Schirwindt - Kreis Pillkallen

  • Schirwindt

    Dieser Themenstrang soll der ehemals östlichsten deutschen Ortschaft und kleinsten Stadt des Reiches, dem ostpreußischen Schirwindt (Kreis Pillkallen), gewidmet sein.

    Das kunsthistorisch interessanteste Gebäude war die unter König Friedrich Wilhelm IV. errichtete doppeltürmige Immanuelkirche aus rotem Backstein, die weit hinaus in die Ebene des benachbarten Litauens blickte.

    Während der Besetzung durch die zaristischen Truppen im 1. Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen, wurde die Stadt durch finanzkräftige Unterstützung der weit entfernten Stadt Bremen, welche die Patenschaft übernommen hatte, wieder aufgebaut. Seither gab es in Schirwindt Straßen- und Gebäudenamen, die auf Bremen verwiesen.

    Ich würde mich freuen, wenn es hier im Forum den Einen oder Anderen geben sollte, der etwas über die Baugeschichte dieses bemerkenswerten Ortes weiß und hier mit uns teilen kann.
    Interessant wäre auch zu erfahren, ob es mittlerweile Bestrebungen gibt, die Wüstung, die an der Stelle des Ortes entstanden ist, zu revitalisieren…?


    Ein Foto der Immanuelkirche nach dem Wiederaurfbau der Stadt in der Zwischenkriegszeit.

  • Soweit ich weiß, wurde der ganze Ort dem Erdboden gleich gemacht, genauso wie der gesamte Kreis Pillkallen (zuletzt Schloßberg). Die Rote Armee hatte dort einen großen Truppenübungsplatz. Bei Google Earth kann man einige wenige Straßenzüge erkennen aber auch nicht mehr wirklich viel. Ich glaube man kommt ohne Genehmigung der russischen Behörden auch nicht hinein in das ehem. (?) Militärgelände. Von litauischer Seite kann man immerhin heutzutage über den Grenzfluss schauen.

    PS: die Grenze ist weltweit auch eine Besonderheit. Über Jahrhunderte waren die Russen auf der östlichen Seite des Grenzflusses. Heutzutage ist es genau umgekehrt. Ziemlich einmalig.

  • Von der Immanuelkirche blieb nur der "Huegel", auf dem sie stand. Vor ein paar Jahren gab es da ein Kreuz sowie ein Schild "275 Jahre Schirwindt". Von der litauischen Seite kommt man bis an den Grenzuebergang, der ja nicht einmal einen Kilometer suedoestlich der Stadtmitte lag (und liegt). Auch an die Szeszuppe, dem Grenzfluss, an dem der ehemals oestlichste Punkt des Deutschen Reichs lag (beim Weiler Schilleningken), kommt man nur von litauischer Seite.

    Ich habe eine Unmenge an kleinen Schnipseln und Bildern aus dem Internet auf dem Rechner, aber wenig Kohaerentes. Hier ist eine Ansicht des Stadtzentrums nach der Einnahme durch die Rote Armee, vermutlich im Herbst 1944 aufgenommen. Blick von SE nach NW; rechts die teilzerstoerte Immanuelkirche, deren Suedturm eingestuerzt ist.

    stadtbild-deutschland.org/foru…ry/index.php?image/20431/

    Aber eine Anekdote sei mir hier erlaubt: Ende 2016 bei einem Besuch in Freiburg kam ich mit einem betagten Herrn ins Gespraech, weil mir sein Dialekt aufgefallen war.

    Er: "Was mejnen Se denn, wo ich härr bin?"

    Ich, wie aus der Pistole geschossen: "Ostpreussen."

    Er: :schockiert:

    Ich: "Von wo genau, wenn ich fragen darf?"

    Er: "Ach, das kennen Se nich'. Ejne klejne Stadt an ejnem Fluss anner Jrenze zu Litauen."

    Ich: "Schirwindt?"

    Er: :schockiert: "Woher kennen Se denn SchirWINDT?" (Er betonte es auf der zweiten Silbe, was ich bis dahin nicht wusste. Und das "i" in der ersten Silbe war so einen Mittelding zwischen e und i.)

    Ich: "Mei, von der ehemals oestlichsten Stadt in Deutschland sollte man schon mal gehoert haben."

    Er: "Dass so ejn junger Mänsch wie Sie Schirwindt kennen, dass is' ja toll."

