"Charta des APHs" (Arbeitstitel)

  • Vor zwölf Jahren schrieb ich hier zwei Artikel über den in den frühen 1980er Jahren rekonstruierten Samstagsberg in Frankfurt am Main. Es handelt sich um den östlichen Abschluss des Römerbergs mit sechs zusammengebauten Häzusern und einer weiteren Einzelrekonstruktion (Schwarzer Stern).
    Teil 1
    Teil 2

    Als Grundlage für das Verständnis dieses Stranges empfehle ich Euch die Lektüre des Textes von Teil 2 ab dem letzten (gelöschten) Bild von Restitutor Orbis. Hier zwei Zitate daraus:

    Bei der Rekonstruktion wurde hier also ein Zustand geschaffen, welcher so nie existiert hat: Heute stehen wir vor einem Fachwerkhaus, welches den Eindruck mit Fachwerk aus dem 16. Jahrhundert weckt, aber gleichzeitig eine Fensteranordnung aus dem 19. Jahrhundert besitzt. Für den Laien ist dies allerdings nicht erkennbar. Was ich damit sagen möchte, erkläre ich im folgenden Exkurs:

    Wie würde dieses Haus heute aussehen, wenn es nicht zerstört worden wäre? Ich gehe mal davon aus, dass es nicht zugunsten eines Neubaus geopfert worden wäre... Bei einer Fassadenrenovation hätte man sich vielleicht entschlossen, das Fachwerk weiterhin verputzt und verschiefert zu belassen. Es ist aber auch denkbar, dass das Fachwerk z.B. in den Sechzigerjahren freigelegt worden wäre.

    Ich hoffe, damit noch mehr zum Verständnis dieser Rekonstruktion beigetragen zu haben. Während der Beschäftigung mit diesen Häuser habe ich unbeabsichtigt einen Leitfaden oder eine Theorie zur Rekonstruktion weiterer Bauten erstellt. Bei der Nr. 20/22 habe ich mich gefragt:


    Seit zwölf Jahren liegt mir das Anliegen von fehlenden Richtlinien zu Rekonstruktionen im Ärmel. So wie es allgemein anerkannte Richtlinien für die Denkmalpflege gibt (Charta von Venedig), sollte es auch das Gegenstück für Rekonstruktionen geben. Ich nenne es zuerst mal die

    "Charta das APHs".

    In einem kürzlichen Beitrag über ein Neubauvorhaben (Rekonstruktion oder Erinnerungsarchitektur eines 1944 zerstörten Hauses) im holländischen Viertel in Potsdam hatte es eine Diskussion über ein zusätzliches Dachfenster (Ochsenauge) gegeben, das so offenbar nie existiert hatte. In weiteren Beiträgen wurde hingegen geschrieben, dass es sich nicht um eine Rekonstruktion handelt, sondern um eine Erinnerungsarchitektur. Dazu möchte ich drei Zitate von dort einstellen:

    Auf Seite 8 befindet sich ein Schemazeichnung des Holländischen Viertels, die erahnen läßt, daß die alte Bebauung Ecke Gutenberg-/Moltkestraße 1913 noch stand und der der anderen Ecken des Quartiers entsprach:

    https://www.potsdam.de/sites/default/…ufhebung_hv.pdf

    Auf Seite 22 (Abbildung N°47) ist sogar ein großer Teil des Hauses zu sehen; es hatte ein großes Zwerchhaus zur Hebbelstraße (Moltkestraße) N°57.
    Die andere Straßenseite ist Gutenbergstraße N°68 (Junkerstraße N°33a). Laut Mielke wurde das Haus 1893 umgebaut und im Zuge dessen der Eingang zur Junkerstraße verlegt.

    Laie an UrPotsdamer:

    • Was macht man eigentlich, wenn zunächst in Ermangelung von Zeitdokumenten ein (vom Stil her korrekter) Erinnerungsbau entsteht und dann plötzlich die Originalpläne wieder auftauchen? Abreißen?
    • Und was macht man, wenn die Originalpläne während der Bauphase eines Erinnerungsbaues auftauchen? Baustopp?
    • Was rekonstruiert man, wenn es (wie so oft) mehrere Bauphasen gegeben hat? Ab wann gilt eine historische Umgestaltung als "(Ver-)Fälschung" und darf nicht zur Basis einer Rekonstruktion werden?

