• Der gesamte Khreshchatyk - die Prunkstraße der Innenstadt - wurde nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht durch Zeitzünder gesprengt, die die Rote Armee vor dem Abzug gelegt hatte. Der Wiederaufbau erfolgte im "Zuckerbäckerstil". Ich vermute, dass ein Großteil der übrigen wirst ein ähnliches Schicksal hatte...

  • Rastrelli: in den Medien steht gar nichts über Reperaturen oder Wiederaufbau kriegsbeschädigten Gebäuden. Deswegen meine Frage hier im Forum. In Charkiv und Kherson sind die beschädigte Gebäuden nicht repariert worden, weil die Stadt noch immer unter Dauerbeschuss liegt.

  • Auf jeden Fall scheint der Corso Khreshchatyk sehr viel attraktiver als alle mir bekannten ähnlichen Nachkriegsschöpfungen in Deutschland.

    "In der Vergangenheit sind wir den andern Völkern weit voraus."

    Karl Kraus

  • Das liegt am "Stalin-Barock", von dem auch das schwer zerstörte Sofia enorm profitierte. Verglichen mit den trostlosen westdeutschen Fußgängerzonen wirkte die Bebauung sozialistischer Boulevards so urban wie traditionell fundiert. Dazu verband sie sich nahezu zwanglos mit dem Altbestand. Auch in von Kriegsfolgen nicht betroffenen Städten wie Moskau, wo es an vielen neuralgischen Punkten des Stadtbildes den Kremltürmen nachempfundene Hochhäuser gibt, sorgt dieser Stil bis heute für ein angenehmes städtebauliches Ambiente.

    In der DDR kam dieser Stil eher in abgespeckter Spätform zum Einsatz (Berlin und Magdeburg, im klassischen Zuckerbäckerstil noch Rostock, Lange Straße, als in meinen Augen bedeutendstes deutsches Beispiel überhaupt und Dresden Altmarkt). Spätestens ab 1960 wurde dieser Stil zunehmend belächelt, indes ist mE aus heutiger Sicht zu konstatieren, dass es in keiner westdeutschen Metropole jenseits der Rekozonen etwas qualitativ Vergleichbares gibt.

  • Verglichen mit den trostlosen westdeutschen Fußgängerzonen wirkte die Bebauung sozialistischer Boulevards so urban wie traditionell fundiert

    "trostlose westdeutsche Fußgängerzonen" vs. "sozialistische Boulevards" ist doch sehr generalisierend formuliert, nicht nur, daß es in der "Bundesrepublik alt" sehr viele verschiedene Gestaltungsansätze gab (mir jedenfalls sind die Fußgängerzonen von Ingolstadt, Augsburg und München sehr viel lieber als der schwer-monumentale sozialistische Klassizismus), auch war die DDR nur sehr punktuell in der Lage, solche aufwendigen "traditionell fundierten" Boulevards in der nationalen Tradition zu errichten.

    Wobei es sich in Magdeburg genauso wie in Dresden oder Leipzig (Roßplatz) um keinen "Boulevard" handelte, sondern jeweils um einen sehr großen, völlig überdimensionierten Platz - und die Bebauung in Magdeburg am Zentralen Platz nur unvollständig realisiert wurde.

    Der eigentliche "sozialistische Boulevard" in Magdeburg ist der Breite Weg (Nordabschnitt), der eher an eine Mini-Ausgabe der Prager Straße erinnert: klick

    In Chemnitz entstand die Straße der Nationen (klick) und in Leipzig wurden ja am Brühl gleich neben dem Konsument-Kaufhaus ebenfalls die damals offensichtlich sehr beliebten quergestellten Blöcke aufgestellt (klick). Jedenfalls sind wir hier definitiv in der Moderne angelangt und nicht mehr in der "traditionell fundierten" Bauweise.

    Lanes are meant to be crossed. If you're staying in your lane you're obviously advancing too slow.

