Englische Idealstadt in China

  • Zitat

    Englische Pubs, eine Churchill-Statue und Tudor-Häuser: In Thames Town ist alles wie in England. Nur dass die Stadt nicht in Großbritannien liegt, sondern in China. Ein Immobilien-Unternehmen hat die Kopie aus dem Boden gestampft - und sich damit viel Ärger eingehandelt. [...] Er wollte, dass alles genau so ist wie im Vereinigten Königreich. Auch auf das kleinste Detail haben James Ho, Geschäftsführer des privaten Immobilien-Unternehmens Shanghai Henghe Real Estate Corporation, und seine Kollegen von der Stadtentwicklung geachtet. Inzwischen erinnert im chinesischen Songjiang nahe Shanghai alles an England: die Pubs, Fish-and-Chips-Imbissbuden, Reihenhäuser im gregorianischen und viktorianischen Stil, eine neugotische Kirche. Sogar ein in Bronze gegossener Winston Churchill thront auf einem Sockel. [...] Die britischen Bauten in Songjiang sind perfekt. Zu perfekt. Gail Caddy, Inhaberin einer Kneipe und eines Fish and Chips-Shops in Lyme Regis im südwestenglischen Dorset, fühlt sich hintergangen. Die Unternehmerin hat aus britischen Zeitungen erfahren, dass sowohl ihr Lokal "Rock Point Inn" als auch ihre "Cob Gate Fish Bar" als täuschend echte Nachbildungen in China Besucher anlocken sollen. [...] Englands Bauten sind nicht die einzigen Originale, die für eine Nachahmung in Asien herhalten mussten. Schon vor rund einem Jahr erregte sich die britische Presse über British Town, eine Stadt, die detailgetreu an das englische Dorchester erinnert. Einziger Unterschied: British Town liegt in Zentralchina, in Chengdu. Ein chinesischer Entwickler machte sich an die Reproduktion, nachdem er das Motiv auf einer Weihnachts-Postkarte entdeckt hatte. Derzeit seien zudem eine italienische und eine deutsche Stadt in China geplant, berichtet Reuters. [...] Eine deutsche Stadt gibt es dort bereits, sie heißt Anting und liegt rund 30 Kilometer nordwestlich von Shanghai. Sie wurde ursprünglich vom Frankfurter Architekten Albert Speer, dem Sohn des gleichnamigen Chefarchitekten und Rüstungsministers im "Dritten Reich", geplant. Wie Thames Town ist sie eine der sogenannten Satellitenstädte, die rings um Shanghai entstehen. Jede der Städte soll eine bestimmte Kultur vermitteln - spanischer Charme, italienisches Piazza-Flair, holländische Windmühlenromantik.

    Den kompletten Artikel nebst Bildern gibt es bei: http://www.spiegel.de/reise/staedte/0,1518,446802,00.html\r
    http://www.spiegel.de/reise/staedte/0,1 ... 02,00.html

    Wenn du ein Haus baust, denke an die Stadt (Luigi Snozzi)

  • Vielleicht könnten die eifrigen fernöstlichen Kopisten (Stichworte: Transrapid, Smart, Sojus-Raumschiff) ja zur Abwechslung auch mal eine "chinesische Idealstadt" in China errichten... :zwinkern:
    Oder noch besser, die eigenen Altstädte erhalten, anstatt plattzumachen und die Altstädte fremder Kulturkreise "nachzubauen".

  • Na, hoffentlich kommen die Chinesen dann bald auf die Idee das alte Dresden nachzubauen. Das wäre genial, denn in Dresden bekommt das ja nicht gebacken. Das wäre für mich ein Argument nach China zu reisen. :lachen:

  • Ja, schon seltsam, daß die chinesischen Altstädte abgerissen und europäische Städte kopiert werden - unser Denkfehler besteht wahrscheinlich darin, daß wir aus der Ferne glauben, daß dies ein und demselben Willen entspringt; so wie ein Chinese sich wundern könnte, daß einerseits die Frauenkirche wieder aufgebaut wurde, während es gleichzeitig in Berlin ein ICC und das Bundeskanzleramt gibt.
    Vermutlich existiert auch in China, einem immerhin riesigen Land, so etwas wie Entscheidungspluralismus.
    Was mich ein wenig freut, ist diese Bewunderung fürs Alteuropäische; erinnern wir uns, auch in Europa gab es zur Zeit des Barock/Rokoko eine kindliche Freude am Fernöstlichen, vielleicht wiederholt sich da etwas mit umgekehrtem Vorzeichen.

