Hildesheim - Rekonstruktion 'Umgestülpter Zuckerhut'

  • Noch einmal: Das Argument, das (enge und verwinkelte) sei nun einmal das Mittelalter, kam ursprünglich nicht von mir. Wenn das Argument gilt, könnte ich jetzt spitzfindig werden und sagen, dann kleidet euch, wohnt, lebt und arbeitet bitte auch wie vor 500 Jahren. Da das aber wirklicher Unfug wäre, lasse ich das.

    Die heutige (Wieder-)herstellung solcher Unzulänglichkeiten aber mit dem Verweis aufs Mittelalter und mit "das ist halt so" rechtfertigen zu wollen, will mir nicht einleuchten. Der Marktplatz ist als Stadtreparatur im besten Sinne ein Gewinn für die Stadt. Davon bin ich beim Zuckerhut nicht überzeugt, weil er meines Erachtens nicht in den heutigen städtebaulichen Zusammenhang passt.

    Jedenfalls bin ich der Meinung, dass die mittelalterliche Stadt sich durch Rekonstruktionen nur bedingt zurückgewinnen lässt, weil einer Rekonstruktion eben die historische Dimension nicht zurückbringen kann. Die angesprochenen Zeitschichten machen eine Stadt aus, völlig richtig. Die Idee einer Rekonstruktion ist aber die Wiederherstellung irgendeines Zeitpunktes in der Vergangenheit aus einem Guss, ohne die Überlagerung der Zeitschichten, und muss zwangsläufig unvollständig sein, da die Bauwerke in der Vergangenheit nur partiell dokumentiert wurden. Durch eine Reko lässt sich allenfalls das Bild einer historischen Stadt wiederherstellen, nicht aber die historische Stadt an sich, die ja gerade durch die Zeitschichten ausgemacht wird. Die Zeitschichten Hildesheims wurden 1945 schlagartig weitgehend vernichtet (in der Kernstadt) und lassen sich durch Rekos allenfalls nachempfinden, aber nicht zurückholen - das ist leider für immer verloren. Und solche Nachempfindungen sollten meines Erachtens sparsam eingesetzt werden, sonst wird es Kulisse. Sinnvoll wäre z.B. eine neue Turmspitze für St. Jacobi, die neue Spitze von St. Lamberti ist für die Stadtsilhouette ein Gewinn.

    Im übrigen wurde von ca. 1880 bis 1910/15 auch schon einiges an mittelalterlicher Substanz vernichtet, es war 1945 in der Innenstadt eine Mischung aus "Mittelalter" bzw. Fachwerk und Gründerzeitbauten. Ich kann hierzu nur das Buch "Hildesheim zur Kaiserzeit" empfehlen. Es wurden auch schon Straßenführungen verändert, wie der Hohe Weg und der Pfaffenstieg. 1880 wurden einige Häuser, die direkt ans Rathaus hinten dran gebaut waren, abgerissen, um Platz zu schaffen.

    Meinen Beitrag von gestern habe ich leider nicht anderweitig gespeichert, der ist wohl verloren.

  • Mit Verlaub: Jede historisierende "Kulisse" ist besser als der Wust an Nachkriegsbeton, der die Hildesheimer Innenstadt derzeit durchzieht.

    Entschuldige, wenn ich meine Antwort auf diesen Punkt herunter kürze, aber mir scheint der Rest nicht wirklich diskussionswürdig. Es liegt doch auf der Hand, dass Hildesheim dringend Stadtreperatur benötigt & mit diesem Projekt einen unglaublichen Gewinn einfahren kann - wenn es richtig gemacht wird.

    Und dafür gilt es zu kämpfen! :daumenoben:

  • Aus der HAZ vom 22.11.2008:

  • Aus dem "Kehrwieder am Sonntag" vom 23.11.2008

  • Leserbriefe aus dem Kehrwieder am Sonntag, 23.11.2008

  • Nochmal ein Auszug:
    Aus dem "Kehrwieder am Sonntag" vom 23.11.2008

    Zitat


    Dass der Zuckerhut so manchem Hildesheimer tief im Herzen verankert ist, war auch schon früher in
    Leserzuschriften deutlich geworden. Nun tauchen in der Wahl der Meinungsäußerung aber auch ziemlich
    rüde Züge auf. Etwa mit anonymen Anrufen bei Thumm, die bedrohliche Untertöne enthalten.

    Was immer ein jeder über das Vorhaben einer Reko denkt, anonyme Drohanrufe gehen nun wirklich weit über das erträgliche Maß hinaus. Das hat nichts mehr mit einer sachlichen Diskussion zu tun.

  • Zitat von "erbsenzaehler"


    Entschuldige, wenn ich meine Antwort auf diesen Punkt herunter kürze, aber mir scheint der Rest nicht wirklich diskussionswürdig.

