Architekturtheorie im Jugendbuch der 1960er Jahre
Ich mache mal den Beginn mit einer bekannten Jugendbuchreihe:
"Was ist Was" Band 23: Von der Höhle bis zum Wolkenkratzer
Die Ausgabe, die ich zur Hand habe, stammt von 1964. Besonders interessante (und amüsante) Stellen möchte ich hier mal aufführen. Man bedenke, dass diese Literatur auch das Wissen und Denken der damaligen jugendlichen Generation prägte und prägt. Trotzdem viel Spaß beim Lesen.
QuoteDisplay MoreDer Bruch mit der Vergangenheit (S.39)
[...]
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts[...]
Der Mensch stand am Anfang eines völlig neuen Weges. Wollte er ihn gehen, mußte er einen dicken Strich unter die Vergangenheit ziehen.
Die alten Bauformen und Baustile waren den Anforderungen der neuen Zeit nicht gewachsen, [...]Als das Ende des Jahrhunderts herannahte, streiften alle übrigen europäischen Länder das Alte ab, um Raum zu schaffen für neue, zeitgemäße Formen.
Das Zeitalter von Stahl, Beton und Glas (S.40 f.)
Die Entwicklung von Industrie, Wirtschaft und Technik, die im 19. Jahrhundert ein völlig neues Zeitalter einleitete, ließ sich nicht mehr aufhalten. Das bis dahin Unbekannte trat über die Schwelle des 20. Jahrhunderts, drängte die alten Formen beiseite und stellte seine harten, unerbittlichen Forderungen an den Menschen.Eine technische Neuerung, eine Erfindung jagte die andere. [...] Und all das wirkte sich auch auf den Menschen aus: Zielbewußter und sachlicher als je zuvor begegnete er dem Leben.
Keine Vorbilder aus der Vergangenheit (S.42)
Dieser Mensch aber paßte nicht mehr in das alte, aus den vergangenen Jahrhunderten herübergerettete "Gehäuse". Zögernd nur hatte er sich am Ende des 19. Jahrhunderts aus ihm herausgewagt und vage erkannt, daß es kein Zurück mehr gab. Das wurde ihm jetzt deutlich, besonders dort, wo er sich Situationen und Aufgaben gegenübergestellt sah, für die es in der Vergangenheit keine Beispiele und Vorbilder gab.
Wer waren die neuen Arbeitgeber? (S.42)
Wir haben gesehen, daß weltliche und geistliche Fürsten früher die Auftraggeber für größere Bauten waren. [...] Das 20. Jahrhundert brachte einen [...] Wandel. Das Geschäftsleben, die Industri und Wirtschaft wurde zum Mittelpunkt. Sie beschäftigten Millionen von Menschen, sie mußten die nötigen Räume schaffen, in denen der Mensch arbeiten konnte. Vorbilder aus der Vergangenheit waren nicht vorhanden. Hier mußten die Architekten etwas Neues schaffen und sich dabei den Anforderungen des täglichen Lebens anpassen. Die Baukunst wurde unter das Zeichen einer neuen Sachlichkeit gestellt.
Mit welchem Material baute man? (S.42)
Die Forderung nach neuen, zeitentsprechenden Bauformen führten zugleich zur Erfindung neuer Techniken. [...] Nicht mehr wegzudenken aus unserem Leben ist eine andere Erfindung [neben Stahl] des 20.Jahrhunderts: die Herstellung von [...] Plastik. Ebenfalls wichtig wurde eine andere Erfindung: eine neue Art, Glas zu gießen und es zu riesigen, aber vollkommen durchsichtigen Platten auszuwalzen. Die Zeit der schmalen Fenster, der kleinen Butzenscheiben, durch die nur mühsam das Tageslicht in die Räume dringen konnte, war vorüber. Jetzt waren den Ausmaßen der Fenster keine Grenzen mehr gesetzt. Jetzt konnten jene gewaltigen Häusergiganten entstehen, deren riesige Glaswände das Auge des Betrachters ungehindert ins Innere des Hauses dringen ließen.
Welche Entdeckung wurde entscheidend? (S. 42f.)
Ein Bauelement, das auch das 19. Jahrhundert bereits kannte, sollte im 20. Jahrhundert eine neue Bedeutung erhalten und die neue Bauweise entscheidend beeinflussen: der [Stahl-] Träger. [...]
Mit seiner Hilfe können die Architekten heute Gebäude errrichten, neben denen sich Pyramiden zwergenhaft ausnehmen. Die Räume werden dadurch groß und offen, durch keine Pfosten und Stützen mehr unterbrochen.[...]
