• Ich habe mir heute das Buch "Fachwerk in Franken vor 1600 - eine Bestandsaufnahme" von Konrad Bedal (2006) ausgeliehen, auf das RMA in der Dinkelsbühl-Galerie hingewiesen hat. Der Hauptteil des Buches besteht, wie der Titel nahelegt, aus einer Bestandsaufnahme der Fachwerkbauten in Franken aus der Zeit vor 1600, die die Bauten ortsweise listet, datiert und kurz beschreibt. Einbezogen sind diejenigen bisher bekannten Bauten, die noch heute existieren als auch solche, die sich nachweisen lassen, aber nicht mehr bestehen.

    Insgesamt enthält der Band rund 4500 Fachwerkbauten, von denen die allermeisten zwar auch noch heute existieren. Schockierend ist das Durchblättern des Buches dennoch. Wir erfahren von Abrissen aus dem 19. Jahrhundert, von Kriegsverlusten in Würzburg und Nürnberg - letzteres ist jedem halbswegs Interessierten selbstverständlich bewusst. Aus der Bestandsaufnahme gehen jedoch auch die Abrisse aus der Zeit nach der Wiederaufbauphase sehr klar hervor. Abgesehen von Würzburg, Nürnberg und Schweinfurt brachte dieser Zeitraum von zirka 1950 bis heute die größten Verluste für die einzelnen Städte.

    Die 60er und 70er Jahre waren die schlimmsten Jahrzehnte. Nichtsdestotrotz ist es ist erschreckend, was noch in den 80er und 90er Jahren und in diesem Jahrzehnt an Fachwerkbauten abgerissen wurde. Ich spreche hier von Bauten, die gar nicht einmal so selten dendrochronologisch auf die Zeit um 1400 und selbst davor (!!! :boese: ) datiert wurden. Unter den betroffenen Städten sind auch solche denen man solche Barbarei gar nicht zutrauen würde (und zum Glück auch nicht ansieht) wie Bamberg, Rothenburg und Dinkelsbühl. Führend in dieser Abrisswut ist in Franken wohl die Stadt Bad Windsheim - bedauerlicherweise eine der bedeutendsten Fachwerkstädte der Region. Zwischen 1960 und 2005 wurden hier rund 60 Fachwerkbauten aus der Zeit bis 1600 abgerissen.

    Nun, was hat das mit Calw zu tun? Direkt natürlich nichts. Doch was in Calw droht, geschah wohl schon tausendfach in Deutschland, ungesehen von der breiteren Öffentlichkeit und eben nicht nur in den Dörfern auf dem Land oder in den 60er und 70er Jahren. Mit diesem Wissen im Hinterkopf kann man eigentlich kaum noch gut schlafen. Wahrscheinlich sind derzeit nicht nur in Calw Häuser gefährdet, nur wissen wir es bloß nicht. :augenrollen:

    Weiß jemand, ob es zu anderen deutschen Regionen mit Bedals Band vergleichbare Studien gibt oder wie der Umgang mit Fachwerkbauten in anderen Gebieten Europas (Elsass, Deutschschweiz, Normandie, Champagne etc.) aussieht?

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • Danke für die Informationen Georg Friedrich. Es ist erschreckend, was die Leute in den 60er/70er Jahren gemacht haben. Ist es nicht erstaunlich, daß die Städtebauer & Architekten dieser Zeit in der Nazizeit studierten ? Das hängt alles miteinander zusammen und ist bisher noch überhaupt nicht aufgearbeitet worden. Da gibt es noch viele unbekannte Leichen im Keller !

  • Danke auch für die Information, Georg Friedrich. Werde mir das Buch nach deinem Bericht wohl dann auch mal gönnen - auch wenn's natürlich schmerzt, wenn da ähnlich wie in "Kriegsschicksale" wieder Bauten drin sind, die bereits der Zerstörung anheim gefallen sind. :weinen:

    P. S.: Auch wenn's hier offtopic ist, aber kannst du vielleicht mal einen kurzen Auszug aus dem Buch geben, was da zu Dinkelsbühl steht? Kannst es ja in der Gallerie posten...

