Hildesheim - Rekonstruktion 'Umgestülpter Zuckerhut'

  • Eine Frage zur Treppe: Ist bekannt, welche Treppe ursprünglich vorhanden war und wie die jetzige Lösung aussehen soll? Die große Aussparung in der Decke scheint ja eine moderne einläufige Konstruktion anzudeuten, für die dann allerdings fast die halbe Grundrißfläche draufginge. (Aus der Bauzeit des Zuckerhuts kenne ich eigentlich nur Wendeltreppen oder steile leiterähnliche Stiegen, so daß die Platzfrage damals kaum relevant war.)

  • Ich finde, die Zimmerleute machen gute Arbeit.
    Was mir generell im Vergleich zu "authentischen" Fachwerkgebäuden auffällt:
    Die Balken haben auch an den Innenecken eine scharfe Ecke, alte Fachwerkbauten haben dort sehr oft eine Abrundung, die "Baumkanten", um Holz zu sparen.

    Der Stoß im Rähm mittels vertikalem Schlitzzapfen ist üblich und kommt häufig vor. (Ich denke nicht, dass es eine einfache Überblattung ist.)
    Dagegen ist das liegende schräge Hakenblatt in der Schwelle bei alten Bauten so gute wie nie anzutreffen. Hier finden sind eigentlich immer einfache (liegende) Überblattungen, zum Teil sogar auch nur stumpfe Stöße, weil die Schwelle ja hauptsächlich der Lastverteilung und Überleitung der Lasten in das Fundament dient. Bei den Sanierungen seit ca.1970 findet sich das schräge Hakenblatt aber häufig, weil es zusätzlich auf Zug belastet werden kann, und so etwaige Verformungen im unteren Wandbereich minimiert. Gerade die Schwellen wurden und werden ja immer recht umfangreich ausgetauscht.
    In unserem Fall wurde auch die Schwelle mit den Ständern durch Holznägel gesichert - bei Originalbauten fehlen die Holznägel hier fast immer. Man hielt hier eine Verzapfung ohne Holznägel für ausreichend, die Verzapfung hielt also nur durch das Eigengewicht des Gebäudes.

    Früher wurde übrigens immer "feuchtes" Holz verarbeitet, weil es sich leichter bearbeiten lässt. Das Gebäude "trocknete" dann als Ganzes zusammen und die vielleicht nicht ganz sauber gearbeiteten Verbindungen schlossen sich. Bei Restaurierungen verwendet man im Analogieschluss jedoch immer getrocknetes Holz.

    (Ich kenne das westfälische Fachwerk sehr gut, das mit dem niedersächsischem konstruktiv durchaus identisch ist.)

  • Noch eine kleine Bauanalyse anhand der alten Fotos:
    Das gesamte Fachwerk des 1.OG, 2. OG und Dach erscheint nahezu unverändert. Lediglich am Giebel hat man im 1.OG ein Fenster seitlich nachträglich vergrößert und dafür einen Ständer und eine Knagge unterbrochen bzw. beseitigt. Auch das große Fenster im Giebeldreieck (3.OG) wird nachträglich nach unten vergrößert worden sein oder war ehemals eine Aufzugsluke.
    Ob die beiden Dachhäuser bauzeitlich sind, möchte ich bezweifeln, es ist aber nicht klar erkennbar. Das Dachhaus zum Andreasplatz dürfte ehemals eine Aufzugsluke gehabt haben.

    Das Fachwerk im Erdgeschoss ist sicher im 19.Jh. ziemlich weitgehend ausgetauscht worden. Zu dieser Erneuerung gehören auch sämtliche "lange Grundstreben" an der fensterlosen Rückseite (Traufe) des Gebäudes, ein Konstruktionselement, dass zur Bauzeit um 1500 noch nicht üblich war. (Die aussteifende Funktion übernehmen in den Obergeschossen die kurzen Fußbänder.)

    Holznägel usw. sind leider auf den Internet-Fotos generell nicht erkennbar.

