Philosophische Argumente für Rekonstruktionen
Fake, Fälschung, Disneyland, das sind die häufigsten Schimpfwörter der Gegner von Rekonstruktionen, auch des Berliner Schlosses. Ich will nun versuchen aus der Philosophie, diese Einschätzungen – sofern es nicht bloße Beschimpfungen sind – zu widerlegen. Grundlage soll Aristoteles sein. Er muss freilich für diesen Zweck verkürzt und sprachlich vereinfacht werden, dennoch natürlich korrekt.
Aristoteles gibt für das Vorhandensein aller mit den Sinnen erfassbarer Dinge zwei Grundbedingungen an: Form und Stoff. Erst wenn Stoff und Form vereinigt sind, können Sinne den Gegenstand erfassen, und er ist existent oder Wirklichkeit.
Für Form können wir auch Wörter wie Gedanke, Idee, Entwurf, Plan, Definition, Formel oder Vorstellung setzen. So besteht z.B. eine Kugel aus allen Punkten, die von einem einzigen Punkt dieselbe Entfernung haben. Diese Form ist eine Definition und als solche allein mit den Sinnen natürlich nicht erfassbar. Erst wenn ich sie in einem Stoff: Holz, Elfenbein, Silber, Gold, Metall oder Plastik tatsächlich umsetze, kann ich die Kugel sehen und fühlen.
Wird die Kugel zerstört, so kann sie, da ihr „Plan“, ihre Definition, ja bekannt ist, sogleich wieder rekonstruiert werden. Ich verwirkliche also den Plan erneut in einem Stoff. Das kann ich unendlich oft wiederholen. Voraussetzung ist die Verwendung eines Stoffes, also eines Materials, und die Technik, die Kugel auch tatsächlich schaffen zu können, durch Gießen, Schnitzen oder Drehen usw.. Die Definition, die Idee, also die Form, fordert mich geradezu heraus, den Plan oder eben die Form in einem Material zu verwirklichen.
Wir sehen sogleich, dass die Form, die Idee, wichtiger ist als der Stoff, denn nur sie gibt die Möglichkeit, überhaupt etwas zu erschaffen, freilich geht es nicht ohne Material. Die erste Voraussetzung ist aber die Form. Sie ist ja im Falle der Kugel immer dieselbe, während der Stoff weitgehend beliebig sein kann: Kugel aus Holz oder Metall usw.. Es folgt also klar, dass eine solche Kugel keine Fälschung sein kann – sie verwirklicht ja immer denselben Plan, dieselbe Definition.
Eine kleine Abschweifung in die Musik: Die Form der Musik ist in den Noten festgehalten. Die Noten stehen auf Papier, die Ohren hören sie erst, wenn sie mithilfe von Stoff, hier Instrumenten, in Klang – der Stoff ist hier die Luft – umgesetzt werden. Form und Stoff kommen zusammen: Erst jetzt sind die Noten als Musik erlebbar! Dabei ist die Umsetzung in der Aufführung so, dass es niemals zwei genau identische Aufführungen z.B. einer Symphonie geben kann. Wir kommen darauf wieder bei der Frage nach den Originalen.
Alle Kunst ist so beschaffen. Die Form des Bildes braucht Farbe und einen Träger. Jahrhundertelang hat man Bilder kopiert, um sie vielen Menschen zugänglich zu machen, durch Kupferstiche oder Radierungen oder durch möglichst getreue Farbkopien. Ginge ein Werk wie die Mona Lisa in Flammen auf, so würde man in den Louvre an dieselbe Stelle eine möglichst pedantisch getreue Kopie des Originals hängen, damit die herrliche Form des Gemäldes auch weiteren Generationen erlebbar wäre.
Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Baukunst. Wir haben die exakten Pläne des Berliner Schlosses und damit die Form des Schlosses. Aber Pläne sind nicht erlebbar! Sie sind nur Form. Auch Modelle eines Gebäudes geben kaum mehr als wissenschaftliche Anregungen. Nur das Modell eins zu eins, die genaue Umsetzung der Form in den Stoff, schafft nach der Zerstörung eines Gebäudes die wiedererlangte Erlebbarkeit für nachkommende Generationen.
Selbstverständlich ist eine genaue – auch technisch genaue – Rekonstruktion damit nach Aristoteles keine Fälschung, so lange sie nicht angibt, sie sei das alte Original – ja sie ist sogar ein neues Original: Nach der Fertigstellung dem Schlüterschen Original unmittelbar nach seiner Entstehung insofern exakt gleich, als auch der neue heutige Bau nur die Geschichte der Errichtung hat und noch keine andere. Die wird kommen und eine eigene Geschichte sein. Freilich fehlt der Rekonstruktion die durch die Zerstörung verlorene Geschichte des Originals, aber das Schloss wird erlebbar werden, als wäre es nie zerstört gewesen. Im Falle des Schlosses vorläufig leider nur äußerlich. Dagegen besitzt es die Authentizität des Standorts: Jedes Gebäude ist für einen bestimmten Standort geschaffen – die Asymmetrien des Schlosses rühren aus der fehlenden Parallele von Spree und Kupfergraben. Peter Stephan gibt im letzten Extrablatt die Authentizität des Schlosses in der Stadt Berlin in großartiger Gesamtschau. Hier gibt es keine Abstriche. Spolien verstärken die Authentizität selbstverständlich. Im Übrigen gibt es keine exakte Identität weder in Musikaufführungen noch in einer Rekonstruktion. Nicht einmal die Pläne Schlüters konnten damals exakt identisch umgesetzt werden.
Form und Stoff. Bei Schiller hat der Mensch Form- und Stofftrieb: Nur im Spiel könne der Mensch Form und Stoff ganz vereinigen – welch schönes Plädoyer für Rekonstruktion als Spiel mit Form und Zeit!