großer ästhetischer Fortschritt gemacht worden ist, kann nicht bestritten werden.
    So gesehen möchte ich diesem Artikel meine Zustimmung nicht verwehren.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Alan Posener mag bisweilen einige lichte Momente haben, ist jedoch generell mit Vorsicht zu genießen. Mit Sehnsucht nach alteuropäischer Schönheit, d. h. mit dem Wunsch nach Rekonstruktion großartiger, aber leider zerstörter Architektur hat seine Kritik am Nachkriegswiederaufbau wenig zu tun. Vielmehr strebt er als Bewunderer der Angelsachsen, denen sich Deutschland eben nicht nur politisch, sondern auch kulturell unterordnen soll, unablässig Dynamik, Wandel und Wachstum an. Deutschlands Städte sähen in seinen Wunschbildern wahrscheinlich so aus wie Sydney, Toronto oder Kapstadt. Wer um den Erhalt eines Bahnhofsgebäudes aus der Vorkriegszeit besorgt ist, ist für ihn ein antiquarischer Nostalgiker.

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • In meinen Augen wurde mit diesem Artikel die Architektur-Debatte in Deutschland auf eine ganz neue Entwicklungsstufe fortgeführt. Erstmals findet eine Generalabrechnung für Nachkriegs-Bauten statt, deren zweifelhafte Existenz bisher einhellig in den Feuilletons akzeptiert wurde.

    ...

  • Zumindest kommt der Autor zu dem treffenden Schluß, daß die Innenstadt Köln abgrundtief hässlich sei. Er hat sich offenbar nur noch nicht damit auseinandergesetzt, wieso dies so ist und wie es grundlegend zu ändern wäre.
    Wer Architektur wie eine Eintagsfliege in den "music charts" betrachtet, wird jedenfalls immer wieder vor demselben Problem stehen. Ein neuer hit mag sich nach einer Woche im Radio überlebt haben und wird dann nicht mehr gespielt. Doch ein neues Bauwerk wird nicht nach einer Woche wieder abgerissen obwohl der "spektakuläre Effekt" längst verflogen ist. Es bleibt für Jahrzehnte stehen.
    Wir stehen vor einem fast unlösbaren Dilemma: Früher wurden Bauwerke und ganze Städte oft aus einer Hand im Auftrag eines wohlhabenden und kunstinteressierten Fürsten geplant. Wie gestaltet man aber ganze Städte im Zeitalter der Demokratie mit all seinen widersprüchlichen Interessen?

    " Dem Wahren, Schönen, Guten "

  • Sicher zu kurzfristig zum teilnehmen, doch zur Kenntnisnahme interessant, eine Veranstaltung zum Umgang mit der Nachkriegsmoderne (v.a. im Ruhrgebiet), welche die Probleme dieser Architekturepoche aufgreifen will::

    Sharing Heritage - Städtebauliches Kolloquium

    Gastgeber: TU Dortmund, Fakultät Raumplanung

    Heute 18:00 - 21:00. Rudolf-Chaudoire Pavillon, Baroper Str. 297, 44227 Dortmund

    SHARING HERITAGE –
    EIN EUROPÄISCHER PERSPEKTIVWECHSEL?

    Dr. Christoph #Rauhut, Deutsches Nationalkomitee für
    Denkmalschutz (DNK), Berlin
    > Das Europäische Kulturerbejahr 2018:
    Anliegen und Zielsetzung

    Tim #Rieniets, Landesinitiative StadtBauKultur NRW /
    Yasemin Utku, TU Dortmund
    > Big Beautiful Buildings. Als die Zukunft gebaut wurde.

    Thorsten #Brokmann, Untere Denkmalbehörde, Herne
    > Von der Bedeutung von Zeitschichten und Zeitzeugen
    für die Stadtentwicklung

    Diskussionsrunde mit Michael von der Mühlen, ehem.
    Staatssekretär, und Referenten

    Moderation: Prof. Christa Reicher, TU Dortmund

    Filmvorführung „Moderne Großstadt Dortmund“

    Beschreibung des Städtebaulichen Kolloquiums 2018

    Unter dem Motto „Sharing Heritage“ wirft das Europäische Kulturerbejahr 2018 den Blick auf die verbindende europäische Kultur und fordert zum Neuentdecken der vielfältigen Schichten des baulichen Erbes auf. Hierzu gehört auch die Nachkriegsära, die wie kaum eine andere Zeit von Innovation und neuem Zeitgeist gekennzeichnet ist. Diese Phase der Stadtentwicklung stellt einen wichtigen Teil des europäischen baukulturellen Erbes dar;
    ihre Architektur prägt auch heute noch die gebaute Realität unserer Städte.