  • So weit so gut, die Diskussion scheint allmählich recht interessant zu werden ;)

    Ich habe meinen Appell per E-Mail an den Bürgermeister der Stadt Calw gerichtet (nachdem ich zuvor bereits eine zwiespältige Reaktion vom FDP/Grüne-Abgeordneten Ott erhielt) und nun stellvertretend (im Auftrag von Oberbürgermeister Dunst) eine Antwort von der Bauverwaltung erhalten. Darin bezieht sich Claus Holzhauer auf den geplanten Abriss des zur Debatte stehenden Fachwerkensembles in der Torgasse/Nonnengasse.

    Zurücklehnen und 'genießen' :augenrollen:

  • In der Tat, das einzige, was man jetzt noch machen könnte, wäre, alles fotografisch zu dokumentieren, beim Abbruch den Verputz herunterzuschlagen und Aufmaße des Fachwerks zu erstellen. So könnte man dann wenigstens in einigen Jahrzehnten zeigen, was wieder einmal für blinden Fortschrittsglauben und stupide Profitgier geopfert wurde.

  • Unglaublich, dass man da nichts mehr machen kann. In der Umgebung sind im Krieg mit Pforzheim, Stuttgart, Heilbronn die grossen historischen Staedte verbrannt - und kein einziges bedeutendes historisches Haus blieb dort erhalten oder wurde rekonstruiert. Und selbst Bruchsal verbrannte auch noch. Und mit den paar erhaltenen Kleinstaedtchen geht man so um..

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Zitat

    Unglaublich, dass man da nichts mehr machen kann. In der Umgebung sind im Krieg mit Pforzheim, Stuttgart, Heilbronn die grossen historischen Staedte verbrannt - und kein einziges bedeutendes historisches Haus blieb dort erhalten oder wurde rekonstruiert...

    Ganz so stimmt das nicht.

    In Heilbronn wurden nach dem Krieg sämtliche Sakralbauten wieder hergestellt: St. Kilianskirche, Kirche St. Peter und Paulus, Franziskanerkirche und - in den 60er Jahren - der große Deutschhof, eine Kommende des Deutschen Ordens in der Innenstadt.
    Hinzu kommen der seit 1950 wieder aufgebaute Kernbau des Rathauses und das Fleischhaus.
    Als kleine Rekonstruktionsvorhaben könnte man hier die vollständige Wiederherstellung des berühmten Kätchenhauses (derzeit nur mit vereinfachter Fassade bzw. Dach) und des Archivbaus neben dem Rathaus (derzeit eine nur unvollständig wiederhergestellte Gedenkstätte) anvisieren. Die Kosten sollten machbar sein.

    In Pforzheim sieht das Stadtbild schon wahrlich plattgeräumter aus. Hier ist wirklich kaum etwas erhalten. Wieder aufgebaut wurden ab 1946 aber immerhin die Stiftskirche, die Altstadtkirche St. Martin, Die Waisenhauskirche, die Kirche St. Franziskus und die Herz-Jesu-Kirche. Trotz schwerer Schäden wiederhergestellt wurden der Archivbau (letzter Rest des alten Schlosses) und der mittelalterliche Leitgastturm, sowie einige historistische Gebäude. In den letzten Jahren kam es gar zu einer Rekonstruktion auf der kleinen Traditionsinsel des Schloßberges - die barocke Stadteinnehmerei wurde 2003 wieder hergestellt. (siehe hier: http://www.brauhaus-pforzheim.de/html_pages/rund_ums_bier.html ; einfach etwas herunter scrollen)
    Für Pforzheim wünschenswert wäre eine Rekonstruktion der Fassade des gesamten historischen Rathauses, über die kläglichen Reste der Gegenwart hinausgehend. Diese Maßnahme würde der Stadt etwas Charme wiedergeben.

    Und zu Stuttgart (zu dessen Stadtplanung man ja stehen kann, wie man will) ließen sich als Wiederherstellungen nach dem Krieg neben zahlreichen Kirchen immerhin das Alte und das Neue Schloß anführen, dann der Fruchtkasten, die Alte Kanzlei, der Königsbau, das Wilhelmpalais, die Villa Berg. Eine weitgehende Rekonstruktion, die noch nicht allzu lange zurück liegt, war die des mittelalterlichen Schellenturms im Jahre 1980 im innerstädtischen Bohnenviertel. (siehe hier: http://www.stgt.com/stuttgart/shetud.htm ; interessanterweise steht auf dieser Internetseite nichts von der fast vollständigen Zerstörung durch den Bombenkrieg, sondern nur etwas von "Vernachlässigung" in der Vergangenheit)

    Also, die Lage im nördlichen Baden-Württemberg ist sicher verbesserungswürdig. Ganz so schlimm wie beschrieben, ist es aber nicht.

