"Gründerzeitlangeweile" im Nordend

  • Sehr befremdlich, mit welcher Selbstverständlichkeit eines der letzten halbwegs geschlossenen Altbauviertel in Frankfurt/M. verhöhnt wird. Für den PR-Experten Moritz Hunzinger (war früher mal in den Schlagzeilen mit seiner Beratertätigkeit für Rudolf Scharping) wurde von Jo. Franzke Architekten ein Neubau im Frankfurter Altbauviertel Nordend geschaffen. Zitat aus der Pressemeldung zu diesem Bau "...Als „braungraues Ausrufezeichen ragt es aus der benachbarten Gründerzeitlangeweile heraus“, wie es Alf Haubitz, Redakteur beim Hessischen Rundfunk, in einem zum Tag der Architektur entstandenen Beitrag formuliert hat."

    http://www.openpr.de/news/337116/Ein-neues-Haus-als-Ausrufezeichen-in-der-Gruenderzeitlangeweile.html\r
    http://www.openpr.de/news/337116/Ein-ne ... weile.html

    ...

  • Also ich kenne das Frankfurter Nordend leider nicht, daher kann ich die Situation nicht beurteilen. Aber Gründerzeitlangeweile? Ich genieße nichts mehr, als durch die wenigen fast unzerstörten Gründerzeitstraßen Dortmunds zu gehen und wünsche mir ständig, dass es dort mehr von gäbe. Langeweile kommt selbst bei schmucklosen Zweckbauten aus dem frühen 19. Jh. nicht auf, dafür ist die Fassadengliederung alleine schon viel zu harmonisch.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Also ich kenne die Gegend in Frankfurt auch nicht, aber gerade dem Historismus Langeweile vorzuwerfen ist schon recht bezeichnend. Da hat wohl jemand die Anti-Historismushysterie des Nachkriegsdeutschlands noch voll und ganz im Blut.

    Ein Verdienst des Historismus, dass heute selbst von Denkmalschützern wie Herrn Kiesow immer wieder gewürdigt wird, ist gerade seine große Vielfalt, die Gründerzeitviertel in der Regel nie "langweilig" erscheinen läßt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ja gerade der Historismus die Möglichkeit der Melange sämtlicher vorhergegangener historischer Stile geboten hat. Von einer solchen Vielfalt träumen unsere modernistischen Klötzchen- und Glaskastenbauer doch nur.

  • Also, wenn man auf dieser Seite ganz herunterscrollt, sieht man das "Ausrufezeichen" von Franzke und daneben die "Langeweile"... :lachen:
    http://www.hunzinger.de/home2/deutsch1.html

    Und hier auch noch einmal in groß: :lachen::lachen:
    http://www.jofranzke.de/uploads/tx_prm…_TDA_09_neu.jpg

    Und hier das "langweilige" Gründerzeitviertel, das übrigens zu Frankfurts beliebtesten Wohnquartieren gehört. Viele Informationen finden an Vertiefung Interessierte hier:
    http://www.frankfurt-nordend.de/

    Einmal editiert, zuletzt von Heimdall (12. April 2011 um 02:42)

  • Dass Franzke zu den übelsten Frankfurter Architekturbüros gehört, ist ja einschlägig bekannt. Dass sie nun auch noch in den letzten intakten Gründerzeitvierteln wildern dürfen, beweist darüber hinaus nur, was für ein Filz doch im Bauwesen herrschen muss. Dass nach den Katastrophen der 1960er und 1970er v.a. im Westend sowas anno 2009 immer noch passieren kann, ist mir absolut schleierhaft. Man schaue sich alleine mal die Türen an, weiter geht's mit den natürlich beidseitig garantiert nicht fortlaufenden Stockwerkshöhen, den ultrahässlichen Lochfassaden-Fenstern und der Materialität, die den Charme eines Nacktmull besitzt. :boese:

  • Erschreckend ist welcher Sprache sich da bedient wird. So etwas wie Gründerzeitlangeweile und "Aufbruch in die Moderne" konnte man auch schon zu Zeiten der Spekulationsabrisse Anfang der siebziger Jahre im Frankfurter Westend hören. Das Ergebnis ist bekannt. Das mit einem Begriff wie "Gründerzeitlangeweile" jetzt wieder an die Öffentlichkeit gegangen wird ist beschämend.

    ...

  • Diese Arbeiterqualität ist die Qualität, die du an 90 % aller Bauten in Frankfurt aus der Zeit zwischen 1871 und 1900 vorfinden wirst. Die Gründerzeit hier konnte nie mit Berlin, [lexicon='Leipzig'][/lexicon], Dresden oder anderen Paradiesen des Historismus konkurrieren, die extrem konservative Frankfurter Gesinnung in Bezug auf Dekoration schlug hier immer noch durch. Die wenigen wirklich prachtvollen Bauten rund um die Zeil und in der Kaiserstraße aus der Zeit zwischen 1880 und 1900 (meist neobarock) existieren größtenteils nicht mehr (wenn, verstümmelt) oder entstanden bereits in einem weniger eklektizistischen Stil nach 1900. Sehr beliebt wurde dann auch entsprechend schnell der Neoklassizismus, der, mit leichten Jugendstilanklängen durchsetzt, die letzte große Bebauungswelle vor dem Ende des Kaiserreichs einläutete. Der Wohnraum war da aber größtenteils schon geschaffen, nach dem Ersten Weltkrieg brach sich ziemlich schnell die Moderne ihren Bann, merklich ab 1925, dominant dann ab etwa 1930.

  • Also, bevor ich den Link Heimdalls hier öffnete, habe ich mit einer Fassade aus verschoben Kuben, oder asymetrisch angeordneten Fenstern gerechnet (wie das in DD gerade modern ist)...aber, ich muss sagen, dass ich froh wäre, wenn es in Wien auch nur einen Architekten gäbe, der so bauen würde wie dieser mir unbekannte Baumaster Franzke:

    Sogar im ersten Bezirk und den Innergürtelbezirken werden am laufenden Band Gründerzeithäuser abgerissen und durch hässlichste Architektur (man sollte diesen Begriff für diese Gebäude streichen) ersetzt.

  • Auch ich muss zugeben, dass der Entwurf so einiges richtig macht um sich der bestehenden historischen Bebauung anzupassen:
    -Betonung der Vertikalen
    -dazu ruhige und klare Anordnung der Fenster
    -Material und Farbe der Fassade

    Ein absolutes No Go ist jedoch das Erdgeschoss! Wie blind muss man sein, ein ansonsten recht stimmiges Gebäude so zu verhunzen? Die Türen sind ein absolutes Armutszeignis. Ekelhaft! Wo doch sonst bei modernen Bauten die Eingangstüren immer so mit die höchste Qualität aufweisen um damit die oftmals grottige Fassadengestaltung wettmachen zu wollen, wie z.B. mit solch einem Exemplar: http://tueren-landsberg.de/upload/DY19f33…/22___1164K.jpg


    Ohne Überarbeitung würde mich das Aussehen des EG zur kompletten Ablehnung des Entwurfes bewegen. Nachsitzen! Und bei der Gelegenheit kann der Architekt auch mal noch ein ordentliches Dachgesims entwerfen, wenn schon kein richtiges Dach mit von der Partie ist. Dann, aber auch nur dann, kann man von einem angepassten modernen und damit auch einem gelungenen Neubau sprechen, der den bestehenden Straßenzug aufwertet.

    Leipzig - Back to the roots