Fragen und Anmerkungen zu Berlin

  • Mit ihrer romantischen Hauptstadt gelten die Franzosen dem Klischee nach als - Romantiker.
    Aus London, einer Stadt, die sich in einer Symbiose aus Alt und Neu immer wieder neu erfindet, folgert man ein künstlerisches Genie der Briten.
    Amerikaner werden häufig als Größenwahnsinnig angesehen. Beim Anblick der Boulevards von Washungton DC weiß man auch wieso.
    Und die kulturelle Leidenschaft, der Esprit und das Lebensgefühl der Italiener erklärt sich bei einem Besuch Roms von selbst.

    Ist es da beim Aussehen Berlins kein Wunder, dass wir Deutschen stereotypisch als streng, spießig, arrogant, einfallslos, breitmachend, trist, kulturlos und ignorant gelten?

    Form is Function.

    "Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet."

    Adolf Loos (Ja, genau der.)

  • Also einfallslos und ignorant würd ich jetzt nicht unbedingt sagen. Wenn ich mir so den Wiederaufbau von zerbombten Städten in Frankreich anschau zweifel ich daran, dass Paris besser aussehen würde als Berlin wenn es ähnliches durchgemacht hätte.

  • Dazu fällt mir eine Fernsehdoku auf Phoenix ein, in der russische Oligarchen über ihre Vorliebe für Zweitwohnsitze in London, Paris, Wien und in der Schweiz zu Wort kamen und auch mit ihren Zweitwohnsitzen vorgestellt wurden. Irgendeiner meinte angesprochen auf Berlin...dass die Stadt erstens nicht schön und zweitens zu proletarisch sei.

  • Vor kurzem war ich erst wieder in Berlin, und was mich ja am meisten gestört hat, waren die ganzen entstuckten Gründerzeithäuser. Alex & Co sind schließlich als Zeugnisse einer vergangenen Zeit, die trotz ihres grauenhaft schlechten Geschmacks zur deutschen Geschichte gehört, ja noch einigermaßen zu verkraften, aber all diese verlorene Pracht, die doch GANZ OFFENSICHTLICH wiederhergestellt werden könnte, macht mich kirre. Man bräuchte doch nur ein bisschen Gips, Archivmaterial und irgendjemanden mit etwas Ahnung (zum Beispiel mich :zwinkern: ). Aber nein, entweder man ist zu geizig zu investieren, oder es müssen mal wieder 'die Wunden der Vergangenheit sichtbar bleiben'. :kopfwand:
    Und wenn sich dann doch mal ein Investor ein Herz fasst, dann werden nur solche pseudohistorischen Zitate ohne Gliederung und Profil an die Wand geklatscht.

    Vor kurzem bin übrigens ich auf ein paar Bilder des "Cafés des Westens" gestoßen, auch bekannt als "Cafe Größenwahn", jedoch nur eine nah- und eine Teilaufnahme . Kennt irgendjemand die weitere Struktur des Gebäudes - Dachlandschaft, Fassadendetails oder vielleicht sogar Interieur?

    Form is Function.

    "Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet."

    Adolf Loos (Ja, genau der.)

  • Da muss ich dir aus ganzem Herzen beipflichten. Entstuckte Häuser, und die gibt es in Berlin - Ost wie West - stadtviertelweise, sind das Deprimierendste, was eine Stadt an Architektureindrücken bieten kann. Noch immer kann man sich in Berlin des Eindrucks nicht erwehren, als hielte eine gewaltige Depression diese Stadt in ihrem Würgegriff, als wollte kleinbürgerliche Wurstigkeit und Primitivität dieser Stadt für alle Zeit den kulturellen Garaus verschaffen. Ein entstucktes Haus ist weder historisch noch modern sondern ein Nichts, und ich finde es unbegreiflich, dass die Bauaufsichtsämter Renovierungen und Dachausbauten genehmigen, ohne auf einer Wiederherstellung der Fassade zu bestehen.

