Ent- und Wiederbestuckung von Altbauten

  • Mein Wissensstand bisher ist, dass die Vorderhäuser mit Gartenhaus einheitlich überwiegend von den Terraingesellschaften hochgezogen wurden. Dort war der Standard an sich für die damalige Zeit völlig in Ordnung.

    Schwierig wurde es dann, als die Zimmer mit immer mehr Leuten belegt wurden und weitere Querriegel und Hofhäuser von den dann kleinteiligeren Eigentümern oder teils gar den Bewohnern errichtet wurden, um mehr Platz zu schaffen. Also diese extrem dichte Bebauung im Blockinneren, die sich an vielen Stellen gar nicht bis heute erhalten hat. Sowas wie hier im Winsviertel ist schon mit das dichteste, zu Hochzeiten der Bevölkerungsexplosion war's aber wohl noch dichter. Und egal wie hochwertig man baut, viele Leute in einem einzigen Raum bei schlechten hygienischen Verhältnissen bringen immer viele Probleme mit sich.

    Berlin hat sich eben auch zwischen 1861 von rund 550.000 Einwohnern bis 1878 verdoppelt und bis 1890 verdreifacht, auf fast 1,6 Millionen. Zwei Millionen dann 1905. Und das alles noch vor "Groß-Berlin", also in einem deutlich kleineren Stadtgebiet als heute. Der gesamte Berliner Ballungsraum hatte 1914 rund 3,7 Millionen Einwohner und damit fast ebenso viele wie Paris. Siehe. Die oft schlechten Verhältnisse waren auch kein Berliner Spezifikum, sondern praktisch allen Metropolen der Hochindustrialisierung eigen, die sehr schnell stark wuchsen. In Paris und London waren die Probleme eben etwas früher dran und zur Zeit von Berlins Aufstieg in vielen Vierteln schon halbwegs gelöst.

    Und es haben durchaus viele Arbeiter auch in den Berliner Vorderhäusern gelebt, die großen Quartiere im Norden und Osten wie Friedrichshain, große Teile von Prenzlauer Berg, Moabit, Wedding, Gesundbrunnen, Reinickendorf, Pankow und Lichtenberg waren ja fast reine Arbeiterviertel. Bis auf einige Angestellten- und Beamtenhäuser u.ä. waren das dort überwiegend eben Häuser für Arbeiter, vorne wie hinten.

  • Mein Wissensstand bisher ist, dass die Vorderhäuser mit Gartenhaus einheitlich überwiegend von den Terraingesellschaften hochgezogen wurden.

    Ich habe vor Ort keine eigenen Forschungen betrieben, aber die Sekundärliteratur scheint da zuverlässig zu sein. Aus den oben von mir verlinkten Quellen:

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    Im Gefolge der zunehmenden Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich der Typus des dreigliedrigen Berliner Mietshauses mit Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus um einen Hof in dicht bebauten Quartieren mit Blockrandbebauung durch.

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    Im Verlauf der Industrialisierung nahmen aber auf die Erstellung von Geschosswohnungshäusern spezialisierte Unternehmen eine wachsende Rolle ein. Insbesondere agierten zunehmend Terraingesellschaften, die vor allem den Kauf von größeren Baugrundstücken, die Bauplanung und Verkehrserschließung für ganze Stadtquartiere abwickelten und entweder die Grundstücke an Bauherren weiterverkauften oder selbst Mietshäuser errichten ließen und diese an Investoren veräußerten oder auch im eigenen Bestand behielten, um Mieteinnahmen zu erzielen.

    Sicher wird es auch Beispiele gegeben haben, deren Hofstruktur erst nachträglich angelegt wurde. Die Regel scheinen aber obige Mietskasernen gewesen zu sein, die eben aus Vorderhaus und den entsprechenden Hofbauten bestanden. Das scheint anders abgelaufen zu sein als zum Beispiel im mittelalterlichen Lübeck, wo die Gangviertel meist eine spätere Ausbaustufe darstellten.

  • Genau das meine ich ja, dass die Grundstruktur schon in die Tiefe geplant wurde, aber dann anschließend noch weitere Verdichtung und Überbelegung stattfand. Das liest man jedenfalls in den Büchern über die Berliner Gründerzeitler bzw. Stadtgeschichte immer wieder. Vieles bleibt aber eher im Vagen, daher wäre mal eine ganz genaue Aufstellung dazu interessant, anhand konkreter Beispiele.

    Sehr interessant finde ich übrigens die Reformblöcke. Die haben mE genau das richtige Maß an Dichte und "Luftigkeit" für den dichten urbanen Raum. Ein wunderbares Beispiel ist der Helenenhof in Friedrichshain. Daran darf man sich gerne wieder mehr orientieren, was man ja z.B. beim Siegfried-Hirschmann-Park (super Projekt der Bauwert-Gruppe!) um die Ecke auch gemacht hat.