    Einmal editiert, zuletzt von Heimdall (6. März 2011 um 15:25)

  • Hallo liebe gemeinde,
    wir sollten trotzdem nicht aufgeben, und die Landesregierung informieren.
    mfg
    Der Herzog

  • Zitat von "Georg Friedrich"

    Weiß jemand, ob es zu anderen deutschen Regionen mit Bedals Band vergleichbare Studien gibt oder wie der Umgang mit Fachwerkbauten in anderen Gebieten Europas (Elsass, Deutschschweiz, Normandie, Champagne etc.) aussieht?

    Es gibt ein Buch "Fachwerkbauten des 14.-16. Jh. in Westfalen" von Fred Kaspar, in dem alle bekannten existierenden und zerstörten/abgerissenen Fachwerkhäuser der Zeit vor 1600 aufgeführt werden. Meine Heimatstadt Lemgo führt mit 73 bekannten Fachwerkhäusern vor 1600 übrigens die Liste an. Leider ist das Buch von 1986 und dementsprechend schon recht veraltet.

    Zum Thema: Ich frage mich, warum bei solchen Projekten immer wieder angeführt wird, dass eine Erhaltung der Häuser wegen der geplanten Neunutzung nicht möglich sei. Zum einen wäre es sicher günstiger, zumindest die Außenmauern der Häuser zu erhalten und sie im Inneren umzubauen und zu verbinden, zum anderen würde dabei auch weniger Müll anfallen als bei einem Totalabbruch. Zwar wäre auch eine Totalentkernung aus Denkmalschutzgründen alles andere als optimal (zumal sich ja bei Denkmalen eigentlich die Nutzung dem Baubestand unterordnen sollte und nicht umgekehrt), aber immer noch besser als ein kompletter Abbruch der Häuser.

    Und zumindest sollte man ein genaues Aufmaß und Bauuntersuchungen der abzubrechenden Häuser anfertigen, bevor sie endgültig der Abrissbirne zum Opfer fallen, denn sonst gehen eventuell wichtige Dokumente der Baugeschichte von Calw für immer verloren. Wäre eigentlich an der Zeit, Bauuntersuchungen im Falle eines Abrisses von Denkmalen auch gesetzlich festzulegen und nach dem Verursacherprinzip die Kosten dafür dem Bauherrn in Rechnung zu stellen. Ist bei der Archäologie ja schon lange üblich, dass derjenige, der ein Bodendenkmal zerstört, auch für die vorherige Dokumentation (sprich: Ausgrabung) zahlen muss.

  • Heimdall

    Danke für deine Ausführungen zum nördlichen Baden-Württemberg. In Heilbronn scheinen mir tatsächlich vor allem der Giebel des Kätchenhauses und der wunderschöne Archivbau rechts neben dem Rathaus (1. und 2. Anbau) die wichtigsten Kandidaten für eine Rekonstruktion. An Stelle des Archivbaus steht heute keine Gedenkstätte, die ist hinter dem Rathaus und sollte erhalten bleiben, sondern ein einfacher gelber moderner Kasten, wahrscheinlich ein Bürotrakt des Rathauses.
    Anspruchsvollere (aber unrealistische) wichtige Rekonstruktionen könnten die schönsten Bürgerhäuser in der Kirchbrunnengasse, oder einige Häuser in der Kaiserstrasse sein.
    In Pforzheim hat man dann doch etwas mehr rekonstruiert und wiederaufgebaut denn ich wusste. Neben das Erdgeschoss des Rathauses stehen auch die Erdgeschosse der gründerzeitlichen "Enz-Arkaden" noch, die ebenfalls vor der Zerstörung wunderschöne Bauten in der typischen, sehr qualitätvollen örtlichen Neorenaissance-Stil waren. Würde man diese beiden Bauten wieder vervollständigen, wäre die Stadt tatsächlich wieder etwas ansehnlicher. Langfristig müsste wieder ein normales, traditionelles Stadtviertel zwischen Marktplatz und Stiftskirche aufgebaut werden.