    Kurzum, der Herr war geboren und wuchs auf in Willuhnen, halbe Strecke zwischen Schirwindt und Pillkallen. Er ging in Schirwindt in die Schule und nahm dafuer immer die Pillkaller Kleinbahn. Seine Heimat hat er das letzte Mal im Sommer 1944 gesehen, bevor er zu Verwandten in der Naehe von Braunsberg geschickt wurde, mit denen er dann auf die Flucht ging. Seine Mutter schaffte es auch und sie fanden sich 1946 in Heidelberg wieder.

    Ich fragte ihn, ob er noch einmal in Ostpreussen gewesen sei. "Nejn, das is' nich' mehr Ostprejssen. Mejne Mutter hat schnell verstanden, dass es da kein Zurueck geben wird. Mein Sohn hat fuer mich mal recherchiert, was es von Willuhnen und Schirwindt noch gibt, aber da ist nichts mehr. Und so hebe ich es mir halt in mejner Erinnerung auf."

    Solche Begegnungen gehen mir immer sehr nah, weil ich trotz fehlender familiaerer Bindungen (zumindest nach Ostpreussen) ein riesiges Interesse an der Geschichte dieser ehemaligen Teile Deutschlands habe. Und weil die Zahl der "waschechten" Ostpreussen, Schlesier, Memellaender etc. endlich ist und es irgendwann diese Art von Begegnungen nicht mehr geben wird...

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero

    Einmal editiert, zuletzt von BIO-Bayer (19. Januar 2018 um 15:35) aus folgendem Grund: Bild angefuegt

  • @ BIO-Bayer

    Sehr geehrter BIO-Bayer, haben Sie ganz herzlich und vielmals Dank für die lebendige Schilderung Ihrer Begegnung mit dem aus Schirwindt gebürtigen Herrn. Genau solche Schilderungen hatte ich mir gewünscht. Diese machen die verschwundene Stadt - jede für sich - wieder lebendig. Wirklich wunderbar !!!

    Einmal editiert, zuletzt von Pagentorn (20. Januar 2018 um 09:57)

  • Warum ausgerechnet Schirwindt ? Ich hatte auch Vorfahren aus dem Ermland/Ostpreußen , und es gab und gibt dort viele schöne , bzw. schönere Städte wie Schirwindt ! Auch was den Wiederaufbau betrifft .....

  • Warum gerade Schirwindt ?

    Vielleicht, weil die exponierte Lage reizvoll erscheint ?

    Schirwindt als ehemals östlichste Stadt Deutschlands korrespondiert insofern mit Eupen (der ehemals westlichsten), Skodborg (der ehemals nördlichsten Gemeinde) und Einödsbach (der bis heute südlichsten Gemeinde).

    Und dann ist für mich persönlich die Wiederaufbaugeschichte in der Zwischenkriegszeit mit der sich über fast die gesamte Länge Norddeutschlands erstreckenden Patenschaft Bremens für Schirwindt hoch interessant.


  • Schirwindt im Film:

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  • Einödsbach (der bis heute südlichsten Gemeinde)

    Einödsbach (47° 19') ist der südlichste Ort Deutschlands; es ist keine Gemeinde, sondern gehört zum Markt Oberstdorf, der freilich die südlichste Gemeinde Deutschlands ist.

    Der Reiz an dem Namen von Einödsbach besteht natürlich auch darin, dass er zum Ausdruck bringt, dass der Ort eine Einöde ist und abgelegen liegt. Das ist fraglos der Fall, liegt Einödsbach doch ca. 12 km von der Ortsmitte von Oberstdorf entfernt (siehe hier: Oberstdorf (Galerie)).

    http://www.oberstdorf-lexikon.de/einoedsbach.html

  • Warum gerade Schirwindt ?

    Vielleicht, weil die exponierte Lage reizvoll erscheint ?

    Schirwindt als ehemals östlichste Stadt Deutschlands korrespondiert insofern mit Eupen (der ehemals westlichsten), Skodborg (der ehemals nördlichsten Gemeinde) und Einödsbach (der bis heute südlichsten Gemeinde).

    Und dann ist für mich persönlich die Wiederaufbaugeschichte in der Zwischenkriegszeit mit der sich über fast die gesamte Länge Norddeutschlands erstreckenden Patenschaft Bremens für Schirwindt hoch interessant.

