Normannisches Fachwerk

  • Zitat

    Zitat von RMA:

    Da aus vornormannischer Zeit in England kaum Bauten, und erst recht keine Holzbauten erhalten sind, ist nicht mehr festzustellen, ob es hier vor dem 11. Jahrhundert eine eigene Tradition existierte.


    Ich weiß nicht, wie glaubwürdig die Angaben dieses Zeitungsartikels sind, aber wenn die Angaben zu Alter des Gebäudes stimmen, es wäre eine echte Sensation.
    1,000 years on, and still going strong - Telegraph

  • Die 1.200 Jahre entstammen in dem Fall ja einer Radiokarbondatierung - da wäre ich ebenso vorsichtig wie verwundert. Heutzutage kann man auch zerstörungsfrei Dendro-Kernbohrungen vornehmen, warum hat man das hier nicht gemacht, um absolute Gewissheit zu erhalten? Ferner scheint es sich bei dem Teil aus dem vermeintlichen 9. Jahrhundert nur um einen einzigen zweitverwendeten Balken zu handeln, der, so nehme ich mal an, bei einem Neubau des 12. Jahrhunderts wohl als Spolie weiterverwendet wurde. Für so etwas gibt es auch zahlreiche Beispiele in Deutschland. Aber gut, die Begeisterung sei den Briten mit ihrem geschichtlichen all-time-trauma des vermeintlichen Untergangs aller Kultur vor William the Conqueror gegönnt.

  • Aber auch ein Fachwerkbau aus dem 12. Jahrhundert, wie er mit Sicherheit existiert, wäre ein Rekord, wenn man bedenkt, dass das älteste bisher in Deutschland entdeckte Fachwerkhaus aus dem Jahr 1261(d) stammt.

  • Naja, mit dieser Definition wäre ich wie gesagt sehr vorsichtig. In Limburg, Fritzlar und Regensburg gibt es auf romanischen Kemenaten aufbauende Fachwerkhäuser, die einzelne Balken des 12. Jahrhunderts enthalten. Dann die Blockbauten in der Schweiz aus dem 12. Jahrhundert. Schließlich gibt es noch eine ganze Reihe von Kirchendachwerken, die im weitesten Sinne auch Fachwerkkonstruktionen sind, und bis in das 11. Jahrhundert hineinreichen.

    Gebäude, die noch vollständig aus so alter Substanz bestehen, existieren ganz sicher nicht mehr. Insofern finde ich diesen „Race“ um das älteste Haus auch etwas müssig, da wir bei so einem Alter meist nur noch von einzelnen Balken sprechen. Die in der Gesamtsubstanz am besten erhaltenen Fachwerkbauten des 13. Jahrhunderts dürften in Esslingen und Limburg zu finden sein.

    Einmal editiert, zuletzt von RMA (30. Mai 2011 um 22:03)

  • ich muss dazu sagen, dass ich eine Quelle für die Informationen nicht erwähnt habe.
    http://www.fyfieldhall.com/

    Diese Quelle zeigt anhand einer Zeichnung, dass ein großer Teil der Dachsparren noch aus dem 12. Jahrhundert stammt,
    bestätigt aber auch die Vermutung, dass der Balken aus dem 9. Jh. eine Art Spolie ist.
    P.S: Gut dass du die Blockbauten in der Schweiz um Haus Nideröst angesprochen hast. Die wären durchaus einen eigenen Thread wert.

  • Lisieux – ein kleines französisches Braunschweig?