    Ist in Ordnung. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass ich mit meiner Meinung hier auf verlorenem Posten stehe. Daher werde ich mich wieder, wie anfangs, darauf beschränken, Sachinformationen und Zeitungsartikel beizusteuern.
    (ehe das falsch verstanden wird: ich bin nicht eingeschnappt oder so, es macht nur keinen Sinn, gegen Windmühlen zu kämpfen.)

  • Ich habe mir mal die Leserbriefgefechte usw. durchgelesen. Diese fruchtlose Debatte um den "Umgestülpten Zuckerhut" offenbart für mich eigentlich nur, wie krank diese Gesellschaft der Gegenwart eigentlich ist.
    Die Leute leben zu 90 Prozent umgeben von banalem architektonischem Schrott. Und fast täglich kommt davon etwas dazu. Eine Standardtankstelle hier, ein Mc Donalds-Drive In dort. Auf diese Brache ein Bürokasten, dort hinten ein Reihenhaussiedlung, dann noch ein Shopping-Mall-Container auf die grüne Wiese. Und kaum jemand interessiert sich dafür. Meist wird mit den Schultern gezuckt oder weggeduckt.
    Und nun will eine Initiative von engagierten Bürgern auf einem Minigrundstück ein Fachwerkhäuschen, das kleiner schon gar nicht mehr sein kann, errichten, und sofort werden Energien freigesetzt, die man nicht für möglich gehalten hat. Bedenkenträger ergießen sich in Theorien über Authentizität, über bedrohte Funktionalität von Städten, regionale Prioritäten, Substanzverluste der Vergangenheit. Man philosophiert über die Unwiederbringlichkeit von Geschichte, die beeinträchtigte Ensemblewirkung der Nachkriegsmoderne, bauliche Bedeutsamkeit. Selbst ein alter Verkaufspavillon wird ausgegraben, um den vorher kein Hund gejault hat.
    Man ist erstaunt, mit wieviel Akribie und Temperament auf einmal Leute sich offenbar mit ihrer Stadt beschäftigen, wie sie Leserbriefe schreiben und Verlautbarungen von sich geben. Wieviel Energie auf einmal frei wird; als gälte es, die Welt zu retten.
    Und solche Vorgänge finden ja nicht nur in Hildesheim statt, sondern z.B. auch in [lexicon='Frankfurt am Main'][/lexicon] (und zwar hier immer vom selben kleinen Architekten-Filz), wo man z.B. sogar auf einmal den Baulärm entdeckte, der die Öhrlein erschreckter Anrainer belästigt -natürlich nur bei einer Reko-Baustelle, versteht sich.
    All diese Abwehrreflexe angesichts wirklich minimaler Eingriffe in das Betonkistengefüge deutscher Nachkriegsstadtlandschaften sind nur tiefenpsychologisch erklärbar. Erklärbar aus einer spezifisch deutschen Traumatisierung. Jeder Ausländer kann da nur mit dem Finger an den Kopf klopfen. (Gerade heute bekam ich z.B. Post von einer russischen Freundin, die letzte Woche in St. Petersburg war und schrieb: "Zum Glück hat man das nicht modern wieder aufgebaut.") Da vermengen sich eine diffuse Ablehnung von Vergangenheit bzw. "Konservativem", Ressentiments gegen eine vermeintlich kleinbürgerliche Trägerschicht der Rekos, Ängste vor einer möglichen Veränderung geschichtspolitischer Dogmen, die man offenbar als Halt braucht, um die Zustände der Gegenwart überhaupt ertragen zu können. Und es gesellen sich bei anderen Narzissmus und handfeste Polit- und Standesinteressen hinzu.
    Und diese Debatte findet hier nun sogar angesichts eines Häuschens von der Grundfläche einer größeren Hundehütte statt. Mit heftigen Attacken durch Leute, die - das unterstelle ich mal - nicht mit der Wimper zucken würden, wenn an die selbe Stelle irgendein H&M-Glaskasten gebaut oder eine wirre Drahtplastik eines japanischen OP-Art-Künstlers für ein paar Hundertausend Euro installiert würde.
    Das alles werden Psychologen in Zukunft zu erklären haben, und in meinen Augen - das sei nochmals betont - ist es in weiten Teilen ein Anzeichen für tiefe Krankheit.

  • @ Heimdall:
    Besser kann man es nicht formulieren. Es ist pathologisch. Gerade der von dir richtig beschriebene Umstand, daß in der Abwehr gegen Rekonstruktionen plötzlich ungeahnte Energien freigesetzt werden, zeigt das überdeutlich.
    Solche eruptiven Phänomene gibt es nur, wenn tief in der Psyche etwas verkapselt ist, das nicht an's Tageslicht kommen werden darf.

