Links: Thiers, Auvergne, sogenn. Hôtel du Pirou, wohl 2. Hälfte 15. Jahrhundert / Rechts: Salisbury, Wiltshire, Haus an der Ecke Crane Street / High Street, wohl noch 14. Jahrhundert (Quelle: Wikimedia Commons)
Vorwort
Ein Thema, das mich schon länger beschäftigt, ist der Fachwerkbau in Frankreich und England. Ein riesiges Problem einer auch nur kurzen Darstellung wie dieser hier ist die kastastrophale Quellensituation. Wer glaubt, dass der Fachwerkbau Deutschlands nur das Interessengebiet einer winzigen Minderheit von Denkmalpflegern, Bauforschern, Architekten, Handwerkern und interessierten Laien wie mir sei, wird bei der Lage in England und Frankreich schnell eines besseren belehrt.
1996 schreibt Michael Imhof, der Begründer des gleichnamigen Verlages, in seiner Doktorarbeit "Historistisches Fachwerk" gerade einmal zwei DIN A4-Seiten über die Fachwerktradition Englands aus tendenziell eher älteren Quellen der letzten 50 Jahre zusammen, den Fachwerkbau Frankreichs bezeichnet er als völlig unerforscht! Literatur in den jeweiligen Nationalsprachen, geschweige denn auf Deutsch, die über die Behandlung einzelner Gebäude hinausgeht und eine Entwicklung aufzeigt, wie sie etwa mit den Werken von Walbe, Winter oder Gerner für Deutschland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert existieren, greift man auf Schäfer zurück, sogar schon seit mehr als hundert Jahren, sucht man dort vergeblich.
Ein weiteres, lange Zeit währendes Problem war die Bebilderung, um Referenzen herauszuarbeiten und Vergleiche ziehen zu können. Dank Google Street View, in dem vor allem in Frankreich nun viele bedeutende Fachwerkstädte (Rouen, Troyes, Caen etc.) flächenhaft erfasst sind, ist in dieser Hinsicht eine große Besserung eingetreten. Problematisch ist immer noch England, weil es nicht bei Bildindex vertreten ist. Fast schon ersetzend kann allerdings mittlerweile Wikimedia Commons herangezogen werden, wo man, allerdings eher durch Stöbern, auf viel interessantes Material trifft.
Abgrenzung, Gebiet und Entwicklung
Trotz der räumlichen Trennung beider Staaten scheint die Fachwerktradition fast die selbe zu sein. Da aus vornormannischer Zeit in England kaum Bauten, und erst recht keine Holzbauten erhalten sind, ist nicht mehr festzustellen, ob es hier vor dem 11. Jahrhundert eine eigene Tradition gab. Fachwerk wurde in ganz England bis etwa zum Ausgang des Mittelalters gebaut, in Mittel- und Südengland sowie dem Osten von Wales noch bis ins 18. Jahrhundert hinein. In Frankreich ist es ähnlich, eine Verbreitung war zunächst über das ganze Land gegeben, wobei ab etwa dem 17. Jahrhundert der Steinbau überhand nahm. Überbleibsel sind heute vor allem in der Normandie, Champagne und im Elsaß zu finden, wobei sich in letzterer Region aus historischen Gründen eher ober- und mitteldeutsches Fachwerk findet und höchstens eine Beeinflussung durch normannische Traditionen stattgefunden hat (Straßburg, Colmar etc.).
Die grundsätzliche Bedeutung des Fachwerkbaus für beide Länder wird daran deutlich, dass sowohl London als auch Paris im Mittelalter nachweislich reine Fachwerkstädte waren. Der Brand von London, Zweiter Weltkrieg und Modernisierungswahn haben in ersterem kaum noch etwas davon übrig gelassen, in letzterem dürfte der Fachwerkcharakter erst mit Haussmann untergegangen sein, wobei im Umfeld der Île de la Cité noch heute das ein oder andere übrig geblieben ist, was zumindest für das Auge sichtbar aus dem 15. Jahrhundert stammen dürfte. Angeblich sind manche Häuser noch viel älter, doch ohne Dendrodaten sollte man vorsichtig sein.
Entgegen meiner früheren Vermutungen war auch in den vorgenannten Verbreitungsgebieten Eichenholz das vorwiegend verwendete Baumaterial. Dessen Verknappung scheint dann einerseits zum Schwinden der Bauweise auf die noch stärker bewaldeten Regionen des Nordens von Frankreich bzw. des Südens von England verantwortlich gewesen zu sein, andererseits hat das Fachwerk offenbar auch hier an der Grenze von Mittelalter zur Neuzeit einen Wechsel von der Ständer- zur Rähmbauweise durchgemacht. Letzteres kann ich im Gegensatz zu meinen übrigen Aussagen nicht mit Literatur belegen, sondern entnehme es der geduldigen Beobachtung zahlreicher nordfranzösischer Städte.
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Soviel an dieser Stelle, als nächstes will ich versuchen, anhand bildlicher Beispiele zumindest grob die von mir vermutete Entwicklung als auch die Unterschiede beider Länder zu skizzieren. Eine Herausarbeiten regionaler Unterschiede, die es sicher gibt, dürfte dagegen nahezu unmöglich sein. Sollten die hier im Forum vertretenen Fachleute wie Riegel und Kardinal, aber auch jeder andere, wider Erwarten um ein Kompendium zum normannischen Fachwerk wissen, das mir trotz nun schon mehrjähriger Recherche nicht bekannt ist, oder zu meinen bisherigen Ausführungen Ergänzungen oder Verbesserungen zu machen haben, freue ich mich natürlich über jede Stimme.