    Jetzt eine Analyse des neu aufgebauten Erdgeschosses:
    Schade, dass man das Fachwerk des Erdgeschosses nicht konsequent im letzten Zustand nachgebaut hat oder alternativ eine völlige Rekonstruktion des mutmaßlichen Zustands des 16. Jhs. gewagt hat. Statt dessen entsteht nun ein "willkürlicher" Zwitter-Zustand:
    -Am Fachwerk der Rückseite hat man die Anordnung der langen Grundstreben des.19. Jhs. nach modernen ingenieurtechnischen Vorstellungen verändert: Wie es das heutige Lehrbuch vorschreibt, wurde an den Gebäudeecken jeweils eine Strebe nach außen gerichtet angeordnet, und diese auch noch völlig unhistorisch mit einem Stirnversatz zur besseren Kraftübertragung am Ständer befestigt. (Früher gab es an solchen Stellen generell nur einen einfachen Zapfen ohne Stirnversatz.) Historische Fotos zeigen eindeutig eine andere Strebenanordnung.
    -Das Fachwerk der freistehenden Giebelseite wurde im Zustand des 19.Jhs./ frühem 20.Jh. mit großem Schaufenster analog Vorzustand wieder hergestellt.
    -Die Frontseite mit Andreasplatz erhält im linken Bereich zwar den im 19.Jh. vorgezogenen Wandbereich wieder (hier wurden damals die Knaggen des 16.Jhs. beseitigt), die Haustür wird wiederholt, jedoch wird anstelle des ehemaligen Fensters links der Tür eine "moderne", nie existent gewesene lange Grundstrebe angeordnet. Anders als an der Giebelseite, verschwindet hier das Schaufenster und die Ladentür rechts des 19. Jhs. / frühem 20.Jhs. zugunsten einer freien Rekonstruktion mit langer Grundstrebe des 19.Jhs.

  • Meiner Meinung nach ist der neue Zuckerhut die Wiederherstellung eines Erinnerungsbildes, nicht der Versuch der originalgetreuen Rekonstruktion eines Zustandes zum Zeitpunkt X. Es wäre schwierig, den Zustand vor dem Umbau des EG im späten 19. Jh. wiederherzustellen, der Zuckerhut galt damals als baufällig und hatte eine erhebliche Schiefstellung. Ich weiss nicht, inwieweit Abbildungen des Zustandes vor dem Umbau existieren, so dass eine Rekonstruktion hier wahrscheinlich auf Hypothesen und Analogieschlüssen fußen müsste.

    Dem Laien ist es egal, welche historische Konstruktion da verwendet wird, Hauptsache es sieht hinterher "schön" aus.

  • Dieses "Hauptsache, es sieht hinterher schön aus" ist aber ein gefundenes Fressen für die Reko-Gegner. Ich zähle mich da zwar nicht explizit zu, bin aber schon der Meinung, dass eine Reko am Originalstandort und im letzten völlig rekonstruierbaren Zustand erfolgen sollte, damit sie möglichst exakt ist. Darum sehe ich die Rekonstruktion des "Umgestülpten Zuckerhuts" mit Betonsockel und mehr oder weniger frei erfundenem Erdgeschoss-Fachwerk schon recht kritisch, obwohl ich schon froh bin, dass hier richtiges Handwerk angewendet wird und nicht nur eine Fassadenreko erfolgt wie beispielsweise beim Rathaus in Wesel oder dem Zeug, was am Markt in Mainz steht.

  • Ich hoffe aber schon, dass man sich Überlegungen zum detaillierten, ursprünglichen Fachwerkgefüge des Erdgeschosses gemacht hat. Das heisst ja noch nicht, dass man dann dieses auch exakt so hätte ausführen müssen! Auch Baukonstruktionen vor Jahrhunderten hatten ihre bautechnischen Mängel, und nur durch laufendes Umbauen oder Verstärken haben dann diese Konstruktionen überdauern können.

    Aus diesem Grund habe ich ein paar Beiträge vorher bspw. auf diese "Stahleinsätze" in den Streben hingewiesen:

    Zitat von "Riegel"

    Auf den Photos von Hildi sieht man, dass die Streben des Erdgeschosses eine zusätzliche Verbindung mit der Schwelle durch eingelassene Metallanker erhalten haben. Lediglich ein Holzzapfen nach historischem Vorbild hätte da wahrscheinlich nicht genügt, da die Horizontalkräfte (Wind, künftige Verformungen etc.) nicht unbedeutend sind.

    Weiter ist mir aufgefallen, dass die Eckpfosten mit den benachbarten Pfosten "zusammengewachsen" sind, so wie man dies an original erhaltenen sächsischen Fachwerkbauten des 15./16. Jahrhunderts kaum sieht. Wahrscheinlich ist auch dies eine Konzession an die bessere Tragfähigkeit.