    Apropos: kennt jemand die reizenden Zeichentrickfilme des gefeierten Regisseurs H. Miyazaki? Im letzten Jahr kam "Das wandelnde Schloß'" in die Kinos, abgesehen von der hübschen Geschichte hat mir die dort dargestellte Architektur den Atem verschlagen:
    Sophies Heimatstadt ist Deutsches Fachwerkmittelalter pur, die Stadt des Königs prächtigste Belle-Epoque irgendwo zwischen Wiener Ringstraße und Paris.
    Heute kam der Film "Kiki's Lieferservice", er spielt in einer atemberaubend schönen Stadt am Meer und der Teufel soll mich holfen, wenn nicht Reval in Estland dabei Pate gestanden hat.
    Unbedingt diese Filme besorgen, man kann darin schwelgen bis zum geht nicht mehr - der Mann, der diese Meisterwerke geschaffen hat, ist, wie gesagt , Japaner !

  • Irgendwie fiel mir bei dem Thema ein, daß es in China schon eine deutsche Stadt gibt. Nämlich die ehemalige Kolonie Tsintau. Von der hatte ich Aufnahmen im Kopf, die eine - arg heruntergekommene - putzige deutsche Gründerzeitsiedlung zeigten.

    Und was sagt mir wikipedia: "Aus Qingdao ist inzwischen eine typisch chinesische Millionenstadt geworden. Dem Bauboom mussten viele alte Kolonialbauten weichen."
    Na ja, der Albert Speer baut euch stattdessen 'ne hübsche moderne "deutsche" Siedlung :augenrollen:


    Nur die Brauerei scheint bekanntermaßen stehen geblieben zu sein. Auch das deutsche Reich hatte eine kulturelle Weltmission
    :zwinkern:

  • > Was mich ein wenig freut, ist diese Bewunderung fürs Alteuropäische; erinnern wir uns, auch in Europa gab es zur Zeit des Barock/Rokoko eine kindliche Freude am Fernöstlichen, vielleicht wiederholt sich da etwas mit umgekehrtem Vorzeichen.

    Als ich voriges Jahr in China war, war ich erstaunt daß ein großer Teil der chinesischen traditionellen Architektur äußerst schlicht ist, so wie wir uns in Europa 'japanisch' vorstellen. Das verspielte, farbenfrohe wie wir es aus jedem Chinarestaurant kennen stammt hauptsächlich aus dem 17. und 18. Jahrhundert und ist nicht nur mit dem Barock vergleichbar sondern wohl tatsächlich über die Portugiesen auch von Europa aus beeinflußt. Zur selben Zeit, wo europäische Fürsten sich chinesische Pagoden in ihre Gärten stellten, stellte sich der chinesische Kaiser europäische Pavillons in seine. Leider sind sie in einem der Opiumkriege von den Engländern zerstört worden.

  • Ist das Bedürfnis der Chinesen zu kopieren vielleicht ein Zeichen der Selbstentfremdung? Wahrscheinlich eine Spätfolge der Kulturrevolution. Irgendwie ist es ja das gleiche, was die Chinesen mit westlichen Industrieprodukten machen: kopieren statt selbst zu erfinden. Ich finde das ziemlich ärmlich... :?

  • Übernahmen aus anderen Kulturkreisen sind doch etwas völlig normales - die Bauten am Münchner Königsplatz (und viele andere mehr) sind doch auch Kopien griechischer Vorbilder, und Übernahmen aus China gab es auch schon (http://de.wikipedia.org/wiki/Chinoiserie\r
    de.wikipedia.org/wiki/Chinoiserie).