    Mag ja sein , aber dort ist nichts mehr .... nur noch eine Wiese :sad:

  • Schirwindt ist lt. Wikipedia auch die einzige Stadt Europas, die nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr aufgebaut wurde. Somit sticht sie schon ein wenig heraus. Ich bin jedenfalls dankbar über die Erinnerung, die der Stadt hier zuteil wird.
    Ich bin auch gespannt, wie sich die Oblast Kaliningrad zukünftig entwickeln wird und ob dort auch wieder stärker rekonstruiert wird. Die polnischen Teile Ostpreußens sind ja mittlerweile wieder einfach zu erreichen (und auch besser erhalten).

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Skodborg (der ehemals nördlichsten Gemeinde)

    War das nicht das beruehmte (und hier neulich diskutierte) Seebad Nimmersatt, "da wo das Reich sein Ende hat"?

    Einödsbach (47° 19') ist der südlichste Ort Deutschlands; es ist keine Gemeinde, sondern gehört zum Markt Oberstdorf, der freilich die südlichste Gemeinde Deutschlands ist.

    Muss ich noch hin, bzw. zum suedlichsten Punkt am Haldenwanger Eck. An den westlichsten, mittigsten und oestlichsten Punkten D-Lands war ich schon. Fehlen auch noch der tiefste und hoechste. 8o


    Bevor in der Oblast Rekonstruiert wird sollte erst einmal die verbliebene Bausubstanz gerettet werden , dazu gehört auch die Kirche von Tharau , die obwohl sie ein neues Dach bekam seit Jahren weiter vor sich hin gammelt

    Ach, dass ist aber bedauerlich. Die Kirche sah so schoen aus mit ihrem neuen roten Dach vor ein paar Jahren: http://static.panoramio.com/photos/large/88703619.jpg :daumenunten:

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero

  • Asche auf mein Haupt !

    Sie haben natürlich Recht BIO-Bayer. Schottburg im Kreis Hadersleben lag selbstverständlich südlicher als Nimmersatt im Kreis Memel...

    Vielen Dank für den richtigen Hinweis.

  • naja alles ist nicht verloren

    Was mich persoenlich sehr freut und bewegt, ist, wenn ich schlesische / ostpreussische / pommersche Glocken hoeren kann, z. B. im Noerdlinger Daniel (Glocke aus der Stargarder Marienkirche):

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    Oder in Uebach-Palenberg:

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    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero

  • Nach längerer Zeit mal wieder zwei Fundstücke, die, die fast das gesamte ehemalige Norddeutschland geographisch überspannende Patenschaft Bremens für Schirwindt während und nach dem 1. Weltkrieg illustrieren.
    Aus ihnen geht ein starker Wiederaufbauwille hervor, auch wenn dieser nicht unbedingt rein rekonstruktiv zu nennen war...

    (Vegesack war bis 1945 eine eigenständige Stadt innerhalb des Staatsgebiets der Freien Hansestadt Bremen und wurde danach unter amerikanischer Verwaltung in die Stadt Bremen als Stadtteil eingemeindet.)

  • Nach fast einem Jahr gelangte mir heute ein weiteres Beispiel für die Werbemittel, mit denen man seinerzeit in Bremen für den Wiederaufbau Schirwindts warb, zur Kenntnis:

  • Zu Schirwindt gab es vor zwei Jahren von der Konrad-Adenauer-Stiftung eine tolle Abhandlung zur Geschichte und zum Schicksal der Stadt, inkl. frei download-baren PDF. Ich verlinke auf das Essay (Titel unten anklicken), das PDF findet sich auf der rechten Seite.

    Stadtuntergang: Schirwindt, das es nicht mehr gibt

    von Julia Larina

    Die Geschichte einer ostpreußischen Stadt, in der sich die Historie Europas spiegelt

    „Stadtuntergang“ stellt die Geschichte der Stadt Schirwindt in Ostpreußen dar, einer Stadt, die nicht mehr existiert. Ihr ehemaliges Gelände befindet sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges im russischen Gebiet Kaliningrad. In den Ereignissen in und um Schirwindt spiegelt sich von der Gründung bis zur Entvölkerung die Geschichte Europas: Die Grenzlage der Stadt bedingte, dass sie ohne eigenes Zutun besonders intensiv in viele der tragischen Ereignisse des Kontinents involviert war.

    „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“ - Cicero