Neue "Gründerzeitarchitektur" in Osteuropa

  • Ich frage mich hier langsam warum ausgerechnet Städte wie Nürnberg, die beim Wiederaufbau um eine Erhaltung des alten Stadtgrundrisses bemüht waren und auch eine strenge Gestaltungssatzung vorschrieben, hier derart negativ bewertet werden. Auch München ist diesbezüglich eigentlich besser als sein Ruf.

    Natürlich haben solche Städte vieles nicht mehr 1:1 wiederhergestellt aber es wurden zumindest Stil und Proportionen beibehalten. Und selbst wenn es in vielen Fällen nur Neubebauung war, die an die alte Bebauung angelehnt wurde, ist das immer noch besser als eine weitgehende Abkehr von der Ursprungsbebauung wie bspw. in Stuttgart. Und daher spielt eben Nürnberg eben schon wieder in einer höheren Liga als die Hauptstadt des Ländles. Und insbesondere was Nürnberg betrifft sollte man hier durchaus die hervorragende Arbeit der Altstadtfreunde würdigen. Sicher haben die bisher kein historisches, kriegszerstörtes Gebäude komplett neu errichtet aber dafür noch vorhandene Originalsubstanz saniert und deren Ursprungszustand wieder hergestellt.

    Und ganz nebenbei zeigen Beispiele wie Dresden und Frankfurt, daß offensichtlich auch in D ein Gesinnungswandel zumindest in den Ansätzen erkennbar ist. Und selbst wenn man dort vorerst nur Teilbereiche der Altstädte wiederherstellt und dabei auch Kompromisse eingeht ist mir das immer noch tausendmal lieber als wenn man gar nichts wiederherstellt und Westwall-"Architektur" wie das Technische Rathaus weiterhin das Stadtbild verunstalten würden.

    Aber offensichtlich stehen sich hier zwei unvereinbare Meinungen gegenüber – die einen, die eine möglichst kompromißlose Rekonstruktion fordern, und die anderen, die durchaus auch etwas weiter reichende Kompromisse akzeptieren.

    Sicher: ich würde mir in allen diesen Städten mehr Mut zum traditionellen Bauen wünschen. Die Stadtverwaltungen sollten auch ruhig mal den Mut haben Gestaltungssatzungen zu erlassen, die bspw. ein Plastefenster-Verbot vorsehen.

    Allerdings sollte neue traditionelle Architektur sich dann auch von den Proportionen her einfügen. Die sind aber bei einigen der osteuropäischen Beispiele für Städte im süddeutschen Raum einfach zu groß.

  • Zitat von "Altbaufreund"

    Ich frage mich hier langsam warum ausgerechnet Städte wie Nürnberg, die beim Wiederaufbau um eine Erhaltung des alten Stadtgrundrisses bemüht waren und auch eine strenge Gestaltungssatzung vorschrieben, hier derart negativ bewertet werden.

    weil auch er historischste Stadtgrundriss nichts nützt, wenn er mit Schrott gefüllt ist.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Daß in der Nürnberger Altstadt reichlich Schrott herumsteht steht außer Frage: Sebalder Höfe, Pellerhaus, Universitätsbunker, Neues Museum, Germanisches Nationalmuseum, Maximum, Parkhäuser etc.) steht sicher außer Frage. Aber der historische Stadtgrundriß ist eben nicht nur oder ausschließlich mit Schrott gefüllt. Gerade bei Nürnberg würde sich durch gezielte Nachbesserungen an Bestandsgebäuden noch sehr viel herausholen lassen.

  • Steht außer Frage, doch leider erfolgte die Verwendung des Konjunktives völlig zurecht, wie man aus allen aktuellen Nürnberg-Strängen ersehen kann.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Sind wir wieder in der alten und endlosen Nürnberg-Diskussion angelangt...

    Meine unwesentliche Meinung: Hätte man das Niveau der Königstraße im gesamten Kern beibehalten, und z.Bsp. nicht zwei Kasseler Fußgängerzonen integriert, Nürnberg wäre eine der vergleichsweise vorbildlichen Wiederaufbaustädte Deutschlands. Ich finde in Nürnberg einige positive Ansätze, die ich in anderen deutschen Großstädten nicht finde, deshalb fällt es mir schwer, in den pauschalen Tenor miteinzustimmen. Nürnbergs Problem ist wohl v.a., daß die positiven Aspekte nicht stringent genug umgesetzt worden sind und sich auf Teilbereiche beschränken. Freiburg z.Bsp. wirkt dagegen wie aus einem Guß.

    Aber der Strang hier hat einen anderen Namen, nicht? :zwinkern:

    Ich entschuldige mich von Herzen für meine früheren arroganten, provokanten, aggressiven und unfreundlichen Beiträge!
    Jesus ist mein Herr und Retter!

  • Sieht aus wie eine Kreuzung aus Michaelertrakt und Petersburger Schlossplatz - bin echt verblüfft - so etwas gibt es wohl nur im Land der Oligarchen - Wahnsinn!

