• Im Gegensatz zu vielen deutschen Großstädten wurde in Wien weit weniger Bausubstanz durch Kriegseinwirkungen zerstört. Dazu kommt noch, dass Wien vor 100 Jahren als Hauptstadt des Habsburgerreiches etwa 400.000 Einwohner mehr hatte als heute, weshalb das Erbe an historischen Bauten heute so umfangreich ist.

    Der gemeine Wiener reagiert auf diese Fülle historischer und vor allem historistischer Pracht so, wie man es erwartet, wenn jemand mit Überfluss gesegnet ist: er entwickelt eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber Zerstörung, beklagt anfallende Renovierungsarbeiten an Stuckfassaden als unzumutbare finanzielle Belastung, freut sich über jeden Abriss oder jede noch so brutale Modernisierung historischer Bauten und sehnt sich nach Glas, Beton und Einheitsketteneinkaufszentrenkonzernsallerlei, in denen er seine morbide Raunzerei im Kaufrausch ertränken kann. Frei nach dem Motto: ich schlag den Stuck von meiner Fassade, ersetze ihn durch grauen Rauputz, kauf mir mit dem gesparten Geld ein paar schicke Buntsandglasperlenschalen bei Ikea und fahr mit meiner Midlifecrisis-Blondine nach Mallorca.

    Ausgenommen sind die paar Touristenmagneten, die putzen wir heraus, aufdass viel Geld ins Land komme! Mozartperücke und Sisi-Kitsch erfreuen das japanische Gemüt und öffnen die preußische Geldtasche.

    Oft sehe ich in diesem Forum Bilder gründerzeitlicher Reste in irgendwelchen deutschen Städten. Sowas gibt es hier tausendfach, ist also (noch) nichts besonderes, interessiert keinen Menschen und wird unter Beifall abgerissen. Dass Flair nur durch ein Ensemble entsteht und nicht durch herausragende Einzelbauten, wird man hier hoffentlich auch irgendwann kapieren. Bis dahin genießen geschmacksverirrte Architekten in Wien Narrenfreiheit.

  • :kopfwand:
    Ich fass es nicht! Dieses Fülle von Bauten, einfach weg damit! Ich glaube aber trotzdem dass es in anderen europäischen (unzerstörten) Städten ähnlich ist: Weg mit dem alten Mist!
    Was ich mich nur frage, die Website ist doch vom Denkmalschutz, schützt der eigentlich auch was oder dokumentiert der nur Abrisse?

  • Der Denkmalschutz in Österreich schützt nicht automatisch jedes Gebäude, das ein gewisses Alter erreicht hat. Auch Ästhetik scheint kein Maßstab zu sein. Wenn etwas renoviert wird, dann oft mit großem Einfühlungsvermögen und Fachkenntnis für die Originalsubstanz, das war es dann aber auch schon mit den positiven Seiten. Die absoluten Lieblingsanstriche der Denkmalschützer sind steingrau, betongrau, mausgrau, aschgrau, anthrazitgrau, hellgrau, blaugrau und ähnlich fröhliche Farben. Das muss so sein, um dem Betrachter zu veranschaulichen, dass das Gebäude renoviert wurden und sich somit nicht mehr im Originalzustand befinden. Vielleicht sollen diese omnipräsenten Grauschattierungen auch nur die Wartezimmer der Psychotherapeuten mit depressiven Wienern füllen, man tut also was gegen die Arbeitslosigkeit! :zwinkern:

    Gründerzeitliche Bauten stellen offenbar keine Besonderheit dar. Die Gebäude befinden sich zumeist in Privatbesitz und werden gewinnorientiert vermietet. Hier gilt der Grundsatz, dass eine Renovierung 'zumutbar' sein muss: was man unter diesem schwammigen Begriff verstehen darf, ist mir bis heute ein Rätsel. Stuck Abschlagen oder mit einer Rauputzkruste Überziehen erfreut sich jedenfalls ungebrochener Beliebtheit. Er gilt als kitschig, gründerzeitliche Massenware und verschwenderisch kostspielig in der Instandsetzung. Fassadenfarben dürften auch sehr teuer sein, außer den erwähnten Grautöne scheinen nur noch schreiende Signalfarben 'zumutbar' zu sein. ganz durchschaut habe ich das noch nicht.