    Über die Reformblockbebauung ab 1890 gibt es ein Forschungsprojekt an der FH Potsdam, unter Leitung von Silvia Malcovati vom Architekturbüro Bernd Albers. :) Es heißt "Block.Reform.Berlin - Stadtraum und Wohnhaustypen für die junge Großstadt 1890-1940". Und von Maximilian Meisse erschien im Wasmuth-Verlag das Buch "Reformblock Berlin".

    Der Klappentext veranschaulicht dabei gut, wie relevant das auch für die heutige Zeit ist:
    "Wie plant und realisiert man heute bezahlbaren Wohnraum? Zu diesem Thema hat Maximilian Meisse (Fotograf in Berlin) zusammen mit Klaus Theo Brenner (Architekt in Berlin) und Wolfgang Sonne (Hochschullehrer in Dortmund) eine umfangreiche und repräsentative Dokumentation über den Reformwohnungsbau im Berlin des Zeitraums zwischen 1900 und 1930 erstellt. In dem von Meisse zusammen mit dem international renommierten Grafikdesigner Nicolaus Ott gestalteten Buch werden 29 Bauwerke mit farbigen Fotografien dokumentiert."

    Jetzt sind wir etwas vom Entstucken abgewichen, doch die sozialen Wohnungsthemen hängen ja eng damit zusammen.
    Der Reformstil hat auch recht sparsamen Dekor, den man bei den meisten Bauten dran gelassen hat, weil man auch in der Weimarer Republik und nach dem Krieg die sozialen Ansätze dieser Projekte durchaus zu schätzen wusste. <3

  • Hier mal ein Beispiel, wie man mit einfachsten Mitteln aus einer Kiste ein ansprechendes Haus macht. Natuerlich aus den USA, wo man ueberwiegend traditionell baut. Allein ein Dachabschluss wirkt schon Wunder (der wird übrigens aus Holz gezimmert und einfach angehängt)

    Renderings Revealed for 1321-25 North 5th Street in Olde Kensington - Philadelphia YIMBY
    Philly YIMBY shares renderings revealed for a 60-unit multi-family development at 1321-25 North 5th Street East in Olde Kensington, North Philadelphia
    phillyyimby.com

  • Charlottenburg-Wilmersdorf ist wohl der Berliner Bezirk mit der höchsten Entstuckungsquote. Hier ein paar En-passant-Beispiele für mehr oder weniger stilsichere Wiederbestuckungen:

    (Entzerrt mit Hilfe von ShiftN)

    Eingestellte Bilder sind, falls nicht anders angegeben, von mir

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    Ist das tatsächlich eine Wiederbestuckung und nicht einfach eine sanierte Fassade? Ich ahne hinter den Ästen feine Stuckreliefs zu sehen, was für eine Wiederbestuckung schon extrem aufwendig wäre.

    Generell ist jede wiederbestuckte Fassade eine große Aufwertung jedes Hauses, und es wertet die Umgebung auf. Unverständlich, dass Hausbesitzer einer Straße das nicht wollen würden.

  • Ist das tatsächlich eine Wiederbestuckung und nicht einfach eine sanierte Fassade? Ich ahne hinter den Ästen feine Stuckreliefs zu sehen, was für eine Wiederbestuckung schon extrem aufwendig wäre.

    Sicher weiß ich es nicht, da Google StreetView in Berlin "leider" aktualisiert wurde und nun auf dem Stand von 2023 ist. Dieser Teil der Goethestraße in Charlottenburg wurde im Übrigen auch überhaupt nicht in StreetView abgefahren, warum auch immer. Die Sanierung sieht ja relativ frisch aus, maximal ein paar Jahre alt.

    Für eine zumindest teilweise "freie" Wiederbestuckung würde das Hochziehen der Rustizierung bis zur 3. Etage sprechen - sehr ungewöhnlich für diese Art Gründerzeitbau. Auch die verschiedenen Arten der Fensterverdachung sind untypisch für die Spätgründerzeit. Ich kann mir vorstellen, dass die original wirkenden Stuckreliefs als einzige die Abstuckung überlebt haben, der Rest dann einfach nach Gefühl ergänzt wurde. Man sieht in Berlin nicht selten abgestuckte Gründerzeitler, bei denen das eine oder andere bauzeitliche Detail stehen gelassen wurde, sei es aus Bequemlichkeit oder schlechtem Gewissen. Hier mag es so gewesen sein.

    Eingestellte Bilder sind, falls nicht anders angegeben, von mir

  • Charlottenburg-Wilmersdorf ist wohl der Berliner Bezirk mit der höchsten Entstuckungsquote. Hier ein paar En-passant-Beispiele für mehr oder weniger stilsichere Wiederbestuckungen:

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    (Entzerrt mit Hilfe von ShiftN)

    Dieses Gebäude ist die Pestalozzistrasse 34 in Wilmersdorf.

    Saniert von 2017 bis 2020 - außen wurde das Haus "nur" angestrichen. Der bescheidene Schmuck war schon dran.

    Nachtrag: auf meinem in der Rubrik Bilderrätsel eingestellten Foto sind die Schäden über den Gesimsen nicht zu übersehen.