• Das verschlafene Scheibbs im Vorland der nördlichen Kalkalpen zählt nicht zu den städtebaulichen Glanzpunkten Niederösterreichs. Aber das heißt nicht, dass es nichts zu bieten hätte.

    und schon ist man am Hauptplatz angelangt.

    hier pulsiert nicht gerade das Leben...

    Dafür ist der Platz erstaunlich geschlossen erhalten.

  • Wir wollen uns jetzt der Hauptsehenswürdigkeit widmen, die bislang kaum eine hinreichend angemessene kulturhistorische Würdigung erfahren hat, sieht man von Bruchers Werk "Gotik in Österreich" ab.

    Das ist die neuralgische Stelle. Hier lässt sich das Gewölbe relativ leicht "lesen".

  • Hier vergrößert.

    Man erkennt so die unterschiedlichen Muster des Chorbereichs und des "Langhauses". Chor und Langhaus sind miteinander verschmolzen sind - so etwas wie eine Vierung gibt es nicht (womit es auch diese beiden Teile eigentlich nicht gibt). Die Quer-Reihe von nahtlosen Rauten oder Karos steckt die Grenze ab bzw zieht diese architektonisch nicht erlebbare Grenze erst überhaupt.

    Eine irreführende Teilansicht:


    Das ist eine Queransicht! Diese ist leichter zu "lesen".

    Dies widerspricht dem gotischen Prinzip der Längsausrichtung zugunsten der Idee der Hallenvereinheitlichung.

  • Hier die Längssicht des Mittelschiffs, der Chorbereich zeichnet sich hier merklich durch Verdichtung aus:

    Blick zurück zum Orgelchor:

  • "Barocke" Gotik war natürlich nicht ganz richtig, da das Langhaus ohne Schlingrippen auskommt. Vielleicht ist dies das Faszinierende: die Schaffung von barocker Überladenheit ohne dieses spezielle barockisierende Mittel.

    Was die Komplexität des Gewölbes angeht, so stellt Scheibbs zweifellos einen, wenn nicht den Höhepunkt der deutschen Sondergotik (diesen Vergleich hat bereits Brucher angestellt), dh aber letztlich in weltweitem Maßstab dar. Ohne Zweifel gibt es größere, mehr überladene, aber kaum ein so "schwer zu lesendes". Die Scheibbser Pfarrkirche wirkt halt von außen nicht besonders attraktiv, geschweige denn monumental, und nimmt daher unter den (nicht eben zahlreichen) niederösterreichischen "Großkirchen" (ein Begriff, der eben eine Relativierung erfahren muss)in puncto Bekanntheit, sei es in kunsthistorischer oder auch nur touristischer Hinsicht (letzteres schon gar nicht) keinen besonderen Rang ein.

    Wikipedia, das ihr immerhin einen ausführlichen Beitrag widmet (ohne besonders auf das Wichtigste, das Gewölbe, einzugehen, worin es nicht allein steht), bringt hinsichtlich des Größenverhältnisses folgende vergleichende Skizze:


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    Ansonsten widmet sich Wiki mehr der barocken Ausstattung:

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    Von Calauer, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1120488

    Die Weltkugel erinnert etwas an Znaim, dient aber nicht als Kanzel, sondern als Podest für St. Nepomuk:

    800px-Nepomuk_Scheibbs.jpg

    Viel zur Stimmung tragen auch die schönen Oratorien bei:

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    (beide letzten Bilder auch von Calauer)

    Die Scheibbser Pfarrkirche steht wahrlich nicht alleine da, sondern ist nur Teil eines bedeutenden kulturhistorischen Raums, der sich über das gesamte Mostviertel und auch ganz zart über die Donau hinaus ins oö Mühlviertel erstreckt. Allerdings ist sie dessen Höhe- und Glanzpunkt, auch wenn sie eigentlich nicht einmal als solcher wahrgenommen wird. Das verschlafene Scheibbs mag keine besondere Aura zu entfalten, die auf einen der bedeutendsten Kirchenbauten NÖs abfallen könnte.

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    (Calauer)

    Neben der Kirche bzw mit dieser verschmolzen, findet sich das Schloss,was von außen die schönste Vedute des Städtchens ergibt.

    Hier die Platzseite vor dem neoklassizistischen Umbau (siehe ganz oben):

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    Töpperweg - von Schloss zu Schloss - BERGFEX - Themenweg - Tour  Niederösterreich
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    (Calauer)

  • "Barocke" Gotik war natürlich nicht ganz richtig, da das Langhaus ohne Schlingrippen auskommt. Vielleicht ist dies das Faszinierende: die Schaffung von barocker Überladenheit ohne dieses spezielle barockisierende Mittel.