  • Gibt es denn keine Unterschutzstellung von Gebäudeensembles und Flächendenkmalen?
    In Weimar gibt es die Thomas-Müntzer-Str. beispielsweise, die komplett als Flächendenkmal gilt. Vor ein paar Jahren, hatte ein Hausbesitzer sein Haus in Pink angestrichen und musste es wieder abändern.
    Wie sieht es in Wien denn aus mit privater Initiative? Auf den Denkmalschutzseiten konnte man ja erkennen dass es einiges gibt, diese aber null erfolg hatten...
    Gibt es auch andere Beispiele?

  • Tja, in Wien wird am Bürger vorbeigeplant. Die Stadtoberen machen das, was ihnen gerade in den Sinn kommt und scheren sich einen Schmarrn, wenn es seitens der Bevölkerung berechtigte Widerstände gibt (Dechavue: Neumarkt-Dresden).

    Ein absolut treffliches Beispiel war in Wien die Überbauung des Bahnhofes Wien-Mitte. Alle waren im Prinzip dagegen, aber die Genehmigungen wurden Schritt für Schritt erteilt. Erst ein Mahnruf aus Paris hat seine Wirkung gezeigt. Man drohte Wien den Unesco-Welterbe-Status abzuerkennen...

    http://www.denkmalschutz.at/wien-mitte/

  • Das sieht aber leider in Duetschland oft nicht anders aus.

    Hätte man die Kölner Bürger gefragt, was sie von protzigen Hochhäusern manhattanscher Bauart hielten, wäre sicher die Mahnung von der UNESCO nicht nötig geworden!

    Ich mutmaße in Sachen Wien, dass es sich dort ähnlich verhält wie in Dresden: In Dresden soll ja im Bereich der inneren Stadt eine neue (ziemlich hässlich-modernistische) Brücke über die Elbe gespannt werden. Eine Bürgerumfrage ergab wohl eine recht deutliche Zustimmung. In Städten wie Wien oder Dresden, die bekanntlich einiges an historisches Bausubstanz aufweisen, scheint es in Fragen des Schutzes historischer Bau-Ensembles keine große Sensibilität zu geben.


    Und die Wiener kann ich nur eindringlich warnen: Hört auf mit dem Verstümmeln von Gründerzeit- oder Jugendstilfassaden. Denn das geht nicht gut. Die Ergebnisse könnt iht euch z.B. in der Kölner Neustadt, in Düsseldorf und in zahlreichen anderen westdeutschen Großstädten ansehen. Diese Häuser verlieren irgendwie ihre Seele; ich würde auch sagen, solche Maßnahmen verschlechtern ganz eindeutig die Wohnqualität eines Hauses oder eines Straßenzuges. Nichts unterscheidet dann den vormaligen Gründerzeit-Wohnpalast vom drögen 50er-/60er-Jahre-Einheitsbau. Die dann schmucklosen Erker und hohen Fenster sehen irgendwie fehl am Platze aus.
    In der Köner Neustadt z.B. ist man ganz betroffen, wenn man unter den vielen gesichtslosen 50er-Jahre-Fünfgeschossern plötzlich eine einzelne hohe gründertzeitliche Fassade in prächtigem Rot und Weiß entdeckt. Liebe Wiener, lasst es lieber nicht so weit kommen, ihr werdet es irgendwann bereuen.

  • Die vor einigen Jahren durch einen Brand zerstörten Sophiensäle dürften jetzt 'fast originalgetreu' wieder aufgebaut werden.

    http://wien.orf.at/stories/127029/\r
    wien.orf.at/stories/127029/

    Bleibt nur zu hoffen, dass sich diverse Anbauten und Neuerungen dergestalt in das Projekt einfügen, dass man einen historischen Eindruck vom Gebäude bekommt. Abwarten, wir dürfen gespannt sein.

  • Also zumindest in Deutschland verhalten sich Anbauten und Neuerungen i.A. nicht so - dürfte in Österreich aber auch nicht anders sein.

    Eine der vorzüglichsten Eigenschaften von Gebäuden ist historische Tiefe.
    Die Quelle aller Geschichte ist Tradition. (Schiller)
    Eine Stadt muss ihren Bürgern gefallen, nicht den Architekten.