    Allerdings habe ich meine Mühe mit den übertriebenen, heute geforderten drei- bis vierfachen Sicherheiten. Und wenn ich auf der Bautafel lese

    Zitat

    Tragwerksplanung - Dipl.-Ing. xxx
    Prüfung und Abnahme der Fachwerkkonstruktion - Prof. Dr. xxx (Dozent an der FH...)
    Sachverständiger für die Prüfung der Holzqualität - Büro Prof. xxx und Ingenieure, Sachverständiger; Dipl.-Ing. xxx

    dann kommt bei mir nur noch Kopfschütteln auf. Leider geht es heute nur noch um Garantien, selbst wenn sich das Haus um zwei Milimeter verschieben sollte, und wer dann für die Kosten für das Verspachteln allfälliger Haarrisse aufkommen muss... leider ist es heute auf dem Bau so!!!

    Die mutmassliche zeichnerische Rekonstruktion hätte aber als Grundlage dienen müssen, was sie vielleicht auch tat. Auf der Bautafel ist aber nirgends ein Hinweis zu lesen, ob auch ein Bauhistoriker beigezogen worden ist... dafür aber eine ganze Kompanie von Ingenieuren und technischen Professoren!

    Jedenfalls gefällt mir die bisherige zimmermannsmässige Arbeit sehr!

  • Die Zimmerleute haben wahrscheinlich auch deutlich mehr Ahnung von historischen Holzkonstruktionen als irgendwelche Statiker oder "Sachverständige für die Prüfung der Holzqualität".

    Übrigens, übernimmt den Bau eigentlich ein Fachbetrieb für Restaurierungen? Die müssten doch eigentlich die meiste Ahnung von historischen Hauskonstruktionen haben. Und von der Restaurierung eines historischen Fachwerkhauses mit Austausch schadhafter Balken oder Teilrekonstruktion des Gefüges (wie ich's jüngst bei einer Scheune in Lemgo gesehen habe, wo eine moderne Garageneinfahrt beseitigt und das Fachwerk wieder "geflickt" und ergänzt wurde) bis zur Totalrekonstruktion eines Fachwerkhauses ist es ja nur ein kleiner Schritt.

  • Wir sollten uns alle freuen, dass in einer deutschen Großstadt in diesem Jahrzehnt ein historisch einmaliges Fachwerkhaus rekonstruiert wird. An historischer Stelle wird das weltweit kurioseste (Fachwerk)Haus dort wieder aufgebaut, wo es vor 500 Jahren auch stand. Alleine schon die Vorstellung, dass das Obergeschoss doppelt so gross wird wie das Erdgeschoss ist schon einmalig in der Architekturlandschaft.
    Dieses Projekt wurde nicht vor ein paar Monaten ins Leben gerufen, man arbeitet schon fast zehn Jahre daran. Es sind viele Experten beteiligt, die eine originalgetreue Rekonstruktion anstreben. Zudem begleitet eine sehr erfahrene Stadthistorikerin vor Ort die Rekonstruktion.
    Ich denke schon, dass wir eine sehr gelungene Rekonstruktion an historischer Stelle bekommen werden.
    Wir haben doch bislang nur das kleine Erdgeschoss, es kommen doch noch drei Etagen! Also warten wir erst einmal ab. Zudem hat Riegel als Fachmann viele wichtige Hinweise genannt, die man sich auch genauer anschauen sollte.
    Und natürlich ist hier ein Fachbetrieb beteiligt, dass sich auf Restaurierungen spezialisiert hat. Sowohl bei Rekonstruktionen als auch bei der Sanierung von Fachwerkbauten verfügt der beteiligte Zimmereibetrieb seit vier Generationen hohen Erfahrungsschatz. Der Chef soll seit dreißig Jahren Fachwerkhäuser bauen, konnte man vor rund zwei Wochen in der lokalen Zeitung lesen. Also alles in guten Händen.

    Ab Morgen oder Übermorgen wird es dann wohl losgehen mit dem Obergeschoss, dann gibt’s auch neue Bilder vom Umgestülpten Zuckerhut. :zwinkern:

  • Zitat von "Hildi"


    Ab Morgen oder Übermorgen wird es dann wohl losgehen mit dem Obergeschoss, dann gibt’s auch neue Bilder vom Umgestülpten Zuckerhut. :zwinkern:

    Heute vormittag lag die Baustelle verlassen da - Fachwerk kann zwar nicht frieren (anders als Beton oder Putz), aber bei Frost Fachwerk aufzustellen ist ja auch nicht so toll. Vielleicht haben die es wegen des Frostes erst einmal gelassen. Spätestens wenn Schnee liegt und der festfriert, wirds unschön, da sehr rutschig.