    Lisieux ist eine Stadt in Nordfrankreich in der Région Basse-Normandie. Sie hatte einst einen grossen Bestand an Fachwerkbauten aus dem 15. Jahrhundert, die nach Zerstörungen im zweiten Weltkrieg heute grösstenteils verschwunden sind. Bei der Bildersuche zu französischen Fachwerkbauten bin ich auf zwei digitalisierte Tafelbände von 1927 mit hochauflösenden Bildern gestossen, welche die Pracht dieser verschwundenen Schönheiten vermitteln:

    http://www.bmlisieux.com/galeries/lisieux04/lisieux04.htm (am Anfang auch mit Bauten anderer Ortschaften)
    http://www.bmlisieux.com/galeries/lisieux03/lisieux03.htm

    Beim Durchwandern der Stadt mittels Google Street View stösst man noch auf einzelne Traditionsinseln mit Fachwerkbauten, vorwiegend aber aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Der Zweck des Durchwanderns galt dem Auffinden der gezeigten Bilder aus den beiden Tafelbänden im heutigen Stadtbild. Beim Vergleich mit dem heutigen Baubestand musste ich leider feststellen, dass von den mittelalterlichen Bauten praktisch nichts mehr existiert. Ich bin zwar nicht so ein Fan von Galerien via Google Street View, aber um einen Eindruck des historischen Baubestandes zu verschaffen blieb leider nichts anderes übrig. Eine Alternative wäre natürlich eine Reise dorthin...

    Rue Henri Chéron

    Rue du Docteur Degrenne

    Rue du Docteur Degrenne

    Rue du Docteur Degrenne / Rue de la Providence

    Rue du bon Ange

    Rue du Capitaine Vie (beim linken Nahbarhaus handelt es sich bestimmt auch um einen Fachwerkbau)

    Place de la République (beim linken Nachbarhaus und beim Eckhaus rechts handelt es sich bestimmt auch um Fachwerkbauten; das Eckhaus ist auch auf der vorangehenden Ansicht abgebildet)

    Rue du Carmel

    Rue Henri Chéron (diese Zeile ist im zweiten Link auf S. 27 abgebildet; die Strasse hiess damals "Grande-Rue")

    Rue Henri Chéron

    Place François Mitterand / Rue Paul Banaston (beim Eckhaus und dem kleinen linken Nachbarhaus handelt es sich bestimmt auch um Fachwerkbauten)

    Rue Paul Banaston 1

    Rue Paul Banaston 2

    Rue du Docteur Lesigne

    Einmal editiert, zuletzt von Riegel (26. Mai 2014 um 20:31)

  • Danke Riegel für die Interessanten Bilder


    Wie man hier wieder merkt, ist der Anteil an spätmittelalterlichen Bauten in der Normandie allgemein immer wieder beeindruckend, wobei Lisieux in der Hindsicht Rouen natürlich noch ein Stück nachsteht (früher und heute sowieso). Dennoch fallen gerade bei den ältesten Bauten, etwa diesem einen sehr großen Haus aus dem späten 14. Jahrhundert , starke Ähnlichkeiten zu zeitgleichen Bauten aus Rouen auf.

    Ich habe vor einiger Zeit einen "Lone Survivor" in der Normandie auf dem Lande gefunden, ein Haus aus Beaumont-le-Roger, das mit Sicherheit kaum später als um 1400 erbaut wurde:

    https://maps.google.de/maps?hl=de&ll=…208.06,,0,-8.52

    Und noch ein weiterer Überlebender (allerdings stark rekonstruiert), der aus dem 15. Jahrhundert stammt (und wegen der reich profilierten Vorkragung nicht aus früheren Zeiten):

    https://maps.google.de/maps?hl=de&ll=…9,,0,-17.6&z=18


    Weitere Bilder aus Rouen und seinen ältesten Fachwerkbauten folgen gleich (ich habe, als ich dort war, die Altstadt systematisch nach Bauten des 13. und 14. Jahrhunderts durchkämmt, und 10 Bauten sind am Ende in etwa dabei herausgekommen)

    Einmal editiert, zuletzt von Mündener (26. Mai 2014 um 21:29)

  • So, jetzt habe ich endlich die Bilder aus Rouen.