  • Ja, aber die haben idR wenig mit dem "Zuckerbäckerstil" zu tun. Die späten DDR-Beispiele sind schon sehr "funktionalistisch" vereinfacht und nähern sich damit schon rein prinzipiell der Westmoderne an. So was wie die Breite Straße in Rostock oder die Moskauer/Kiewer Beispiele gibt es im Westen nicht. Augsburg und München sind schlechte Beispiele, weil dort nicht tabula rasa-mäßig abgeräumt wurde.

  • Rastrelli: in den Medien steht gar nichts über Reperaturen oder Wiederaufbau kriegsbeschädigten Gebäuden. Deswegen meine Frage hier im Forum.

    Natürlich wird repariert und instandgesetzt. Soweit es möglich ist, werden Schäden schnell behoben. Es ist aber schwierig, nähre Informationen zu finden, auch wenn man die ukrainische Sprache nutzt.

    Ein Beispiel: Am 10. Oktober 2022 schlug eine Rakete im Taras-Schewtschenko-Park ein. Am Hauptgebäude der Schewtschenko-Universität (Rotes Gebäude) gingen durch die Druckwelle einige Fensterscheiben zu Bruch. Der Krater und die Schäden im Park wurden bald darauf beseitigt. Dazu gab es damals eine Meldung der Stadtverwaltung. Auf dem folgenden Foto vom 8. April 2023 ist bei Vergrößerung zu erkennen, dass auch die beschädigten Fenster repariert wurden. Sowas muss ja schnell gemacht werden, wird aber in der Regel nicht gemeldet. Auf der nahegelegenen Kreuzung Wolodymyrska / Boulevard Tarasa Schewtschenka war am 10. Oktober 2022 ebenfalls eine Rakete eingeschlagen. Die erheblichen Straßenschäden wurden innerhalb von ein oder zwei Tagen beseitigt. Dazu gab es auch eine Meldung.

    Die Ukrainer sind sehr tüchtig. Sie halten Kiew sauber und ordentlich, pflegen die Grünanlagen, pflanzen Bäume (wie hier am 8. April 2023 im Rahmen eines großen Frühjahrsputzes mit Aktionen auch in anderen Teilen der Stadt).

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    Kiew, wulyzja Wolodymyrska, Schewtschenko-Park, vor dem Roten Gebäude (Nr. 60) und der Bibliothek (Nr. 58) der Universität. Mitarbeiter kommunaler Betriebe und Freiwillige pflanzen im Rahmen des Frühjahrsputzes eine Allee zwölfjähriger Platanen
    (Foto: kyivcity.gov.ua, 8. April 2023, CC-BY-4.0)

    Das normale Leben geht - so gut es geht - weiter. Die Kiewer Metro befördert aktuell Woche für Woche circa vier bis fünf Millionen Fahrgäste. Auf den Hauptstraßen herrscht lebhafter Verkehr. Es gibt Straßenbauarbeiten und andere Infrastrukturmaßnahmen. Es gibt ein kulturelles Leben. Der Zoo hat geöffnet. Derzeit blühen die Kastanien. Kiew ist eine sehr grüne und schöne Stadt.

  • Als ich das letzte Mal in Sofia war (vor einem Jahr), hat es sogar noch Flüge nach Kiew gegeben, was ich mir partout nicht vorstellen konnte.

    Kann ich mir auch nicht vorstellen, vor allem weil es nicht stimmt. Die Kiewer zivilen Flughäfen sind außer Betrieb. Vielleicht war es eine Busverbindung?

  • Nein, es war am Flughafen. Mit dem Flug stimmte aber tatsächlich etwas nicht, er schien zwar auf, aber war irgendwie "außertürlich" dh wahrscheinlich nicht allgemein zugänglich. Aufgeschienen ist er jedenfalls, das hab ich mir nicht eingebildet. Auch meine Frau ist draus nicht schlau geworden, und sie kann bulgarisch. Vielleicht ist er nicht zum zivilen Flughafen gegangen? Jedenfalls war er in Sofia unter Abflug vermerkt, und wir haben uns sehr gewundert.

    Wer hätte keine Todesangst angesichts der herumschwirrenden Raketen??? Fürcht mich so schon genug vorm Fliegen.