  • Wahnsinnsbeitrag Heimdall :applaus:

    Gleich als Realsatire-Leserbrief diesem nervtötenden Gedöns aufgeschreckter Wertewächter entgegensetzen! 8)


    (Ich möchte allerdings hinzufügen: Nicht die Gesellschaft als solche ist krank - es sind einzelne Korpora aus dieser Gesellschaft, die zu jedweder vernünftigen Reflexion bzgl. des Wiederaufbaus unserer Innenstädte unfähig sind. Leider bellen diese paar Hunde lauter, als es die große Masse an Chihuahuas derzeit könnte :augenrollen: )

  • Zitat

    All diese Abwehrreflexe angesichts wirklich minimaler Eingriffe in das Betonkistengefüge deutscher Nachkriegsstadtlandschaften sind nur tiefenpsychologisch erklärbar. Erklärbar aus einer spezifisch deutschen Traumatisierung. Jeder Ausländer kann da nur mit dem Finger an den Kopf klopfen. (Gerade heute bekam ich z.B. Post von einer russischen Freundin, die letzte Woche in St. Petersburg war und schrieb: "Zum Glück hat man das nicht modern wieder aufgebaut.") Da vermengen sich eine diffuse Ablehnung von Vergangenheit bzw. "Konservativem", Ressentiments gegen eine vermeintlich kleinbürgerliche Trägerschicht der Rekos, Ängste vor einer möglichen Veränderung geschichtspolitischer Dogmen, die man offenbar als Halt braucht, um die Zustände der Gegenwart überhaupt ertragen zu können. Und es gesellen sich bei anderen Narzissmus und handfeste Polit- und Standesinteressen hinzu.

    Ja so ist es in der Tat ganz genau. Man lese zum Beispiel Pablo de la Riestras "Nürnberg, Die historische Altstadt", wie er sich als Ausländer für Rekonstruktionen wichtiger Bauten ausspricht, und die Auswirkungen dieser geschichtspolitischen Dogmen ablehnt.

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  • Heimdall

    Danke für diesen hervorragenden Beitrag!

    Etwas zusammengefasst, ist dies der ultimative Leserbrief für jedes Rekoprojekt! Die Gegenseite lässt dies entweder erröten :peinlich: , wenn nicht sogar erblassen :schreckgrau: .

    Jetzt wäre eine psychologische Anamnese tatsächlich noch anhängungswürdig…das Ergebnis könnte man quasi als Frakturvolkskrankheit verstehen und die angehenden Denkmalpfleger und Architekturstudenten quasi auf Krankenschein von dieser Geisteskrankheit befreien. Bei den alten Gildenmitgliedern scheint es kaum mehr Heilungschancen zu geben, da bei diesen der Umnachtungszustand bereits zu weit fortgeschritten ist.

  • @ Heimdall, wann immer Du solche oder ähnliche Beiträge schreibst, sprichst Du mir voll und ganz auch aus meinem Empfinden. Danke für diesen klaren Durchblick des Geschehens.

    An die anderen user: Heimdalls Beitrag entfesselt bei euch wohl auch sonst schlummernde Energien, die Euch auf die anderen, die "ja alle krank" sein sollen so ereifernd zeigen lassen. Wieso gleich wieder diese Polarisierung!? Kann man sich als Rekofreund nur abgrenzen und mit Identität definieren, indem man die andere Seite als "krank" bezeichnet!? Wir sind alle Teil dieses von Heimdall angesprochenen kollektiven Unterbewußtseins (und er meint eine gesamtgesellschaftliche "Fehlentwicklung", so verstehe ich in zumindest), nehmen daran teil, jeder bringt auf sein Weise etwas davon zum Ausdruck, wenn es zum Ausbruch kommt. Deshalb wäre es angebrachter zuerst den Balken im eigenen Auge zusehen, anstatt auf den Spreisel im Auge der anderen zu stieren...
    Also, was haben wir so alles im Rekokeller!?

  • @ hildesheimer:

    Für mich ist schwer nachvollziehbar, wie du diese deine Aussage...

    Zitat

    Der Marktplatz ist als Stadtreparatur im besten Sinne ein Gewinn für die Stadt.

    ... mit diesen deinen Ausführungen in Einklang bringen kannst:

    Zitat

    Jedenfalls bin ich der Meinung, dass die mittelalterliche Stadt sich durch Rekonstruktionen nur bedingt zurückgewinnen lässt, weil einer Rekonstruktion eben die historische Dimension nicht zurückbringen kann. Die angesprochenen Zeitschichten machen eine Stadt aus, völlig richtig. Die Idee einer Rekonstruktion ist aber die Wiederherstellung irgendeines Zeitpunktes in der Vergangenheit aus einem Guss, ohne die Überlagerung der Zeitschichten, und muss zwangsläufig unvollständig sein, da die Bauwerke in der Vergangenheit nur partiell dokumentiert wurden.