    WARNUNG: Die Photos wurden bei schlechtem Licht und leichtem Regen mit einer Handykamera gemacht (bei Regen wollte ich die anständige Kamera nicht unbedingt benutzen) und sind daher größtenteils qualitativ grauenhaft bis unbrauchbar.

    Fangen wir mit dem Ende an:

    Dieser Bau in der Rue Saint-Amand soll bereits im 13. Jahrhundert errichtet worden sein, was mir recht glaubhaft erscheint.



    Ins frühe 14. Jahrhundert würde ich folgende Bauten datieren:

    Dieses Haus in der Rue Damiette:


    Dieses leider stark verunstaltete Gebäude in der Rue Saint-Hilaire:




    Rue du Gros Horloge:



    Und dieses Haus aus der Rue Étoupée:





    Später ins 14. Jahrhundert passen folgende Bauten:

    Rue des Boucheries Saint-Ouen


    Rue du Petit Mouton:


    Ecke Rue Damiette/Rue Martainville:



    Rue Saint-Hilaire:



    Rue de la Vicomte:



    Rue Saint-Vivien:


    Rue Saint-Romain:


    Die Bestände des 15. Jahrhunderts sind dann wieder derart groß, dass ich sie nur bei gegebenem Anlass vorstellen werde.

  • Vielen Dank für deine sehr informative Dokumentation, Mündener. Der Bestand an alten Fachwerkbauten ist wahrlich beeindruckend.

    -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

    Ich möchte die "Wiederbelebung" des Stranges gleich für eine Bitte an Euch nutzen:

    Da ich im heurigen Sommer zwei Mal nach Frankreich, genauer in den Burgund reisen werde, möchte ich mich entsprechend mit der dortigen Architektur beschäftigen. Besonders für die Ende Juli stattfindende Burgund-Rundreise sind bei mir nicht bestehende Kenntnisse des französischen Fachwerkbaues vonnöten. Ich denke, das die meisten existierenden Webseiten und Bücher, die es zum dortigen Fachwerk gibt, in diesem Thema bereits vorgestellt wurden.

    Falls ihr noch weitere hilfreiche Links/Bücher wisst, würde ich euch bitten, mir diese mitzuteilen. Sonstige hilfreiche Informationen sind selbstverständlich ebenfalls erwünscht ;)

    Bezüglich der französischen Denkmalliste: Scheinbar existieren noch nicht von allen Gebieten in Frankreich Listen der Denkmäler, oder täusche ich mich?

    Ich freue mich über jede Hilfe, vielen Dank im Vorhinein :thumbup:

    (Im Nachhinein gibt´s natürlich auch eine Galerie!)

    LG Tobias

  • Riegel
    Den ersten Teil der Gebäude kann man mit Hilfe einer Argumentationskette datieren.

    Das erste Gebäude stammt aus dem 13. Jahrhundert, und dies ohne Betrachtung des Fachwerks, einfach anhand stilistischer Details der Steinfassade zur Straße hin (und der Feststellung, dass die Fassade und das Fachwerk zur gleichen Zeit errichtet wurden). Außerdem ist die Datierung ins 13. Jahrhundert eine recht Neue Datierung (in der Französischen "Denkmalliste" ( Base Merimée ) taucht sie noch nicht auf) und hat daher mit Sicherheit eine wissenschaftlich überprüfbare Grundlage (die ich suche, aber bis jetzt im Internet noch nicht finden konnte)

    Das Gebäude aus der Rue du Gros Horloge weist im Dachgeschoss dieselben Fenster wie dieses Gebäude auf (muss also in einer ähnlichen Zeit errichtet worden sein, wahrscheinlich etwas später, da es sich beim ersten Gebäude wegen der Nähe zur Kathedrale und der Steinfassade offensichtlich um einen Spezialbau oder ein Gebäude der Obersten Gesellschaftsschicht handelt)

    Und alle anderen Gebäude, die ich ins frühe 14. Jahrhundert datiert habe, weisen dieselben konstruktiven Merkmale auf (Fußbänder, regelmäßige Ständerstellung, durchgehende Fensterreihen (stets rekonstruiert, daher nur begrenzt als Argument verwendbar), weite Vorkragungen auf massiven, geraden Knaggen).