  • Interessant, wie sich die Größenverhältnisse der Nr 32 sozusagen ins Gegenteil verkehrt haben. Es ist nichtsdestotrotz ein sehr qualitätvoller Neubau mit so etwas wie Vorbildcharakter für Lückenschließung in historischen Ensembles

    Der Neubau hat die Hausnummer 34. Hier nochmal das Bild. Deine positive Einschätzung teile ich. Das Gebäude passt wirklich gut zu Kiew.

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    Kiew, wulyzja Bohdana Chmelnyzkoho 34 (Foto: Alexostrov, 28. September 2012, CC-BY-SA-3.0)

    Wie muss man sich vorstellen? Gibt es in Kiew etwa wenig geschlossen erhaltene Gründerzeit? Ohne Frage ein hübsches Ensemble, aber dass es gleich zum Besten einer Metropole zählen müsste - das wäre doch enttäuschend? War die Zerstörung 1941 so weitgehend gewesen?

    Naja, was heißt "Metropole"? Kiew war eine Gouvernementstadt im Russischen Reich. Metropolen waren Petersburg und Moskau.

    Den Begriff "Gründerzeit" gibt es in Bezug auf Russland eigentlich nicht. Die Mietshäuser oder Zinshäuser des Historismus entsprechen jedoch ungefähr unserer Vorstellung von einem "Gründerzeitler". In Kiew wurden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etwa 850 solcher Zinshäuser errichtet. Sie sind aber nicht alle erhalten. Eine Kreuzung mit vier schönen historistischen Eckbauten wie die Kreuzung Bohdana Chmelnyzkoho / Iwana Franka ist selten.

  • "Zuckerbäckerstil"

    ist ein modernistischer Kampfbegriff.

    "Stalin-Barock"

    ist auch nicht viel besser. Im Russischen wird der Stil nicht selten als "Stalin-Empire" (französische Aussprache!) bezeichnet. Eine Orientierung am russischen Klassizismus des 19. Jahrhunderts ist in der Tat häufig zu beobachten. Die Bandbreite des "Stalin-Stils" ist jedoch erheblich größer. Ich bevorzuge die Bezeichnung Sowjetischer Historismus.

    Großbauten wie die sieben Moskauer Hochhäuser oder das Ensemble am Kiewer Chreschtschatyk ziehen die Aufmerksamkeit ausländischer Betrachter auf sich. Es gibt aber auch viele kleinere Gebäude und Lückenschließungen im historistischen Stil. Ein schönes Beispiel hatte ich bereits gezeigt: das 1934-1936 errichtete Wohnhaus in der damaligen "Leninstraße" (jetzt Bohdana Chmelnyzkoho) 38. Es fügt sich gut zwischen zwei um 1900 entstandene "Gründerzeitler" ein. Dieses Gebäude wird dem Postkonstruktivismus zugerechnet.

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    Kiew, Bohdana Chmelnyzkoho 38 (Foto: Catln, 19. September 2012, CC-BY-SA-3.0)

  • Rastrelli, wir brauchen aber irgendwelche Begriffe. Und Zuckerbäckerstil wie Stalinbarock sind immerhin dahingehend zuverlässig, als dass jeder weiß, was gemeint ist. Und vergiss nicht: mit "Gotik" verhielt es sich auch so.

    Also abgesehen von den Klösterkomplexen gibt es in Kiew nicht so etwas wie eine "Altstadtzelle"?

  • Also, ich kannte den Stil immer als Sozialistischen Klassizismus. Aber wer weiß, ob das heute auch nicht mehr politisch korrekt in manchen Kreisen ist. Man könnte auch einfach Neoklassizismus sagen, was dann aber sehr weit gefächert wäre.

  • Neo-Klassizismus ist es eben nicht, da es verschiedene Formen des Historismus aufgreift,

    Das ist (fast) richtig. Fast, weil es vor allem um das Aufgreifen historischer Vorlagen und weniger des Historismus geht.

    allen voran den Barock

    Das ist falsch. Hauptanknüpfungspunkt der sowjetischen Architekten war der russische Klassizismus. Eine wichtige Rolle spielte auch die italienische Renaissance. Zum Barock wird man hingegen kaum Verbindungen finden. Letztlich verarbeiteten die Architekten aber zahlreichie Anregungen und Motive. Die Bezeichnung Eklektizismus ist auf jeden Fall richtig.

