Beispiele für gescheiterten deutschen Städtebau

  • Hallo Leute. Ich brauche mal eure Hilfe. Für eine journalistische Arbeit benötige ich deutsche Städte die beispielhaft für die verfehlte deutsche Städtebaupolitik der letzten Jahrzehnte stehen. Optimal aus Westdeutschland. Insbesondere nrw. Mit etwas Glück trägt das Projekt auch unsere Anliegen weiter nach vorne. Ich werde mir jedenfalls Mühe geben :D

    APH - am Puls der Zeit

  • Auflösung der historischen gewachsenen Stadtstruktur. Fehler beim Umbau der Innenstädte zur autogerechten Stadt. Auflösung des Blockrandes. Hochstraßen. Und weitere derartige Verfehlungen wie auch die Probleme mit der Dominanz der bauhausabgeleiteten Architektur seit 1945

    APH - am Puls der Zeit

  • Hui - da hast Du Dir viel vorgenommen.
    Die historischen Strukturen hat man aber oft schon aus praktischen Erwägungen heraus nicht völlig verlassen, weil die Kosten für die komplette Verlegung der Infrastruktur immens wären. Negativbeispiele für die autogerechte Stadt finden sich wohl fast überall.

    Aus Hannover fällt mir der Raschplatz hinterm Bahnhof ein. Eine monströse Verkehrsachse mit Hochstraße, die das Quartier hinter dem Bahnhof zwischen Straße und Bahn einkeilt und die Oststadt vom Bahnhof abschneidet. Daher muss man zu Fuß auch die im doppelten Sinne unterirdische Verbindung vom Raschplatz zur Lister Meile nutzen, eine ewige Schmuddelecke aus den 70er Jahren. Mit dem Auto dorthin zu fahren war immer eine Qual.

  • Also dieses Thema dürfte nicht sehr schwer sein. Nimm eine x-beliebige, zerstörte Stadt, pass auf, dass du nicht eine Handvoll Ausnahmen erwischt (Münster, Rothenburg, Donaueschingen, Aachen...), und du kannst nicht fehlgehen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Tschuldige. Klar doch.
    Ging wohl mein Interesse für Neue Musik mit mir durch.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Bernau bei Berlin, eventuell auch einzelne städtische Bereiche, wie etwa die Umgebung des Berliner Mehringplatzes (früher Belle-Alliance-Platz), die einst als Südende der Friedrichstraße recht mondän war und nach zahlreichen Umbauten von Scharoun etc. ziemlich verlottert ist. Der Kölner Ebertplatz ist vielleicht auch ein Beispiel, welcher üble Vergleiche bereithält, wenngleich die Blockrandstruktur nicht aufgelöst wurde.

    Karlsruhe ist vielleicht insofern interessant, als dass einst recht urbane Stadtteile (besonders im Süden der Stadt) durch den Straßenausbau abgeschnitten wurde und teilweise an Urbanität eingebüßt haben.

    Viele Grüße,
    Schinkel

  • Als Beispiele der autogerechten Planungen nehme die Berliner Straßen in Frankfurt und Offenbach. Dann das "Elefantenklo" in Gießen. Oder die Hochstraßen in Ludwigshafen incl. der Zerstörung des Mannheimer Schlossgartens bei der Überfahrt über den Rhein. Ach so, die Zerschneidung der Stuttgarter Innenstadt durch Stadtschnellstraßen ist auch auf jeden Fall erwähnenswert.

  • Falls es doch was aus dem (Nord)Osten sein darf: Neubrandenburg, meine Heimatstadt.
    Ein Paradebeispiel sozialistisch-modernistischer Absurdititäten. Die Erinnerung an das alte Stadtbild wurde in vielerlei Hinsicht nahezu ausgelöscht. Modernistischer Marktplatz samt Shopping-Mall. Riesiger Stadtring, für den Villen und idyllische Bachwege plattgemacht wurden, der die Innenstadt von allem abschneidet. Dazu ein monströses Rathaus, das demnächst teuer abgerissen werden soll/muss. Rings um die Kernstadt, viel zu weit ab von dieser und infrastrukturell eher schlecht erschlossen große Trabantenstädte in Plattenbauform, vor allem Datzeberg, Oststadt, Ihlenfelder/Monckeshof, Reitbahnviertel, Südstadt, Lindenberg.

    Dazu Hochstraßen wie in der Oststadt und Demminer Straße (Bahnüberführung), die absurd komplex ausgeführt wurden und heute sehr teuer zu stehen kommen. Trotz (oder gerade wegen) übergroßer Straßenwege viel zu viel Verkehrsbelastung.
    In den 90ern setzten sich die Fehlplanungen dann weiter fort, mit suburbanen Einfamilien- und Reihenhaussiedlungen, teils sehr weit ab vom Schuss. Erst seit den 2000ern wird teilweise reurbanisiert und der alte Kern samt gründerzeitlicher Vorortgürtel nachhaltig auf Vordermann gebracht.