  • Wien ist so übersättigt mit Altbausubstanz, das ein paar Häuser mehr oder weniger nicht unbedingt ins Gewicht fallen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund das es nicht gleich einen riesen Aufschrei gibt, weils nicht jedem gleich auffällt. An sonsten hab ich den eindruck bekommen dass die Wiener, rückwärtsgerichtet und vergangenheitsbezogen wie sie nun einmal sind sehr wohl mit Argusaugen auf die Architektur ihrer Stadt schauen. So viel Jammerei über Neubauten wie in Wien hab ich sonst noch nirgendwo gehört. Aber trotzdem gehören diese wenn auch im Überfluss vorhandenen Gründerzeitbauten trotzdem erhalten. Obwohl man in dieser Stadt ab und zu Fast einen historischen Kollaps kriegt und sich dann und wann sogar etwas Beton und Stahl wünscht bevor man ins K. und K. Traumland abgleitet.

    Was ich mir eher wünschen würde ist, dass man die grausligen Sozialen Wohnbauten aus den 60er und 70er Jahren mal vielleicht abreissen würde und durch mal etwas anspruchsvollere Neubauten ersetzen würde wie zum Beispiel entlang des Donaukanals oder am Praterstern.

  • Das Anwesen Hohe Warte 36 (erbaut um 1850) existiert nicht mehr. Die 2007 erteilte Abrissgenehmigung galt nur noch für das Jahr 2009, weshalb man Ende letzten Jahres schnell handeln musste. In der Villa wohnten seit 1965 vier österreichische Bundespräsidenten (Franz Jonas, Rudolf Kirchschläger, Kurt Waldheim und Thomas Klestil). Eine Sanierung galt als unrentabel. Auf dem Grundstück sollen nun "Wohnungen im oberen Segment" errichtet werden.

    Sicherlich nichts Himmelstürmendes, aber ein gediegenes Anwesen und ein Geschichtszeugnis der 2. Republik...


    http://wien.orf.at/stories/410748
    http://oesterreich.orf.at/wien/stories/69182/
    http://derstandard.at/1262209128413/…?_lexikaGroup=1
    http://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentenvilla

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • In der Leopoldstadt summieren sich derzeit die Verluste an Altbausubstanz - leider sind nicht "nur" Gründerzeitbauten betroffen, sondern auch vorindustrielle Barockhäuser und selbst die wenigen Wien gebliebenen Häuser aus der Zeit vor 1683. Mussten vor einiger Zeit noch die beiden Gründerzeitler Rembrandtstraße 21 und Obere Donaustraße 61 außerhalb der Schutzzonen weichen, setzt sich die Abrisswelle nun auch innerhalb der Schutzzonen fort.

    Kürzlich fiel mit dem Haus Große Sperlgasse 14 ein Bau, dessen Kern auf das Jahr 1650 datiert wurde. Das gleiche Schicksal ereilte das Haus Karmelitergasse 3, ein Josephinisches Haus mit Plattendekor aus dem Jahre 1788. In beiden Fällen konnten die Eigentümer aufgrund von "technischer bzw. wirtschaftlicher Abbruchreife" ihren Wunsch nach einem Abriss gegenüber den Behörden erfolgreich durchsetzen.


    http://www.idms.at/index.php/meld…oesungbegriffen

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • Danke für die Dokumentation,

    leider sind diese klassizistischen Biedermeierhäusln in Wien besonders gefährdet, genauso wie frühhistoristische Vorstadtbebauung, da brauch ich nicht in den 2. zu schaun, da fallen mir in meiner Umgebung genug Beispiele ein. Wenn´s etwas wärmer wird, werd ich das mal dokumentieren und auch abbruchgefährdete Häuser vorstellen!

    "Ich denke an Wien, so wie Sie an Brüder, an Freunde denken, die jetzt an der Front sind. Nun sind sie fern von Ihnen und Sie wissen sie in Gefahr, ohne ihnen beistehen, ohne diese Gefahr teilen zu können" - Stefan Zweig 1940