    Jedoch ist das bauliche Erbe der Nachkriegsmoderne oft negativ konnotiert. Die Bauten sind vielerorts mit einem negativen Image und einer mangelnden Akzeptanz behaftet. Sie werfen Fragen im Hinblick auf notwendige Sanierungen und tragfähige Nutzungskonzepte auf. Auch Innenstädte und die Stadtgründungen aus dieser Phase haben mit sanierungsbedürftigen oder leerstehenden Nachkriegsbauten zu kämpfen.
    Vor diesem Hintergrund stellt die Auseinandersetzung mit diesen Strukturen und Bauten eine große Herausforderung dar. Das Europäische Kulturerbejahr 2018 bietet die Möglichkeit, einen Perspektivwechsel auf diese wichtige Phase der Stadtentwicklung vorzunehmen.

    Das Städtebauliche Kolloquium richtet im Sommer 2018 den Blick auf das Europäische Kulturerbejahr und insbesondere auf die Nachkriegsmoderne sowie auf die Anforderungen, die sich in Verbindung mit dem städtebaulichen Kontext und dem langfristigen Umgang mit diesen Baustrukturen stellen. Ausgehend vom Ruhrgebiet wird der Blick auf Europa gerichtet;
    dazu werden Experten zusammenkommen und über Perspektiven der Nachkriegsmoderne diskutieren.

    Welche Erfahrungen haben Kommunen mit Strategien und Konzepten einer nachhaltigen Gestaltung der Nachkriegsarchitektur bisher gemacht? Welche Perspektiven und neue Umgestaltungsmöglichkeiten bietet der Umgang mit dieser Epoche? Und welche Zielgruppen und Akteure gilt es einzubinden?

    https://www.facebook.com/events/1984756368508375

  • Ach erbse, das Ganze zielt doch, wie gegenwärtig üblich, nur auf eine gewollte Absolution der Nachkriegsmoderne von interessierter Seite ab. Ich kann nicht glauben, dass du dir davon irgendein kritisches Resümee in unserem Sinne versprichst. Von solchen Veranstaltungen kann man sich nur die geringstmögliche Nachhaltigkeit erhoffen.

    In dubio pro reko

    Einmal editiert, zuletzt von reklov2708 (24. April 2018 um 19:25)

  • Es mag schon sein, dass es vor allem um Begnadigung dieser Architekturepoche geht. Gerade deswegen sollten Leute "von unserem Schlage" auf solchen Veranstaltungen auftauchen und die Vertreter dieser Geisteshaltung mit abweichenden Meinungen konfrontieren. Das Umdenken beginnt nicht bei unseren Mitstreitern, sondern bei unseren Kontrahenten.

    Ich habe schon so manchen Modernismus-Anhänger "bekehrt". Sogar Architekten. Mit etwas Empathie, den richtigen Argumenten und Geduld geht das durchaus.

  • Ich habe zwar meine Zweifel, ob du tatsächlich jemals einen überzeugten Modernisten zur Klassik "bekehrt" hast, aber wenn du es sagst muss ich es ja wohl glauben.
    Bei solchen Veranstaltungen jedoch fürchte ich eher, dass einem schnell das Label "Wutbürger" angeklebt wird, wenn man zu laute Kritik übt. Man weiß ja wie heutzutage mit abweichenden Meinungen umgegangen wird, besonders wenn sich eine akademische "Elite" der Deutungshoheit versichern will. Mir scheint das eher so eine von den üblichen Alibiveranstaltungen zu werden, bei der man schon im Vorfeld weiß was unterm Strich herauskommt. Da wird dann ganz schwer "differenziert" und am Ende ist das eigentliche Problem doch nur wieder das öffentliche Ressentiment, das man eben ausräumen muss.

    In dubio pro reko

  • Schreiben kann man viel, wichtig sind die Taten.
    Deshalb kommt sicher gerade so manchem der Gedanke:
    Welche Gebäude kommen für einen Abriss in Frage?