    Deine Kriterien für "gute Reko contra böse Reko" leuchten mir nicht ganz ein...

  • Zitat von "Restitutor Orbis"


    Deine Kriterien für "gute Reko contra böse Reko" leuchten mir nicht ganz ein...

    Statt gut und böse würde ich lieber von sinnvoll und unsinnig sprechen.

    Der Nachkriegsmarktplatz in Hildesheim war zu groß und unwirtlich, er war zur Hälfte Parkplatz. Die Verkleinerung des Platzes war ein Gewinn für die Stadt, da der Platz wieder eine vernünftig nutzbare Dimension gewonnen hat. Durch die Reko wurde hier ein städtebaulicher Mißstand behoben. Es könnten da auch andere Gebäude stehen, wenn sie angemessen auf die städtebauliche Situation reagierten. Das hat zunächst nichts mit den Rekos zu tun. Da aber nun mit der Sparkasse die Hälfte der Platzwände alt oder auf alt getrimmt war, machte es auch keinen Sinn mehr, den Rest so zu lassen, wie er war - das hätte dann zu so befremdlichen Situationen wie bei der Alten Waage in Braunschweig geführt. Anders gesagt: Wäre die Idee nur gewesen, die nördliche Platzwand mit einer angemessenen Architektur wieder auf den alten Dimensionen herzustellen, könnte ich damit auch gut leben. So wie der Platz jetzt ist, ergibt er das in sich schlüssige Bild des historischen Platzes, das die Hildesheimer damals gerne so haben wollten. Ich habe nicht gesagt, dass der Marktplatz die Rückgewinnung der mittelalterlichen Stadt darstellt - das sehe ich nicht so. Er ist letztlich in weiten Teilen eine historisierende, aber eben in sich schlüssige Kulisse.

    Anders gesagt: Wenn sich im Rahmen einer Stadtreparatur, also der Behebung von Mißständen, die Gelegenheit zu einer Rekonstruktion ergibt, die dann auch noch ein schlüssiges Bild ergibt, kann das Ergebnis im Einzelfall durchaus gelungen sein.

    Der Zuckerhut erzeugt aber meines Erachtens einen Mißstand und behebt keinen. Als ich auf diesen Mißstand hingewiesen habe, wurde hier mit "das ist nun mal das Mittelalter" argumentiert. Es ist aber nunmal nicht das Mittelalter, sondern bestenfalls eine Nachbildung dessen, deswegen kann ich dieses Argument auch nicht akzeptieren. Zudem wäre dieses einzelne kleine Fachwerkhaus auf diesem Platz bestenfalls eine Kuriosität, schlimmstenfalls ein Fremdkörper, da er überhaupt nicht zur umgebenden Architektur passt.

    Rekos können meines Erachtens da sinnvoll sein, wo ohnehin städtebauliche Mißstände zu beheben sind und zu einem schlüssigen Gesamtbild führen. Eine Reko um der Reko willen, die zu einer Verschlechterung der städtebaulichen Situation führt, halte ich für wenig sinnvoll. Stadtreparatur hat nichts mit der Wiedergewinnung historischer Situationen und Dimensionen zu tun, es geht zunächst um Verbesserungen im Stadtgefüge.

  • Hildesheimer:
    der Zuckerhut passt dort an den Andreasplatz sehr gut hin und ist eine sinnvolle Reko, weil er dort hingehört!
    Er erinnert zudem durch seine Existenz an das untergegangene Hildesheim, er provoziert, und schafft zudem eine beschauliche Gasse, die zum Verweilen einlädt und so auch noch den Erlebniswert der Hildesheimer Innenstadt steigert.
    Die Situation der alten Waage in BS ist nicht befremdlich sondern schlüssig, da sie nach wie vor neben untergeordneter Bausubstanz mit der Andreaskirche korrespondiert.

    Munkeeh!!!

  • SchortschiBähr hat geschrieben:

    Zitat

    Deshalb wäre es angebrachter zuerst den Balken im eigenen Auge zusehen, anstatt auf den Spreisel im Auge der anderen zu stieren...
    Also, was haben wir so alles im Rekokeller!?

    Da das Thema dieses Strangs ein Fachwerkhaus ist, hat dieses Biblische Gleichnis im Zusammenhang damit sicherlich seinen Reiz.. Aber für mich kommt das Engagement für Rekonstruktionen einfach aus dem größeren Wissen um den Wert der vorher dagewesenen historischen Architektur bei manchen Leuten.

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