    Ich habe schon vor Jahren bei der "Berliner Morgenpost" angeregt, dass in einer regelmäßig erscheinenden Kolumne wiederbestuckte Fassaden vorgestellt und gewürdigt werden, damit das Thema Eingang findet in das Bewusstsein der Stadtbevölkerung. Berlin besteht nunmal zu 95% aus gründerzeitlichen Stadterweiterungen, und wenn wir für Rekonstruktionen (in aller Regel Fassadenrekonstruktionen) im barocken Kern der Stadt eintreten, dann sollten uns Fassadenrekonstruktionen in den riesigen Gründerzeitvierteln erst recht ein Herzensanliegen sein. Schon eine einzige rekonstruierte Fassade in den Stadtbereichen, die das stadtkulturelle Bewusstsein seit Jahrzehnten abgeschrieben hat, wirkt wie ein Fanal, wie ein österliches Hoffnungszeichen!

  • Das mit der Kolumne ist sicher eine sehr gute Idee. Aber eine Zeitung muss sich auch verkaufen, und was interessiert den Gängsta aus Marzahn oder den Snob am Ku'damm, wenn irgendwo in Friedrichshain eine Neorenaissancefassade rekonstruiert wird? Das kulturelle Bewusstsein ist beim Großteil der Bevölkerung jämmerlich verkümmert und abgestumpft, über einen Artikel wie diesen würden die doch vollkommen hinwegsehen, weil kunsthistorisch zu anspruchsvoll. Um so jemanden zu begeistern, braucht es schon die Werbestrategien von Kaufhausmagnaten. 'Jugendstil? Erhalten? Wozu? Hier gibt's nen neuen H&M!' :augenrollengruen:

    Form is Function.

    "Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim Alten. Denn die Wahrheit, und sei sie hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr Zusammenhang als die Lüge, die neben uns schreitet."

    Adolf Loos (Ja, genau der.)

  • Unfassbar, wie sich die Irrungen in der gestaltenden Architektur seit 1920 vermehrt haben, und der Genuss von Architektur nahezu gegen 0 getrieben wird. :kopfschuetteln:

  • Hallo Nothor,
    Berlin ist im Grunde nicht mehr zu retten. Das muss man ganz klar so ausprechen, denn all die Bausünden sind einfach schon aus logistischen Gründen nicht mehr konventionell zu entfernen. Um es mal medizinplastisch zu formulieren: Man müsste das jetzige Gesicht der Stadt herausoperieren und durch ein frisches Transplantat ersetzen. Das wäre ein Projekt, wie es Deutschland noch nicht gesehen hat. Deutschland wird es auch nie sehen, denn wir werden uns mit übelstem Städtebau bis an unser Lebensende herumplagen müssen.

  • Im Großen und Ganzen befürchte ich, dass Oliver recht hat. Aber insgeheim hoffe ich ja doch noch darauf, dass hier einmal ein Umdenken stattfinden wird - siehe [lexicon='Leipzig'][/lexicon], die einzige richtige Großstadt in D, welche noch ziemlich erhalten ist und jedes Jahr um ein Stückchen schöner und lebenswerter wird - gerade durch die vielen Fassadenrekonstruktionen!

    Es ist natürlich auch immer eine Frage der Kultur seiner Stadtväter und da sehe ich in Berlin momentan weiter auf dem absterbenden Ast mit der jetzigen Stadtregierung, aber so etwas kann sich bekanntlich auch wieder zum Positiven ändern. Wenn ich an Paris im 19. Jahrdt. denke, da hat man auch einen hervorragenden und gewaltigen Schritt durch Haussmann gewagt und gewonnen. In Berlin fehlt einfach (noch) der Sinn fürs Schöne - aber wer weiß...Potsdam liegt vor der Türe und da könne sich einige etwas abscheuen. In diesem Sinn - Reisen bildet und ihr könnt ja einmal die rote Horde auf Bildungsurlaub nach [lexicon='Leipzig'][/lexicon] schicken, wenn die überhaupt wissen wo das liegt...