  • die einzige Rettung dieses Monsters könnte der Baum sein. Leider ist er zu klein, um Entscheidendes zu bewirken.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Eine ähnliche Geschichte wie der abstrahierte Klassizismus der Dreißigerjahre oder die sowjetischen Arbeiterpaläste - obwohl sich sofort Gedanken an Absurdität, akademische Barbarei, Größenwahn und Maßlosigkeit aufdrängen, stimmen doch die Proportionen in sich selbst. Anders als etwa die türmchenbesetzten Riesenplatten Jekaterinburgs oder Moskaus. Man kann dem Monster eine gewisse "Gefälligkeit" nicht absprechen; auch wenn der pseudosezessionistische Baum wirklich viel verdirbt...im Stranggewirr von Skyscrapercity.com lassen sich ungezählte Beispiele finden, wie es weit, weit bizarrer zugehen kann, wenn nur die Kohle stimmt.

    Den gezeigten Bau zwei Nummern kleiner - und man könnte nur wenig Unterschiede zu einem gründerzeitlichen Verwaltungsbau in einer mitteleuropäischen Großstadt finden. Auch dort waren die Maßverhältnisse zwischen Kuppel, Geschoßhöhen, Gliederungen ect. nicht überall der "Bringer"; mitunter sogar weit grotesker.


    Ich weiß ja nicht, wie es euch geht...aber nach längerem Betrachten solcher Gebäude sehne ich mich nach einer ruhigen, spießig-deutschen Nürnberger Fußgängerzone (die IMO übrigens verbesserungswürdig, aber auch -fähig! ist, aber jene Fragen und das Strangthema schließen sich wohl wirklich aus)...*fg*

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat von "erbsenzaehler"

    Sehe den Baum eher als Unkraut für den Bau. Die Proportionen sind eigentlich halbwegs stimmig, aber Fenster, Baum und Kuppel verderben doch einiges.

    Nein. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall. Gerade dieser Baum wäre bei gelungenerer Inszenierung die einzige Chance gewesen, aus dem Machwerk noch was Vernünftiges zu machen. Hier ist nämlich ein halbwegs origineller Ansatz zu spüren. Warum angesichts dieses Monsterkitsches Angst vor seiner selbst bewusstem, immerhin originell auf die Spitze getriebenem Kitsch haben?

    Zitat

    aber nach längerem Betrachten solcher Gebäude sehne ich mich nach einer ruhigen, spießig-deutschen Nürnberger Fußgängerzone

    Jetzt übertreib mal nicht...

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
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  • Ganz schön durchgeknallt. Aber warum nicht mal ein bißchen spinnen (solange das kein Standard wirth)? Langeweile gibt es jedenfalls zur Genüge...

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  • Schlägt einem schon irgendwie auf den Magen, das Ding. Es täuscht Eigenschaften vor, die es zu offensichtlich nicht besitzt.
    Deswegen bin ich im Zweifelsfall auch eher für Rekonstruktion statt Neuschöpfung, weil das authentisch ist, neu gebaut aber in der originalen architektonischen Form, die wahrheitsgemäß die Ursprungszeit des Gebäudes aufzeigt. Das Plündern historischer Baustile, das solche übertriebenen Ergebnisse wie in Kazan hervorbringt, kann als Beispiel für neue klassische Architektur nicht meine Zustimmung finden.
    Bei einer Neuschöpfung bin ich eigentlich für die Ehrlichkeit der Architektur z.B. von Patzschke oder Nöfer, die klassische Formen behutsam integriert und als Momentaufnahme von der neuerlichen schrittweisen Auseinandersetzung mit traditioneller Baukunst erzählt, aber insgesamt doch die Gegebenheiten ihrer Zeit erkennen lässt. Stilvolle Annäherung statt vulgärem Ausbeuten sollte den Umgang mit alten Vorbildern bestimmen.

    In dubio pro reko

  • Riesenschreibmaschine mit geflügelten Hyänen und reiner stalinistischer Hinterseite. Die "Sezessions-Elemente" sind in der Tat die einzig originellen, stimmen aber in den Proportionen nicht (Baum zu schwülstig und unelegant und Kuppel zu ärmlich).

    Dieser Bau kann als der Beweis davon dienen, daß klassisches Bauen nur erfolgreich sein kann, wenn es auch geschmackvoll geschieht- mit stimmenden und menschlichen Proportionen, Beschränkung und Zurückhaltung, und echte klassische Tradition.

    Übrigens scheint mir der Bau auch an das Reichtagsgebäude angelehnt, schon in der Grundriß mit den vier Eckpavillions, die auch ein ähnliches Fassadenmuster haben.

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Ich habe mich mal durch die Links durchgekämpft.

    1. Elbing: Ich finde die Altstadtrekonstruktion mit moderner, aber traditioneller Architektur großenteils sehr gelungen. Gratulation nach Polen.