    Ich bin ein totaler Fan von Rekos, am liebsten so genau wie möglich. Aber mir fehlt die dogmatische Sicht auf das Thema. Was ich anstelle dessen habe, ist eine fast kindliche Freude an der Wiederkehr schöner historischer Architektur.


    Man sieht, es gibt viel Diskussionsstoff.

    Her gibt es eben die zwei Schulen der Denkmalpflege:

    a) die Mehrheitsmeinung (z.B. Berlin, Frankfurt/Main u.v.a.m.): Wenn Reko, dann nur letzter Zustand vor der Zerstörung. Einzige Ausnahme: Hinzufügungen in der Nazizeit, die darf man "natürlich" weglassen (Beispiel Schoelerschlößchen Berlin, Häuser der "Altstadtsanierung" Frankfurt/Main)

    b) Mindermeinung (z.B. Potsdam): Wenn Reko, dann den "Zustand höchster künstlerischer Ausprägung", d.h. in Potsdam in der Regel die Fassung der Regierungszeit Friedrichs II. aber auch mitunter des Klassizismus.

    Dieser Streit währt schon ewig und wird sicher nicht hier entschieden floet:) .


    In diesem Beitrag wird schon im ersten Satz eine streitbare Aussage getätigt. Die Denkmalpflege hat grundsätzlich nichts zu Rekonstruktionen zu sagen. Sie ist zuständig für die Restaurierung von bestehenden Gebäuden und für Neubauten in denkmalpflegerisch geschützten Baubereichen wie Altstädten, besonderen Quartieren etc. Unter letzteres Fallen natürlich praktisch alle Rekonstruktionen. Wie weit aber die Denkmalpflege da eingreifen darf, ist umstritten und wird deshalb unterschiedlich gehandhabt. Die Dekmalpflege hat nur das Recht, Verschandelungen zu verhindern und beratend mitzuwirken.

    Mein Schlusssatz im zweiten Artikel über den Samstagsberg lautete 2006 (also noch vor der Planung des im Laufe dieses Jahrs fertiggestellten Quartiers):

    Aus meinen Überlegungen wage ich mal zu behaupten, dass in Frankfurt bei einer vollständigen Rekonstruktion des "Altstadtteiles" anstelle des technischen Rathauses höchstens 10 Prozent der Bauten in Fachwerk erstellt würden!


    Hatte ich nicht recht? Von ca. 40 Bauten weisen heute vier davon Fachwerkfassaden auf!


    In diesen zwölf Jahren habe ich meine Meinung nicht geändert und halte weiterhin die These der Frage "Wie würde das Haus heute aussehen, wenn es nicht zerstört worden wäre?" aufrecht. Dazu braucht es aber viel Wissen über die Bautätigkeit in der Restaurierungspraxis sowie zur praktischen Denkmalpflege in den letzten 70 Jahren. Auch mit diesem Wissen kann man aber diese Frage nur sehr spekultiv beantworten. Beim Beispiel in Potsdam fehlen uns im Forum die Grundlagen zu diesem Haus, ausser die Angaben von Vulgow im Zitat oben.

  • Lustig. In Potsdam werden alle Fassadenrekonstruktion zur Qualitätssicherung durch die Denkmalpflege begleitet, allerdings rechtlich nicht auf Grundlage des Denkmalschutzgesetzes sondern aufgrund einer freiwilligen, zivilrechtlichen Vereinbarung zwischen den Käufern eines kommunalen Grundstücks und der Denkmalpflege.

    Das ist dann vermutlich Amtsanmaßung, funktioniert allerdings relativ gut.

    Die Frage "Wie würde das Haus heute aussehen, wenn es nicht zerstört worden wäre?", ist nicht zu beantworten, weil wir sonst hellsehen könnten. Dann wäre - ich zumindest - eher an der Börse tätig als in der Denkmalpflege. Jede Näherung einer Antwort bleibt Spekulation.