    Vielleicht verstehe ich Dich falsch, aber was haben Schlingrippen mit Barock zu tun?

    "Napoleon ist tot - aber Beethoven lebt."

    Bruno Walter

  • Natürlich gar nix, außer dass sie rund, mitunter auch überladen sind und damit sozusagen "barock" wirken. Daher spricht man Gewölben wie Königswiesen oder ganz extrem Kötschach-Mauthen (mitunter) eine "protobarockisierende" oä Wirkung zu, vor allem als begriffliche Abgrenzung zur "echten" Barockgotik Böhmens.

  • Danke. Und die nächste ignorante Frage: was wäre dann die "echte Barockgotik Böhmens"?

    Ich frage deshalb, weil die beiden Stilepochen zeitlich, architektonisch und stilistisch eigentlich dermaßen weit voneinander entfernt sind, dass ich mir eine Beeinflussung der Gotik durch den Barock nur als extrem langes Festhalten an lokalen Traditionen vorstellen kann, das jahrhundertelang angedauert haben muss... ich kenne eine Vermischung von Gotik und Barock nur insofern, als dass eben gotische Kirchen barockisiert wurden, ihnen also ein barockes Gewand übergezogen wurde. Aber dass eine neue, grundsätzlich noch gotische Kirche zu einem Zeitpunkt gebaut worden wäre, zu dem Barock bereits existierte und somit die Gotik beeinflusst hätte, habe ich noch nicht gesehen.

    "Napoleon ist tot - aber Beethoven lebt."

    Bruno Walter

  • Über die Barockgotik Böhmens wird sicher der karpatische Bär mehr zu sagen wissen. Indessen kommt das Wiederaufgreifen gotischer Elemente während des Barocks auch anderorts vor, vor allem dort, wo es eine gotische Tradition gab.

    Ein bekanntes Beispiel ist die ehemalige Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt in Köln. Hier der Link :St. Mariä Himmelfahrt (Köln) – Wikipedia

    Während die Ausstattung durchwegs barock ist, und die Baustruktur ( schmale Seitenschiffe mit Emporen, breites Mittelschiff, kein eigentlicher Chor, nur eine Apsis mit genügend Platz für einen sehr großen Altaraufbau) der etwa zur gleichen Zeit im Barockstil errichteten Antwerpener Jesuitenkirche ähnelt, sind in Köln die gotischen Elemente doch sehr auffällig: Spitzbogen, Netzgewölbe und Maßwerkfenster. Hier einige Bilder:

    Es soll auch einige Beispiele für Barockgotik in Franken, aber auch im Elsass und England geben.

  • Im Elsass fällt mir als Beispiel für die "Nachgotik" spontan die Jesuitenkirche zu Molsheim (westlich von Straßburg) ein. Kaiser Rudolf II. hatte dort nach 1600 ein Jesuitenkolleg gestiftet, dessen Kirche zwar noch viele gotische Formen und Gewölbe aufweist, jedoch durch die Weite des Raumes mit den Netzgewölben, licht und hell erscheint, und somit also keine gotische Stimmung mehr aufkommen lässt.

  • Fafnir Sehr interessant, das war mir nicht bekannt. Vielen Dank! Wenn man mir die Kirche ohne weitere Erklärungen gezeigt hätte, hätte ich gemeint, dass sie eine gotische Emporenbasilika sei, die im 16. Jahrhundert einen manieristischen Hochaltar und im 17. Jh die sonstige barocke Ausstattung samt Umgestaltung bekommen hätte. Aber dass man im 17. Jh in einer so bedeutenden Stadt wie Köln noch eine im Grunde durch und durch gotische Kirche baut, hätte ich nicht gedacht. Hat man wirklich von Anfang an im Sinn gehabt, die Kirche barock auszustatten oder hat man sich dazu erst im weiteren Verlauf des 17. Jhs aufgrund der neu einströmenden barocken Mode umentschieden?

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    Bruno Walter

  • jakob liegt richtig, Santini-Aichel war der Hauptexponent.

    Kutná Hora

    Sedletz bei Kuttenberg. Das ist Barock, durch und durch.

    File:Kutná Hora, Sedlec, klášterní kostel, transept, varhany 03.jpg -  Wikimedia Commons

    Ein fast rein böhmisches Phänomen. In Wien kennst du vielleicht die Deutschordenskirche, die ist eins der wenigen ausländischen Beispiele.

    Sedlec, klášter, kostel (okres Kutná Hora) | mm120602-czkh-s… | Flickr
  • Danke! Ja, die Deutschordenskirche kenn ich schon, aber das war ja auch eine ursprünglich gotische Kirche, die in der Barockzeit umgebaut wurde, oder?

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    Bruno Walter