Interessante Diskussion! Ich habe mir mal überlegt, wie ich - ganz subjektiv, als Laie - den Anteil erhaltenswürdiger/gelungener/schöner Architektur der jeweiligen Jahrzehnte bzw Epochen bewerten würde, und würde etwa folgende Formeln ansetzen:
Mittelalter: 70% (Fachwerkbauten der mittleren und größeren Orte, sämtliche Verwaltungs- und Sakralarchitektur)
16. bis 18. Jahrhundert: 80% (solidere Bauweise, verbesserte Dachstühle, weiterhin hohe Kunstfertigkeit in der Verwaltungs- und Sakralarchitekur)
19. Jahrhundert, bis 1918: 95% (weitere Fortschritte in der Bautechnik, sehr solide, auf Dauerhaftigkeit angelegte Materialien, große Sorgfalt bzgl Fassaden, Ornament, Einpassung und harmonischem Gesamtbild)
1919 - 1945: 85% (erste Qualitätsverluste durch Mangel der Nachkriegszeit; ideologisch bedingte Reduzierung im Ornament, trotzdem fast immer gelungene Proportionen und überzeugendes Gesamtbild, da die Architekten und Baumeister ihre Kunst noch verstanden; auch Avantgardstile wie Backsteinexpressionismus gelungen und originell)
1946 - 1959: 65% (zB in Norddeutschland erste größere Siedlungen ohne gestalterischen Anspruch in Schlichtbauweise, aber noch durchaus gelungene Wiederherstellungsbauten in den Städten, auch Rekonstruktionen, zB Dresden, Berlin, Magdeburg, Leipzig, Freiburg, Münster, Würzburg, München etc; bei Sakral- und Verwaltungsarchitektur kaum noch schöne und qualitätvolle Bauten)
1960 - 1979: <1% (Katastrophe! Nur sehr vereinzelt gelungene Solitäre, eher außerhalb der Städte oder im Bereich Einfamilienhäuser/kleinere Wohnanlagen)
1980 - 1990: 25% (Postmoderne; erste hoffnungsvolle Neuerungen, mir persönlich am besten bekannt aus Norddeutschland, zB recht gelungene Backsteinbauten insbesondere im Verwaltungsbereich, innerstädtische Passagenarchitektur, IBA in Berlin)
1991 - heute: 35% (Mehr und mehr gelungene Einzelbauten, z T in Ensembles, insbesondere in den Städten, auch einige durchaus positiv herausragende Architekturbüros/Architekten, wie Kleihues, Kollhoff, Patzschke, Nöfer u.a.; Nachteilig ab ca. 2009 die verschärften Energiesparverordnungen, die viele WDVS-verkleidete Bauten hervorbringen, und seit einigen Jahren ein neuer Trend zum 70er-Jahre-Look, dbzgl Exponentin insb. in Berlin Senatsbaudirektorin Lüscher, Negativbeispiele insb. Europacity Berlin)
Das Travemünder Maritim würde ich tatsächlich zu den wenigen gelungenen Bauten der 70er rechnen, die gerne genau so stehen bleiben dürften, und die auch von einer Fassadenveränderung nicht profitieren würden.
Ich denke, man sollte in seiner Ablehnung der Architektur der 60er und 70er Jahre, trotz der größtenteils erbärmlichen Bauwerke aus jener Zeit, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und sich so auf eine Stufe begeben mit den Historismus-Hassern der Nachkriegszeit. Ich betrete auch gerne mal Ausstellungen mit moderner Kunst oder höre neue Klassik im Konzert, obwohl ich die alten Sachen immer am meisten lieben werde. Aber wenn ich dbzgl dem Neuen überhaupt keine Chance gegeben hätte, hätte ich auch manchen schönen und berührenden neuen Eindruck versäumt.