    Die letzten Gebäude, die ich ins späte 14. Jahrhundert datiert habe, beisitzen teilweise noch die selben Merkmale (etwa die Vorkragungen und die Knaggen), aber auch schon Merkmale der Bauten, die sich anhand von Schnitzwerk ins 15. Jahrhundert datieren lassen (derartige Markmale sind z. B. die Kreuzstockfenster und die unterschiedlichen Abstände zwischen den Ständern).


    Kurz und prägnant: Knallhart überprüfbare Datierungen sehen anders aus, aber einigermaßen logisch klingt meine Argumentation schon, oder?


    PS: Ich habe noch einmal kurz zu dem Haus in der Rue Saint-Amand recherchiert, und die Datierung ins 13. Jahrhundert in 3 voneinander unabhängigen Quellen gefunden; Eine davon präzisierte die Datierung noch einmal und gab das Baujahr mit ungefähr 1270 an.

    2 Mal editiert, zuletzt von Mündener (29. Mai 2014 um 10:57)

  • Vielen Dank, Riegel, für das Aufzeigen der Reste des alten Lisieux. Lisieux war eher das französische Hildesheim, was das Fachwerk anbelangt, und Rouen das französische Braunschweig. Zum Glück ist von Rouen ein gutes Stück erhalten geblieben und einiges rekonstruiert. In Rouen ging das ganze Altstadtviertel an der Seine verloren, zur Fluß hin ist die Stadt heute zubetoniert.
    Es gibt in Lisieux einen Verein Lisieux Renaissance, der die stark kriegszerstörte Stadt aufwerten möchte, und sich als Fernziel auch die Rekonstruktion einiger der wichtigsten Fachwerkhäuser gesetzt hat.

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • In Roye an der Somme stand dieses bemerkenswerte Haus am Place d'Armes, welches offenbar nicht mehr existiert:

    Aufgrund der wenigen Fenster bin ich nicht sicher, ob es ein bewohntes Gebäude war oder nicht vielmehr ein Speichergebäude.

    Bilder von 1917 zeigen, dass es den 1. WK überstanden haben sollte, aber es ist offenbar nicht mehr vorhanden.

    Im Zusammenhang:

    Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.
    (Immanuel Kant)

  • Bilder von 1917 zeigen, dass es den 1. WK überstanden haben sollte,

    Laut der französischen Wikipedia hatte Roye die ersten Kriegsjahre und auch die Sommeschlacht 1917 recht gut überstanden. In Folge der Sommeschlacht war Roye wieder in französische Hand gekommen und damals hat man wohl die Bilder gemacht, die das Haus noch als erhalten zeigen. 1918 ist der Ort während der deutschen Frühjahrsoffensive und der alliierten Hunderttageoffensive erneut ins Kampfgeschehen geraten und dabei fast ganz zerstört worden.

    Auf diesem Photo sieht man, glaube ich, links den Rest der gemauerten Rückwand des Fachwerkhauses: http://a53.idata.over-blog.com/2/45/89/64/la-…s-le-marche.jpg

    4 Mal editiert, zuletzt von Tübinger (12. Mai 2019 um 12:34)

  • Angers - das Maison d'Adam (Adamshaus) aus dem späten 15. Jhdt. in einer Ansicht von ca. 1900.

    Ich als Laie vermute, dass die Restaurierung (wohl schon bis 1951 erfolgt) dem historischen Original entspricht; der prächtige Bau ist heute wie damals ein Blickfang.

    https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:P…on_Adam_rwk.jpg

    Für zahlreiche Detailaufnahmen siehe den oben verlinkten Wiki-Artikel.

    Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.
    (Immanuel Kant)