Sisyphus und das Berliner Schloss
Die Schönheit des nun bald vollendeten Schlosses wird die meisten Kritiker verstummen lassen: nichts mehr von Disneyland! Doch eines wird leider noch lauter werden – die Schuld! Darf sich Deutschland mit seiner Schuld aus der Geschichte eine solche Schönheit wieder zurückholen, deren Zerstörung es selbst verschuldet hat?
Darüber ist auch hier schon viel geschrieben worden, auch Endgültiges – das Wichtigste: Es gibt keine Erbschuld! Logische Voraussetzung einer solchen wäre der Rassismus. Dennoch wird der Vorwurf kommen, wie er auch in Nürnberg immer wieder zu hören ist: Eine Stadt mit solcher Vergangenheit darf nicht rekonstruiert werden. Erinnerung an das Berliner Schloss, ja – Rekonstruktion, Wiederkehr des Untergegangenen, nein! nicht in Deutschland mit seiner Schuld!
Nun sind ja die besonders grauenhaften Dinge in unserer Geschichte Realität. Ebenso ist nicht bestreitbar, dass besondere Vorgänge, positive wie negative, in einem Staat wie in der Familie bestimmte Reaktionen zeigen: An einen Goldmedaillengewinner in einer Familie wird von den Nachkommen immer erinnert werden. Der Sieger wird wie die Medaille an ihrem besonderen Platz gewissermaßen zum Besitz der Familie. Die Würzburger Residenz oder ein Fußballweltmeistertitel sind Stolz und Identifikation der Nation. Beides ist nicht Überheblichkeit oder gar Nationalismus – es ist der menschlichen Natur so eigen, alles Andere wäre künstlich, unnatürlich, ja unmenschlich. Der Bundespräsident hat recht, wenn er den demokratischen Patriotismus, der Verantwortung übernimmt, als wichtige Voraussetzung für Demokratie ansieht.
Andererseits: Findet sich in einer Familie ein Mörder, so wird er verschwiegen, seine Erinnerung wird getilgt. Mit Recht: An dem Mord tragen die Mitglieder der Familie, schon gar nicht die künftigen Generationen ja keine Schuld – dennoch wird der Mord zur Last! Um in der Welt bestehen zu können, muss diese Last erleichtert, ja, möglichst gänzlich abgebaut werden.
Die Schuld nun, die im Namen eines Volkes begangen wurde, kann sich zwar ebenfalls nicht vererben. Aber im Gegensatz zum Verbrechen in einer Familie darf sie nicht vergessen werden: Die Verantwortung erzwingt die bleibende Erinnerung, damit man daraus lernt und mahnt, damit sich ähnliches Geschehen nicht wiederholt. Wenn es sich um Dimensionen wie den Holocaust oder den Zweiten Weltkrieg handelt, wird die ehemalige Schuld zu einer Last, zu einer aufzunehmenden und bleibenden Last!
Setzen wir also an die Stelle der vielbeschworenen, aber absurden ewigen Schuld die Last, und zwar die Last des Sisyphus, die nicht abgelegt werden kann. Wie Sisyphus verflucht ist, seinen Stein auf den Berggipfel zu wälzen, der immer vor Erreichen des Zieles wieder zurückrollt, so verfolgt die Last einer alten Schuld ein Volk wie ein zunehmend ferner Fluch: So lastet auf Deutschland hoffentlich bleibend das Mitgefühl für die Millionen von Opfern, und nur die Zeit wird hier Wunden heilen.
Eine andere Last sind der Verlust von Bauwerken ganzer Städte oder z.B. die Folgen der Vertreibung als Verlust kultureller Ressourcen, z.B. Schlesiens als Dichterlandschaft oder Westböhmens als der Heimat Adalbert Stifters. An solche Folgen auch nur zu rütteln, brächte unabsehbare neue Schuld, würde die Verstrickung aufnehmen und die vergangene Schuld tatsächlich fortsetzen.