  • Paris würde ich jetzt nicht unbedingt als Positivbeispiel nennen. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg hat man da eigentlich, wenn auch zugegeben „nur“ in Gründerzeitvierteln, ähnlich gewaltig gewütet wie in Berlin. Der Süden von Paris sieht meines Erachtens sogar schlimmer aus als Berlin, eher wie Tokio. Dort stehen dann schonmal 100 Meter hohe Sozialwohnblöcke diagonal zu zwei, drei stehengebliebenen Historismuskasernen. Allerdings ist das zugegeben anbetrachts der erhaltenen Altbausubstanz ein Luxusproblem.

  • wobei ich die immergleichen Hausmannstraßenzüge nach einer Zeit auch eintönig fand. Mir kam Berlin auf alten Bildern und Filmen da abwechslungsreicher daher.

  • wobei ich die immergleichen Hausmannstraßenzüge nach einer Zeit auch eintönig fand. Mir kam Berlin auf alten Bildern und Filmen da abwechslungsreicher daher.


    Habe ich auch immer so empfunden; schade eben nur, daß Berlin so zerstört wurde. Die Stadt war viel abwechslungsreicher und lebendiger, während Paris doch eher einschüchternd daherkommt und auch kaum zum Verweilen einlädt, wenn man mal von Plätzen wie der Place de Vosges und natürlich den Cafes absieht.

    Napoleon und Haussmann können von Glück sagen, daß damals das heutzutage inflationär verwendete "größenwahnsinnig" noch nicht gegeben hat, denn wenn dazu kein Mut gehört, eine komplette Hauptstadt abzureißen und bei vollem Betrieb neu zu errichten, daß dürfte in der Menscheitsgeschichte einmalig sein. Auch Peter der Große würde heute mit diesem Adjektiv veredelt, denn nicht nur das Bauvorhaben St. Petersburg an sich war gigantisch und an denkbar ungünstigem Orte geplant, es hat auch abertausende von Menschenleben gekostet.

    Aber danach fragt nach einigen Jahren niemand mehr, was bleibt, ist das Bruttokulturprodukt.

  • Das ist was Berlin früher so schön machte: Harmonisches und einheitliches Bauen von (geschlossen) Baublock zu (geschlossen) Baublock (also nicht wie die Modernen es betreiben); Details (also nicht was Modernen beabsichtigen); Formenpracht.
    Die Beseitigung des Baudekors der Gründerzeit, die "Entdekorierung" der
    Fassaden, hat das Berliner Stadtbild seit 1920 geprägt wie kaum eine
    andere bauliche Maßnahme in der Epoche der Moderne. Der
    wechselhaften Geschichte dieses radikalen Vorgehens, die Protagonisten und ihre Motive. Die architektonische
    Moderne zog einen wesentlichen Teil ihrer kreativen Energie aus der
    Verachtung für das 19. Jahrhunder
    t. Besonders die "unschöpferischen" und
    "handwerklich schlechten (??????)" Bauten der Jahre nach 1870 wurden vehement
    abgelehnt. Da man diese nicht vollständig beseitigen konnte, musste man
    sich vielfach mit der äußerlichen Anpassung von Gründerzeithäusern an
    die Gestaltungsprinzipien der Moderne begnügen. Die Abschlagung des
    Dekors, Beseitigung von Turmaufbauten oder Begradigung des Umrisses
    sollte die Epoche im Stadtbild zumindest äußerlich vergessen machen.
    Namhafte Architekten wie Bruno Taut, die Brüder Luckhardt und Alfons
    Anker oder Erich Mendelsohn initiierten die Entdekorierung zu Beginn der
    1920er Jahre mit Fassadenumbauten im Stil des "Neuen Bauens". Während
    der NS-Zeit verlagerte sich die Entdekorierung vorwiegend auf Dörfer und
    Kleinstädte, bis sie in den 1950er Jahren ihren quantitativen Höhepunkt
    erreichte: Die Fassaden in Ost- und Westberlin wurden im großen Stil
    "eingeschäumt und rasiert". Dem Ende der Entdekorierung seit den 1960er Jahren und der zunehmenden
    denkmalpflegerischen Bewahrung der Bauten des Historismus.