    Gegen den Namen Stalin in der Stilbezeichnung bin ich, weil dies diffamierend gemeint ist. Die frühe Sowjetmoderne wird ja auch nicht als "Stalin-Moderne" bezeichnet. Die Strategie ist leicht zu durchschauen: Die linken Intellektuellen und Modernisten wünschen nicht, dass die von ihnen geschätzte Kunst der sowjetischen Avantgarde und Architektur des Konstruktivismus mit Stalin in Verbindung gebracht wird. Dabei galt Stalin zu jener Zeit als Konstruktivist. Eine Stilbezeichnung, die der ganzen Bandbreite der nichtmodernistischen sowjetischen Architektur gerecht wird, ist Sowjetischer Historismus.

    Wie wärs dann mit Neo-Eklektizismus?

    Das "Neo" müsstest du streichen. Im Zusammenhang mit dem Begriff "Eklektizismus" ergibt es keinen Sinn.

  • Ich wollte hierauf noch antworten:

    Wie groß sind denn dann effektiv die Unterschiede zwischen Russisch, Ukrainisch und Belarussisch? Ist das ggf. vergleichbar mit den diversen romanischen Sprachen in Spanien, wo z. B. der Unterschied Kastilisch - Katalanisch - Galizisch (eher vergleichbar mit Portugiesisch) groß ist, man sich bei kleineren Standardisierungversuchen (Asturisch ...) dann aber fragt, ob die wenigen Unterschied dann wirklich eine eigene "Sprache" rechtfertigen.

    Sprachen sind komplexe Gebilde, und ich finde es generell schwierig, den Abstand zwischen zwei Sprachen genau zu bestimmen und mit anderen Sprachenpaaren zu vergleichen. Ich meine aber, dass deine Vermutung (Analogie Kastilisch - Katalanisch - Galizisch) ungefähr in die richtige Richtung geht.

    Viele Menschen im Westen unterschätzen die Unterschiede zwischen Ukrainisch und Russisch. Wer Russisch als einzige slawische Sprache beherrscht, kann Ukrainisch nicht verstehen. Der Abstand zwischen Ukrainisch und Belarussisch ist geringer als der Abstand zwischen jeder der beiden Sprachen und Russisch. Die gegenseitige Verständlichkeit zwischen Ukrainisch und Belarussisch ist aber für die Verständigung zwischen beiden Völkern auch nicht ausreichend. Da wird dann auf das Russische als lingua franca zurückgegriffen.

    Es wird oft behauptet, das Ukrainische sei dem Polnischen besonders nahe. Das ist nicht richtig. Die Nähe zur tschechisch-slowakischen Dialektgruppe ist größer.

    Ein weiterer verbreiteter Irrtum ist die Annahme, "richtiges Ukrainisch" finde man nur in der Westukraine. Die Basis der ukrainischen Schriftsprache ist aber der Dialekt des mittleren Dniprogebiets. Kiew liegt am Südrand des polessischen Dialektraumes. Den Dniprodialekt finden wir südlich von Kiew (im Raum Tscherkassy, Poltawa). Dem Dniprodialekt ist der Sloboschanski-Dialekt sehr ähnlich, der östlich davon gesprochen wird (Raum Charkiw, Sumy). Die Unterschiede zur westukrainischen Literaturtradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind gering.

    Sowohl Belarussisch als auch Ukrainisch haben jeweils ihren eigenen Charakter. Sprachen sind ja sinnliche Gebilde. Ich finde beide Sprachen einfach schön.

  • Die gegenseitige Verständlichkeit zwischen Ukrainisch und Belarussisch ist aber für die Verständigung zwischen beiden Völkern auch nicht ausreichend.

    Kann ich aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Wir haben gestern Johannisnacht gefeiert, und die zwei anwesenden Belarussen haben sich mit den anwesenden Ukrainern in der jeweiligen Muttersprache unterhalten und problemlos verständigen können. Mir wurde erst nach einer Weile klar, dass es belarussisch und nicht ukrainisch war...