    Damit kommen wir allerdings zu der Kernfrage der Legitimation von Denkmalpflege. In der Mehrheitsschule will die Denkmalpfleg das Baudenkmal "mit allen seinen Zeitschichten" zeigen, also mit den Veränderungen, die es mitunter über hunderte von Jahren erfahren hat. Der Auftrag der Denkmalpflege besteht aber gerade darin, das Baudenkmal seinem weiteren Schicksal zu entziehen. Die Denkmalpflege spielt also Schicksal: die Zeit wird angehalten - wissen wir, welche Veränderungen Baudenkmale noch erfahren würden, wenn sie nocht geschützt wären?

  • Zuerst ein bisschen off-topic, aber gerade so als Einstieg...

    zivilrechtlichen Vereinbarung zwischen den Käufern eines kommunalen Grundstücks und der Denkmalpflege.

    Das ist dann vermutlich Amtsanmaßung, funktioniert allerdings relativ gut.

    Ich kenne dieses Vorgehen auch, und es ist durchaus legitim. Ich hatte das Glück, für eine Wohnbaugenossenschaft drei Dreifamilienhäuser von 1850 zu restaurieren, die 20 Jahre lang auf der Abbruchliste standen. Eigentümerin war die Stadt St. Gallen, und der Stadtrat gab schliesslich die Gebäude im Baurecht frei mit der Bedingung, sie zu erhalten und günstigen Wohnraum weiterhin zu erhalten. Obwohl es keine Schutzobjekte waren, wurde im Baurechtsvertrag vereinbart, dass wir die Bauarbeiten im Envernehmen mit der Denkmalpflege renovieren, und dafür auch Subventionen erhielten. Die Denkmalpflege wurde somit vom Stadtrat damit beauftragt, ein Auge auf die Liegenschaften zu werfen. Das ganze basiert also auf einer privatrechtlichen Grundlage, die im Grundbuch eingetragen wurde, und nicht auf einer Amtsanmassung. Seit ich die Gebäude renoviert habe, stehen sie unter Schutz... :D:D:D


    Die Frage "Wie würde das Haus heute aussehen, wenn es nicht zerstört worden wäre?", ist nicht zu beantworten

    Das ist schon klar, aber man kann mindestens die Richtung ein bisschen abschätzen. In der Denkmalpflege der 70/80er Jahre waren Teilrekonstruktionen bei Umbauten und Fassadenrenovationen fast die Regel. Fachwerk wurde grundsätzlich freigelegt, egal, ob es historisch jemals sichtbar war oder nicht. Abstockungen wurden oft zugunsten eines harmonischeren Bildes befürwortet. Heute ist dies fast unmöglich.

  • Auf eine öffentliche "Charta"-Diskussion warte ich schon seit Jahren.

    Fraglos ist sie wichtig beim Thema Rekonstruktionen, wobei ich mich schon frage, ob es nicht auch ein Hindernis für künftige Rekonstruktionen sein mag.

    Bald noch wichtiger und dringender fänd ich ob der globalen Dringlichkeit eine Charta für neues klassisches und traditionelles Bauen. Da wird einfach zu viel falsch gemacht (gerade auch außerhalb Westeuropas und Nordamerikas). Wie die allerdings aussehen sollte, nun da müsste es entweder sehr generalistisch zugehen (außer beim Part klassische Architektur europäischer Prägung) oder jeweils regionalisiert gewisse Kriterien angeführt werden. Nichts diskreditiert die klassisch-traditionelle Neubaubewegung schließlich schlimmer als verkitschter Pseudo-Traditionalismus in aller Welt.

  • Das Schweizer Beispiel ist interessant, Riegel, in Deutschland aber undenkbar. Einen "Baurechtsvertrag" gibt es in Deutschland nicht und das Bundesbaugesetzbuch ist ästehtisch eben gerade neutral. In Potsdam vinkuliert der Verkäufer (Kommune) seinen Verkauf zu seinen Bedingungen. Im Grundbuch wird da auch rein garnichts eingetragen. Es handelt sich rechtlich ausschliessich um eine Beratung.