  • Nun, generell ist man in Wien mE doch ensemblebewusster und -orientierter als anderswo (wenn man von der dzt grassierenden Dachausbautenmanie absieht). Der II. Bezirk ist schon historisch ein Problemgebiet. Als ehem Judenviertel, damals überbevölkert und einem enormen Modernisierungsdruck ausgesetzt, war er im III. Reich abrissbedroht. Die damals entstandenen Flächenwidmungspläne blieben lange in die 2. Republik hinein bestehen (Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht) und dienten ua als Grundlage für das schreckliche Galaxiehaus. Dazu kamen schwerste Zerstörungen im 2. Weltkrieg.
    Ein schönes überkommenes Stadtbild wäre da ohnehin nicht zu erwarten gewesen. Vielleicht stell ich mal in einem schwarzen Moment im Alt-Wien-Strang was vom doch noch ansprechenden Kameliterplatz uU ein.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Ich stimme dir zu, Georg Friedrich. Es gibt sicherlich Häuser mit prunkvolleren Fassaden und Ausschmückungen. "Eine Sanierung galt als unrentabel." Wenn ich das schon höre... :boese:
    Solche historisch wichtigen Bauten werden einfach vernichtet. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, warum kaum jemand von den "hohen Tieren" mal den Mut hat, den Abrissen Einhalt zu gebieten.

  • Zitat

    Sicherlich nichts Himmelstürmendes, aber ein gediegenes Anwesen und ein Geschichtszeugnis der 2. Republik...

    Es stellt sich halt schon die Frage, ob die II. Republik jemals so etwas wie geschichtliches Interesse erheischen wird.
    Wer weiß noch die Namen der verflossenen Präsidenten, welcher von ihnen hat irgendetwas Besonderes getan oder hinterlassen?
    War das Präsidentenamt nicht bloß stets ein Versorgungsposten für abgehalterte Politbonzen?
    Ich schlage vor, wir sparen uns unsere Anteilnahme für wirklich historische bzw bedeutende Objekte auf.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Zwei Gründerzeitlern in der Hietzinger Hauptstraße droht leider demnächst der Abriss:

    Zitat von "[url

    http://www.initiative-denkmalschutz.at/index.php/meld…am-abstellgleis[/url]"]Initiative Denkmalschutz: Wiener Stadtbildpflege am Abstellgleis?
    Die vernachlässigte Schutzzonenpolitik fordert zwei weitere Opfer

    Zwei Gründerzeithäuser in der Hietzinger Hauptstraße 100-102 sollen 2011 dem Abriss zum Opfer fallen. Dabei hätte die Politik über 10 Jahre Zeit gehabt diese erhaltenswerten Objekte in die Schutzzone aufzunehmen und damit vor dem Abbruch zu retten.

    [...]

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • Geht es nach einem Bauspekulanten soll ein 170 Jahre altes Biedermeierhaus in der Sigmundsgasse 5 einem Neubau weichen. Ein Abbruchbescheid liegt leider vor, obwohl das Haus unter Denkmalschutz steht. Eine Restaurierung würde sich angeblich wirtschaftlich nicht mehr lohnen.

    Zitat von "[url

    http://derstandard.at/1293370410397/…gerissen-werden[/url]"]Denkmalschutz in Wien
    "Dann müsste auch der Stephansdom abgerissen werden"
    von Bianca Blei | 12. Jänner 2011, 07:52

    Denkmalschutz-Haus vor Abbriss: Immobilienunternehmer müsse sich an Gesetz halten, fordert Initiative – Österreich sei Nachzügler beim Denkmalschutz

    Noch immer besteht ein Abbruchbescheid für das Biedermeierhaus in der Sigmundsgasse 5 im siebenten Bezirk. Das 170 Jahre alte Haus soll, obwohl es unter Denkmalschutz steht, dem Erdboden gleich gemacht werden. Nicht nur die Anrainer und der Bezirksvorsteher Thomas Blimlinger laufen gegen den Bescheid Sturm, sondern auch die Initiative Denkmalschutz (ID). Markus Landerer und Claus Süss von der Initiative finden "die Rolle der Stadt Wien in der Causa sehr bedauerlich" und sprechen von "gebrochenen Zusagen".

    [...]

    "Meistens belehrt uns der Verlust über den Wert der Dinge."
    Arthur Schopenhauer

  • Das ist wirklich eine Schande. Ich war sehr überrascht, als ich davon las, das Projekt gibt´s schon lange und eigentlich schien der Neubau vom Tisch zu sein.....da lässt einer nicht locker. Besonders perfide, da der Eigentümer alle Fenster, Türen etc im Winter (!) offen gelassen hat, um das Haus in einen "nicht erhaltenswerten Zustand" zu führen!

    "Ich denke an Wien, so wie Sie an Brüder, an Freunde denken, die jetzt an der Front sind. Nun sind sie fern von Ihnen und Sie wissen sie in Gefahr, ohne ihnen beistehen, ohne diese Gefahr teilen zu können" - Stefan Zweig 1940