    Nebenbei bemerkt: Dies trifft übrigens auch auf die christliche Religion zu - ist ja auch nichts originär europäisches.

  • Wenn in Deutschland griechische Architektur kopiert wurde, tat man das, weil man seine kulturelle Wurzel u.a. in Griechenland sah. Und ich glaube nicht, dass die Chinesen mit der Architektur auch europäische Werte übernehmen. DIe Chinoiserie war sicher auch nichts mit Tiefgang, sondern eine Mode. Aber ganze Städte zu kopieren, finde ich, hat was absolut Maßloses.

  • Sehr schöne Bilder, Johan! Da fragt man sich wirklich, warum die Chinesen nicht ihre Altstädte in den Metropolen erhalten, anstatt am Stadtrand europäische Städte zu imitieren. Die chinesische Bautradition steht der europöischen in nichts nach.

  • Kleiner Seitenhieb: Es ist diesselbe Intention, welche z.B. die Münchner Bauherren nach 1800 dazu veranlaßt haben ihre ganze historische Altstadt für Klenze & Co's Neugriechenland niederzulegen. Das ureigene, überkommene Erbe war einigen Leuten "peinlich" - dieser Reflex greift übrigens bis heute...deswegen baut man in Hamburg z.B. eher nach Art der Stalinallee... :(

    Nein, die werden gedünstet

  • Zitat von "Stephan"


    ...


    Ist ja lustig, daß die Chinesen schon Churchillstatuen bauen, der ein
    klarer Gegner der Kommunisten war. Shanghei scheint jetzt das
    chinesische Las Vegas zu werden. Dort wo die Kultur am geringsten
    gesäht ist, kopiert man einfach die von anderen Völkern. Ich sehe das als
    Verneigung vor der jüdisch-christlichen Kultur Europas. Meinetwegen
    können sie es gerne machen. :gg:

  • [quote="Wissmut"]Kleiner Seitenhieb: Es ist diesselbe Intention, welche z.B. die Münchner Bauherren nach 1800 dazu veranlaßt haben ihre ganze historische Altstadt für Klenze & Co's Neugriechenland niederzulegen. Das ureigene, überkommene Erbe war einigen Leuten "peinlich" - quote]

    Liest sich nett, ist aber falsch:

    ´"Die Bauherren" waren in erster Linie Ludwig I. und das war ein sehr aufgeklärter Herrscher, der aus München besagtes Isarathen machen wollte; wenn das verwerflich ist, dann müßte man auch Schinkel, Laves und Weinbrenners Bauten verwerfen, denn ihre und Klenzes' Bauten sind das reinste Licht; auch Wörlitz zählt dazu. "Peinlich" war ihnen gar nichts, aber man hatte eine Idee und das ist das entscheidende.

    Überbauung hat es in der Geschichte oft gegeben, aus dem Salzburg des Fachwerks wurde die uns heute bekannte Barockstadt, die Fachwerkstadt Hannover wurde klassizistisch erweitert, Baron Hausmann durfte unter Napoleon III. die größte Veränderung einer Stadt anheimgedeihen lassen, die es jemals gegeben hatte:
    das mittelalterliche Paris verschwandt und es entstand das Paris der breiten Avenuen, der Prachtstraßen und mansardenbedachten großbürgerlichen Bauten, welches unser Bild von Paris prägt und wofür wir diese Stadt lieben (weil wir es nicht anders kennen, vielleicht).

    Veränderung läßt sich nicht verhindern, nur daß sie so seelenlos (weltweit, nicht nur in Deutschland) vonstatten geht, ist der Fluch des 20. Jahrhunderts.

    Wo bleibt ein neuer Perikles, wo? :augenrollen:

  • Snork 9. Oktober 2021 um 19:12

    Hat den Titel des Themas von „Grotesk! Englische Idealstadt in China“ zu „Englische Idealstadt in China“ geändert.