  • Die HAZ berichtete heute, dass der ehrgeizige Zeitplan ins Wanken geraten sei - es ist unklar, ob Richtfest im Januar und Einweihung im März zu halten sind. Bei Frost und Schnee ist es halt nicht so günstig, Häuser zu bauen.

  • Zitat von "Hildi"

    Ab Morgen oder Übermorgen wird es dann wohl losgehen mit dem Obergeschoss


    Das hatte man mir gesagt: „ ...wenn alles gut läuft wolle man am Donnerstag oder Freitag..." Schnee und Sibirien-Temperaturen kamen dazwischen… und ein paar Tage später ging es dann auch weiter (neue Bilder folgen nach diesem Beitrag).

    Zitat von "Hildesheimer"

    Die HAZ berichtete heute


    Diese Negativstimmen von der Presse und sonst wo lösen sich wieder einmal in Luft auf, wie die folgenden Bilder auch beweisen…

  • Ja wunderbar, das wird ein interessantes Ensemble. Vor diesem Hintergrund kann man auch den Nierenerker stehen lassen! Zumindest bis das Originalpfeilerhaus wieder steht!!

    Frohe Weihnachten noch !!

  • Bei der Inschrift kann nun wirklich keiner mehr kommen und sagen, hier würde "Geschichte verfälscht" oder der Tourist "getäuscht". Ansonsten: Es geht ja wirklich zügig voran, Wetter und Wind zum Trotz. Alle Achtung! Und der Nierenpavillon stört mich auch nicht.

  • Zitat von "Hildi"


    Das Fachwerk scheint leider nicht ausgemauert zu werden, sondern mit einer Sandwichkonstruktion mit dazwischenliegender Isolation geschlossen zu werden. Man erkennt dies im Bild oben daran, dass in den kleinen Gefachen bereits vorgängig Anschlagsleisten für irgendwelche Platten angebracht worden sind. Der Vorteil dieser Lösung ist der, dass das Fachwerk in den Innenräumen ebenfalls gezeigt werden kann, und nicht durch eine Innenisolation verkleidet werden muss. Der Nachteil ist aber technischer Natur (wie man im folgenden Zitat über den rekonstruierten Samstagsberg in Frankfurt sehen kann) und zudem völlig ahistorisch.

    Zitat von "Riegel"

    Augenfällig sind Teile des Verputzes und der Putzgefache herausgefallen (oder aus Gründen der Sicherheit und Sondierung herausgeschlagen worden?). Jedenfalls hat man sich hier bei der detailgetreuen Rekonstruktion nicht an die historischen Vorbilder mit Lehm- oder Backsteinausfachungen gehalten, sondern mit Leisten, Dübel, Platten und Hohlräumen ein schliesslich misslungenes Experiment gewagt!

    (aus dem Strang Römerberg Ostzeile bzw. Samstagsberg betreffend [lexicon='Römerberg'][/lexicon] 20/22)


    Wie werden eigentlich die Obergeschosse genutzt werden? Wie man erkennen kann, wurde in der Decke zwischen dem 1. und 2. Obergeschoss eine gleich grosse Aussparung für die Treppe vorgesehen wie über dem Erdgeschoss. Die Erschliessung wird also einen Drittel der Nutzflächen beanspruchen.

  • Zitat von "Riegel"

    Wie werden eigentlich die Obergeschosse genutzt werden?


    Soweit ich weiß und auch aus der Presse zu entnehmen war ein Museum. Ich weiß nicht ob man genau so verfahren wird wie bei Deinem Beispiel mit FFM... Vielleicht bekomme ich ja demnächst eine Antwort auf Deine Fragen. Danke für die vielen Detailangaben, Riegel!

  • Zitat von "Riegel"


    Das Fachwerk scheint leider nicht ausgemauert zu werden, sondern mit einer Sandwichkonstruktion mit dazwischenliegender Isolation geschlossen zu werden. Man erkennt dies im Bild oben daran, dass in den kleinen Gefachen bereits vorgängig Anschlagsleisten für irgendwelche Platten angebracht worden sind.


    Aber auf den Bildern von Hildi scheinen nicht alle Gefache so geschlossen zu werden. Die größeren sind (noch?) ohne solche Anschlagleisten. Besteht da vielleicht noch Hoffnung?

    Labor omnia vincit
    (Vergil)