    In Stuttgart ist es an erster Stelle der oberhässliche Marktplatz, woran die ehemalige Altstadt erkrankt. Würde man das Rathaus von seiner Betonhülle befreien, und die 50-er Jahre Häuser mit etwas ansehnlicheren Fassaden ausstatten, sähe das ganze schon besser aus. Leider gehen die pläne für den Marktplatz eher in die Richtung einer noch moderneren Gestaltung, unter Einbeziehung des Luftschutzbunkers aus dem Zweiten Weltkrieg unter dem Platz.

    Du siehst, dass ich schon mehr von der Situation im nördlichen Baden-Württemberg weiss, als Du wahrscheinlich dachtest. Meine Reaktion auf den bevorstehenden Abriss in Calw war eher ein emotionaler als ein rationaler :gg:

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Brandmauer

    Ich wollte nur einige Informationen liefern, da ich dachte, diese wären unbekannt. Aber ich teile natürlich vollkommen die emotionale Reaktion anlässlich des Calwer Abrisses. Und den Ideen zur Rekonstruktion wenigstens minimaler Altstadt-Parzellen in Heilbronn und Pforzheim sowie Stuttgart wünsche ich irgendwann die Erfüllung.

    Bezüglich des Archivbaus neben dem Rathaus in Heilbronn bin ich jetzt etwas verwirrt. Ich meinte folgendes Rokoko-Gebäude, und dieser Bau ist bis heute nicht vollständig rekonstruiert, sondern eine etwas verkommene Gedenkstätte neben dem Rathaus:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Heil…le_20060714.jpg
    Ich denke, man sollte das Gebäude samt Fassade wieder besser instand setzen und nutzbar machen. Es kann dann am und im Eingang ja eine Gedenkstätte erhalten bleiben.

    Einmal editiert, zuletzt von Heimdall (6. März 2011 um 15:26)

  • Heimdall

    Der Rokoko-Bau, den du zeigst, befindet sich vom Markt aus gesehen hinter dem Rathaus. Ich meinte die beiden Renaissance-Bauten, die direkt am Markt neben dem Rathaus standen:
    [/img]
    Siehe im Bildindex Marburg Heilbronn>Öffentlicher Profanbau>Rathaus
    Wenn man diese beiden Bauten rekonstruieren würde, könnte der Rokoko-Bau meinetwegen Gedenkstätte bleiben. Sie erinnert an der nicht geringen Zahl von 6000 Ziviltoten.

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Mit den Bildern funktioniert es bei mir also noch nicht :(
    Genau gesagt: ich meinte die Kanzleigebäude und nicht der Archivbau.

    VBI DOLOR IBI VIGILES

  • Brandmauer - so funktioniert es: [ img ] http://www.bildindex.de/bilder/MI05697a09b.jpg\r
    http://www.bildindex.de/bilder/MI05697a09b.jpg [ /img ]

    (einfach mit der rechten Maustaste auf das Bild>Eigenschaften und dann den Link kopieren.

    Aber es wäre wünschenswert, wenn ihr mal wieder die Kurve zu dem stadtplanerischen 'Verbrechen' in Calw kriegt, sonst liegt die Diskussion darüber ja bald brach ;)

  • Dann soll diese Kurve genommen werden...

    Thema Calw:

    - Wenn der Abriss schon beschlossen ist, was kann man noch machen?

    - Ist die Denkmalschutzbehörde nicht mehr umzustimmen?

    - Gibt es jemanden, der mit dem Investor in Kontakt treten kann, und klären, ob und unter welchen Bedingungen die ein oder andere Fassade zumindest zu retten ist?

    - Kann jemand eine genaue Dokumentation der bestehenden Fachwerkgebäude durchführen?

  • Zitat von "Brandmauer"

    Heimdall


    In Stuttgart ist es an erster Stelle der oberhässliche Marktplatz, woran die ehemalige Altstadt erkrankt. Würde man das Rathaus von seiner Betonhülle befreien, und die 50-er Jahre Häuser mit etwas ansehnlicheren Fassaden ausstatten, sähe das ganze schon besser aus. Leider gehen die pläne für den Marktplatz eher in die Richtung einer noch moderneren Gestaltung, unter Einbeziehung des Luftschutzbunkers aus dem Zweiten Weltkrieg unter dem Platz.

    Vor allem das "Nobelkaufhaus" Breuninger sei hier aufgeführt. Das ist der größte Schandfleck - und keiner beschwert sich:

    http://img408.imageshack.us/my.php?image=kaufhauszi7.jpg

    Der Tiefpunkt der Baukultur wurde in den 60er und 70er Jahren des 20sten Jahrhunderts erreicht...