    :ueberkopfstreichen:

  • Hallo

    War kürzlich mal wieder in Mitte und fand mit Mühe einen Weg durch den Baustellendschungel. Mir tun die Touristen leid, denen Ihre Bücher eine intakte Stadtmitte vorgaukeln. Ich werde mit meinen Gästen den Bereich zwischen Brandenburger Tor und Alex in den nächsten Jahren meiden und sie lieber durch die Spandauer Vorstadt führen. In 7 Jahren, wenn Schloss, U-Bahn, Staatsbibliothek, Oper, Kronprinzenpalais und andere Projekte fertig sind, kann man vielleicht wieder dort hingehen, aber bis dahin nur, wenn man sich für Baustellen interessiert.

    Sorry, ich kann nicht anders, als das ironisch zu illustrieren ;)  
    (und das sind noch längst nicht alle Baustellen)

    Erläuterungen für Nicht-Berliner:
    Oben links: Marienkirche vor Pflasterarbeiten rund um den Fernsehturm, oben Mitte: Abraum vor Dom, oben rechts: Baustelle der neuen Rathausbrücke vor Atrappe der Bauakademie, Mitte links: U-Bahn-Baustelleneinrichtung auf dem Marx-Engels-Forum, Mitte rechts: U-Bahn-Baustelle vor Rathaus, unten MItte: Schachtarbeiten in Grünanlage am Nikolaiviertel, unten rechts: siehe oben links

    Dem bald wieder aufgebauten Berlin stehen goldene Zeiten bevor .....

    Einmal editiert, zuletzt von Wiederaufbaumelder (24. April 2012 um 12:54)

  • Vielen Dank, Wiederaufbaumelder. :smile: Fuer einen Aussenstehenden waere es angenehm, wenn Du Deine Bilder mit einem Kommentar versehen koenntest (ein kurzer genuegt). All dies mag zwar fuer Berliner ein alter Hut sein, aber einige andere kennen sich vielleicht nicht in dem Masse aus.

    Dass das nicht alle Berliner Baustellen vertreten sind wissen wir u.a. auch von Palantir, der uns haeufig mit (nicht unbedingt immer 100% erfreulichen) Projekten informiert.

  • Wenn du danach gehst wirst du wohl niemals nach Berlin kommen. Ist die eine Großbaustelle zu Ende wird naturgemäß die Nächste aufgemacht^^

  • Wie kann man sich im Angesicht der Geschichte denn noch ein Stadtbild der 20er/30er Jahre vorstellen? Das ist ja schon mehr als grenzwertig...

    Ansonsten sind 3 Tage für Berlin und Potsdam, ähnlich wie 14 oder 21, viel zu kurz. Denn man kann sagen was man will, und mir als Sachsen fällt das natürlich besonders schwer, aber in Berlin und Potsdam schlägt nunmal schon seit 200 Jahren das Herz Deutschlands, auch wenn es einem oft auch recht spröde erscheint.

    Wahre Baukunst ist immer objektiv und Ausdruck der inneren Struktur der Epoche, aus der sie wächst. Ludwig Mies van der Rohe

  • Die Vergleiche sind auch etwas "unfair". Berlin bzw Cölln waren noch verpupste Fischernester als Städte wie Duisburg, Dortmund und co schon mächtige Reichsstädte waren. Selbst ohne Zerstörungen wäre das Bild der eigentlichen Altstadt unter der Annahme, dass auch die anderen noch unversehrt sind, kein allzu überwältigendes gewesen.