    Wenn ein Privater auf seinem Grundstück einen Vorgängerbau rekonstruieren möchte hat die Denkmalpfleg - bis auf den von Dir genannten Umgebungsschutz, gar nichts zu melden. Letzterer bezieht sich (leider) auch nicht auf eine wie auch immer geartete "Verschandelung" (was soll das sein? das sieht jeder anders) sondern ausschliesslich auf eine "erdrückende Wirkung" auf das Baudenkmal. In Denkmalbereichen wie dem Potsdamer Stadtkern kann auch auf den Städtebau und die Fassadenfarbe Einfluß genommen werden. Abstraktmodermes Bauen, das auf Kontrastwirkung angelegt ist, kann mit dem Denkmalrecht nicht verhindert werden. Da auch kaum mehr Fördermittel herausgereicht werden ist die Beeinflussung mittels Zuschuß leider auch überschaubar.

  • Zitat von Konstantindegeer

    Wenn ein Privater auf seinem Grundstück einen Vorgängerbau rekonstruieren möchte hat die Denkmalpfleg - bis auf den von Dir genannten Umgebungsschutz, gar nichts zu melden.

    Ich denke das ist der Punkt. Rekonstruktion hat erst mal nichts mit Denkmalpflege zu tun. Darum braucht man auch eine Charta für Rekonstruktion, und muss sich dagegen verwehren, dass der Denkmalschutz angerufen wird, wenn es um Rekonstruktion geht.

  • Genau, und Denkmalpfleger würde ich höchstens zur Beratung beiziehen, sofern man sich nicht in einem denkmalgeschützen Quartier befindet. Wobei sie dann für solche Fälle gar keine Zeit haben, und sich stattdessen mit den echten historischen Denkmälern auseinandersetzen müssen.

    Weiter kann man drei Kategorien von Rekonstruktionen unterscheiden:
    - die klassische, originalgetreue Rekonstruktion
    - Erinnerungsbauten (Stadtbild wird grob wiederhergestellt, z.B. in Potsam die Alte Post)
    - oberflächliche Rekonstruktion (Russenkitsch)

    (Eine vierte Kategorie gibt es in Dresden, wo Rohbauten in Beton gegossen oder mit vorfabrizierten Betonelementen erstellt werden und dann auf eine Lage Styropor die originalgetreu rekonstruierten Fassadenoberflächen gekle... nein, appliziert werden. Natürlich mit drei Untergeschossen samt Garagenein- und ausfahrten.)

    Mich interessiert hier aber vor allem (oder nur) die klassische Rekonstruktion.

  • Eine vierte Kategorie gibt es in Dresden, wo Rohbauten in Beton gegossen oder mit vorfabrizierten Betonelementen erstellt werden und dann auf eine Lage Styropor die originalgetreu rekonstruierten Fassadenoberflächen gekle... nein, appliziert werden. Natürlich mit drei Untergeschossen samt Garagenein- und ausfahrten

    Das ist ja sehr plakativ ausgedrückt. Wenn wir wirklich großflächige Rekonstruktionsviertel in unseren Städten wollen, dann werden wir uns mit Zugeständnissen an heutige Bauauflagen und -bedürfnisse arrangieren müssen. Man kann nicht erwarten, dass jeder Bau exakt so gebaut wird wie zur Entstehungszeit. Ein mit modernen Mitteln neu errichteter Barockbau ist mir zigfach lieber, als stattdessen eine typische glatte Schuhschachtel zu bekommen.

  • Jenseits von Rekonstruktionen der Bau von Designklassikern der Architektur. Also Gebäude, die eine zeitlose Anmutung haben. Dass, was die Preussen im Holländischen Viertel gebaut haben, könnte man auch heute noch errichten. Natürlich mit den entsprechenden anderen Materialien.

    Dann die Rückkehr zur Blockbebauung. Und parzellenweiser Bebauung. In funktionierenden Ensembles, sagen wir Marrakech oder italienischen Altstädten ist es ja auch egal von wann die Häuser sind, weil kein Neubau mit seinem Alter heraussticht.