Wie sieht das Bild der neuen Stadt aus? (S.44f)
Nach dem ersten Weltkrieg stand man vor einem brennenden Problem. Es galt, die drückende Wohnungsnot zu beheben. In den größeren Stäödten entstanden daher ganze Siedlungskolonien. Ihnen lag eine zielbewusste Planung zugrunde. [...] [Die] Form des Einfamilienhauses [wurde] immer beliebter. [...] Mit Einfamilienhäusern, Siedlungtskolonien und großstädtischen Wohnblocks wollte man die Wohnungsnot beheben. Zwar sind sie typisch für das 20. Jahrhundert, stehen als Kunst- und Monumentalbauten aber im Schatten jener Gebäude, die auf Weisung der Industrie entstanden. Neue Riesenunternehmen wurden gegründet. Die alten, nach modernen Gesichtspunkten nicht mehr zweckmäßigen Räume wurden völlig umgestaltet. Vom Zierrat früherer Jahrhunderte, mit dem man ein Gebäude schmückte und der den Unkundigen nicht von vornherein den Zweck des Gebäudes erkennen ließ, war nichts mehr übriggeblieben. Heute kann man schon von weitem die Bestimmung eines Baues erkennen. Die moderne Architektur hat deshalb an Schönheit nichts eingebüßt. Aber es handelt sich um eine Schönheit, die mit anderen Augen betrachtet sein will, die sich nicht mehr im verschnörkelten Detail, sondern in der strengen, klaren Linie eines harmonischen Ganzen offenbart.
Industrie und Wirtschaft also ergriffen Besitz vom Menschen, nicht sie reihten sich in seine gewohnten Bahnen ein, sondern er mußte sich und seine Umwelt auf sie einstellen.
Die Städte wuchsen - sowohl in die Breite als auch in die Höhe. Das städtische Leben selbst wurde lebendiger, aktiver, hastiger. Im Zuge dieser Entwicklung kamen zwei andere Bestrebungen auf, die auch im Bauwesen und in der Baukunst ihren einfluß geltend machten: 1. Der Wunsch nach körperlicher Betätigung, nach Sport; 2. Der Wunsch nach Zerstruung, Unterhaltung und Vergnügen.
[...]
Nicht zuletzt aber sei erwähnt, in welch entscheidendem Maße die völlig veränderten Verkehrsverhältnisse - sowohl auf den Straßen als auch in der Luft - das Bild der neuen Stadt prägten.
Amerika beeinflußt Europas Städtebild (S.46 f.)
Inzwischen war in Europa auch die amerikanische Bbauweise bekannt geworden, "radikal" in die Höhe zu bauen. [...] Mit dieser Bauweise konnte man auch eine noch so geringe Bodenfläche so geschickt wie nur möglich ausnutzen.
[...]
Eine tiefe Kerbe in die Entwicklung der neuen Baukunst und des gesamten Bauwesens schlug der Zweite Weltkrieg. Viele große und kleine Städte versanken in Schutt und Asche und mußten nach dem Krieg mühsam wieder aufgebaut werden.
Welche neuen Forderungen? (S. 47 f.)
Zahlreiche neue Forderungen und Aufgaben mußten beim Wiederaufbau der zerstörten Städte gelöst werden. Zweckmäßig und sachlich sollte und mußte die neue Stadt sein, in ihrer Anlage Harmonie und Schönheit aufweisen. Man legte breitere und großzügigere Straßen an, auf denen der ständige wachsende Verkehr reibungsloser dahinfließen konnte. Mit Grünflächen und Parkanlagen lockerte man die nüchterne Sachlichkeit des Stadtbildes auf. An den Kulturstätten der größeren Städte entfaltete sich die künstlerische begabung namhafter Architekten.
[...]
Spiegelbild und Antwort (S. 48 )
So entstanden in den letzten Jahren aus den Trümmern eines verheerenden Krieges Städte, die in ihrer Zweckmäßigkeit, in ihrem klaren, nüchternen Aufbau das Spiegelbild eines von einer neuen Zeit geprägten Menschen sind. Sie sind Ausdruck eines neuen Schönheitsempfindens, sie sind die Antwort des Menschen auf die Fragen und Anforderungen eines neuen Zeitalters.
Quelle:
Was ist Was. Band 23: Von der Höhle bis zum Wolkenkratzer. Nürnberg: Tesloff Verlag 1964
Interessanterweise wird der Band auf der HP nicht mehr aufgeführt (siehe hier).
Wahrscheinlich war denen der Band einfach zu peinlich.