    2. Der Link zu dem Architekturforum. (Seitenangaben in Klammern)
    Die russischen/ukrainischen Bauten (1) gefallen mir teilweise auch sehr gut. Sie haben durchaus russischen Charakter, aufgrund der Ornamentik und Farbigkeit. Manche sind etwas zu postmodern verspielt (Glasspielereien), andere etwas zu wuchtig, aber insgesamt eine ansprechende großstädtische Architektur.
    Der auf Seite 21 gezeigte (offenbar auch russische?) Komplex allerdings scheint denn doch etwas übertrieben. Zumindest etwas für Freunde von Fantasy-Burgen oder Herr der Ringe-Fans.
    Den asiatischen Hochhausbauten kann ich fast gar nichts abgewinnen. (2, 5) Sie scheinen mir nur seltsame Kopien von New Yorker Art-Deco-Wolkenkratzern, teils völlig unpassend platziert. Die Wohnsiedlungen incl. Townhouses (5) hingegen scheinen sehr menschlich proportiert und wohnlich gestaltet. Es müßte aber zu prüfen sein, ob sie einen landestypischen Charakter aufweisen. Dazu kenne ich mich in vietnamesischer Baugeschichte zu wenig aus, um das beurteilen zu können.
    Dem Berliner "Tacheles"-Projekt ist natürlich eine Realisierung zu wünschen. (3) Und sie zeigen in diesem Forum ja auch wirklich die Berliner Schokoladenseiten bzw. -planungen. (6)
    Das Benelux-Stadtviertel finde ich monströs. Überhaupt kein Vorbild. Eher schlimm. (4)
    Die polnischen Beispiele sind bisweilen einfach zu bunt geraten. Dadurch geraten sie, trotz teils phantasievoller Formgestaltung und positiver Kleinteiligkeit, in die Gefahr als "Disneyland" angegriffen zu werden. Aber vielleicht liegt die grellere Farbe ja in der polnischen Seele begründet (?). Das Danziger und das Allensteiner Projekt scheint aber angenehmer zu gelingen. (12) Auch das Haus in Posen (19).
    Das Wohnviertel in Wilna erscheint angenehm, wenngleich unspektakulär. (5)
    Die Araber hingegen scheinen schlicht zu spinnen. Nach Dubai wollen sie wohl nun Mekka mit Hochhauskitsch zuklotzen. Irgendwo zwischen Big Ben und New York. Auweia. (10)
    Das moderne Fachwerk auf Seite 18 wirkt eigentlich gar nicht schlecht. Warum nicht so etwas öfter für den Einfamilienhaus-Bau?

    Na gut, jetzt reichts...

    3. Aber zu dem Landwirtschaftsministerium in Kasan noch etwas. Mir gefällt der Bau eigentlich gut. Er hat eine herrliche Dynamik und Monumentalität. Der Baum in Verbindung mit der tollen Kuppel gibt dem ganzen eine besondere Note. So hätte ich mir die Regierungsbauten in Berlin gewünscht. Dass das Gebäude aber selbst in diesem Forum auf so wenig positiven Widerhall stößt, zeigt mir eben doch den hierzulande (noch) alles dominierenden deutschen Charakter, auf den sich solche osteuropäische Unbekümmertheit und Verspieltheit nicht übertragen lässt. Der Deutsche ist offenbar ernst, nüchtern, sachlich, rational. Und natürlich hat er auch deshalb mit dem "Bauhaus" vermutlich genau das bekommen, was ihm gebührt und offenbar gar nicht so wesensfremd ist. Doch, da dies nicht als Schelte, eher als Zustandsbeschreibung mit deprimiertem Unterton verstanden werden soll, will ich auch die Kritikpunkte des Baus nicht unterschlagen: Die Fenster passen nicht. Dunkle Metallrahmen sind für ein solch traditionell empfundenes Gebäude nicht die richtige Wahl. Auch ist das Erdgeschoss der Hinterseiten-Höfe mißlungen. Hier bedürfte es Nachbesserung. Der Sockel müßte mit Natursein aufgemauert werden, mindestens die Eingangsbereiche eine Naturstein-Einfassung erhalten. Und einige tatarische Ornamente würden einem solchen Bau sicher auch gut tun. Ansonsten aber doch großes Kino, schon durch die Funktion als Kontrapunkt in der Moderne.

  • Zitat von "Heimdall"

    den hierzulande (noch) alles dominierenden deutschen Charakter / Der Deutsche ist offenbar ernst, nüchtern, sachlich, rational.

    Aber die deftigste Kritik kommt doch aus Österreich?! ;)

    Ich entschuldige mich von Herzen für meine früheren arroganten, provokanten, aggressiven und unfreundlichen Beiträge!
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  • Na und, glaubst, dass wir nicht ernst und sachlich und nüchtern sind? (gut, was Letzteres betrifft, sind gewisse Abstriche zulässig...)
    Auf jeden Fall sind (dh , leider muss man sagen: WAREN, heute sind wir homines americani wie alle übrigen Europäer geworden) wir geschmacklich höchst penibel.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Zitat von "ursus carpaticus"

    Auf jeden Fall sind wir geschmacklich höchst penibel...


    ...und vergessen dabei ganz gerne, daß Geschmack eine relativ subjektive Angelegenheit ist. ;)

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