Dennoch können und müssen solche Lasten verringert werden: Sie könnten sonst Hass erzeugen – Hass, wie ihn Hitler ausdrücklich für alle Zeiten gegen England säen wollte, indem er tatsächlich die zerstörte Altstadt von Frankfurt für künftige Generationen als Ruine konservieren wollte! Damit die verfallenden Mauern immer neu Hass predigen können. Die Last der Vertreibung wird durch Aussöhnung, gegenseitige Vergebung und Offenheit, Kulturaustausch usw. verringert, so dass künftige Generationen, so ist zu hoffen, sie irgendwann gar nicht mehr spüren werden. Die Last des Verlustes der Heimat empfinden die Enkel der Vertriebenen kaum mehr.
Eine Last war und ist nun eben wie der Verlust aller zerstörten Bauwerke auch der Verlust des Berliner Schlosses, und es wurde und wird ja oft genug heruntergebetet: Verloren durch eigene Schuld! Das hat auf immer zu sein!
Zunächst ist klar: Eine Wiederkehr des Schlosses oder der Fassade des Pellerhauses in Nürnberg kann keinen Schaden anrichten, die Last aber verringern. Dies ist sicher ein gutes Argument, doch es gibt bessere!
Es ist nämlich ein großer Irrtum zu behaupten, die Altstadt von Nürnberg oder das Stadtschloss von Berlin gehörten nur dem deutschen Volk. Ja, wir sind stolz, mit Recht stolz auf die herrlichen Bauwerke, die unsere Geschichte hervorgebracht hat, wie die Franzosen auf Notre Dame stolz sind oder die Italiener auf den Dom von Florenz. Ich erinnere an den Nobelpreisträger in der Familie oder die Fußballweltmeisterschaft. Ich erinnere aber auch an die Welle der Hilfsbereitschaft, die beim Brand der Pariser Kathedrale durch die ganze Welt ging.
Bei allem berechtigten Stolz eines Volkes auf sie: Kunstwerke gehören letztlich niemandem! Man kann sie besitzen, der Künstler und der Käufer haben gewisse Rechte daran. Aber Eigentümer aller Kunst als menschliche Schöpfung ist die Menschheit selbst. Im Bereich der Kunst, das weiß jeder, fallen die Grenzen. Und die großen Museen der Welt kennen Systematik, aber keine Grenzen: Dies zeigt gerade die Museumsinsel und wird darin ja zur Zeit gewaltig erweitert. Kunst ist Zeugnis der menschlichen Schöpferkraft schlechthin. Die Last ihrer Zerstörung fällt also auf die ganze Menschheit! Die Sprengung der Statuen von Bamyan in Afghanistan bedeutet für alle einen Verlust wie die Vernichtung von Tenochtitlán, der alten Hauptstadt der Azteken, der Tempel von Palmyra oder die Bombardierung von Elbflorenz.
Eine Rekonstruktion bringt also nicht nur dem Volk des Künstlers ein Kunstwerk zurück, sondern der ganzen Menschheit und nimmt damit die Last des Verlustes von allen. Sollten die Statuen von Bamyan wieder errichtet werden oder die gesprengten Tempel in Palmyra wäre das auch für mich eine Bereicherung. Sollte ein Gebäude wie der Petersdom in Rom vernichtet werden, wäre die Verweigerung seiner Rekonstruktion weltweit undenkbar. Vom Volk, dem ein Zerstörer angehört, aber nimmt sie die besondere Last, die auf der zurückliegenden Schuld beruht: Rekonstruktion als Versöhnung! Der Verlust einiger der schönsten Städte durch die Vertreibung, wie Danzig oder Breslau, wurde für die Vertriebenen gemildert durch ihre Rekonstruktion, die sie wieder erlebbar macht!
Wer den Deutschen die Rekonstruktion seiner zerstörten Bauwerke verbietet, beraubt also die ganze Welt. Manche begreifen das nicht, sie merken nicht, wie sehr sie hier selbst in dem ausschließlich nationalen Denken befangen sind, das sie bei anderen kritisieren!
Die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses also durchbricht den Fluch des Sisyphus, und das ist gut so! Die Last, die seine Zerstörung aufgebürdet hat, können künftige Generationen durch die Rekonstruktion von immer weiteren Schloss-Innenräumen immer leichter machen.