    Ein perforiertes Stadtbild, wie es im Buche steht. Ja, nicht ganz umsonst habe ich mich früh für New Urbanism, neuklassische Architektur, Rekonstruktionen und Stadtbildreparatur interessiert... :/

  • Was für ein Zufall, gerade habe ich bei Wikimedia Commons Bilder zu Essen angeschaut. Diese Stadt ist tatsächlich ein städtebaulicher Alptraum. Hässlich, grau, verlottert, versifft. Hochhäuser, Stadtautobahnen, Einkaufscenter, Fressbuden und Ramschlokale. Wie ein einziges hässliches Gewerbegebiet. Wirklich nichts Sehenswertes zu finden. Kein Wunder, dass so eine Umwelt auf die Mentalität abfärbt (ich rede hier von dem typischen Proll-Image, was manche sympathisch finden, mich jedoch zutiefst abstößt).

    Mein Tipp: Nimm Essen, was Schlimmeres wirst du deutschlandweit - ach was sag ich, europaweit, nicht finden.

    In dubio pro reko

    6 Mal editiert, zuletzt von reklov2708 (7. März 2017 um 15:00)

  • vielen Dank euch allen. Der Artikel ist bereits fertig. Leider darf ich dazu nicht mehr sagen. Obwohl es mir in den Fingern juckt.

    APH - am Puls der Zeit

  • Dann das "Elefantenklo" in Gießen

    Aber das hat in Gießen Kultstatus und ist auch nicht mit den genannten, die Städte zerschneidenden Hochstraßen und vierspurigen Durchgangsstraßen, im Hinblick auf die negativen Auswirkungen für das Stadtbild zu vergleichen

    Wirklich nichts Sehenswertes zu finde


    mit den Ausnahmen:

    Münster
    http://www.dom-essen.de/

    und Synagoge
    https://www.essen.de/rathaus/aemter…e/Start.de.html

    Was zeigt, dass sich in jeder alten Stadt - auch wenn das Stadtbild katastrophal geworden ist - irgendetwas sehenswertes findet.

  • So schlimm finde ich Essen gar nicht (habe ich einige Male besucht, weil eine Bekannte dort studierte), Pforzheim ist für mich der absolute Tiefpunkt. Generell muß ich Dir aber recht geben, daß NRW generell besonders viele unschöne Beispiele zu bieten hat, eine löbliche Ausnahme ist das ehemalige Land Lippe.

    Aber auch Böblingen/Sindelfingen setzt insbesondere mit der Brumme-Allee und der Bebauung gleich daneben (Möbelhaus) neue Maßstäbe in Sachen Häßlichkeit (ich habe auch selten ein so heruntergekommenes Parkhaus gesehen).

    Immerhin wurde die Ecke mit den Mercaden zumindest teilweise repariert, natürlich ein riesiger Klotz, aber eine deutliche Verbesserung.

    Einige Fotos vom Oktober 2012 (Hinweis: die häßlichsten Ecken wurden inzwischen durch das Einkaufszentrum Mercaden ersetzt). Die seltsame riesige Betonkonstruktion, über die man eine Ebene über der Brumme-Allee parallel dazu durch eine gammelige Passage mit irgendwelchen Billigläden gehen kann, ist aber weiterhin erhalten.

    Böblingen Oktober 2012

  • In Baden-Württemberg findet man in jeder Stadt, auch in den nicht kriegszerstörten, mehr oder minder schreckliche Bau- und Stadtplanungssünden. In Tübingen, das eine der am besten erhaltenen Städte in Ba-Wü ist, zum Beispiel: Hegelstraße, Reutlinger Straße, Blaue Brücke, Mode-Zinser, Neckarparkhaus, WHO... Esslingen hat es noch viel schlimmer erwischt, Reutlingen auch, Schwäbisch Gmünd sowieso usw. usf.

  • Nicht so toll finde ich in Tübingen eigentlich auch nur die Ecke um das Zinsergebäude und den Bahnhof, also unmittelbar südlich des Neckars. Südlich der Hegelstraße wird es aber schon wieder recht annehmbar - und die Neubauviertel wie am Egeria-Gelände im Norden oder Loretto im Süden finde ich sogar außerordentlich gelungen.

  • Südlich der Hegelstraße wird es aber schon wieder recht annehmbar

    Das stimmt. Die Straße selbst ist aber, wie auch die Reutlinger Straße, für Fußgänger sehr ätzend. Typische Verkehrsschneisen halt.

    die Neubauviertel wie am Egeria-Gelände im Norden oder Loretto im Süden finde ich sogar außerordentlich gelungen.

    Neben dem Loretto habe ich jahrelang gewohnt und ich konnte zusehen wie es gebaut worden ist. Die Tübinger Neubauviertel (Französisches Viertel, Loretto, Mühlenviertel, Egeria) betrachte ich mit gemischten Gefühlen. Etliche Stellen sind ziemlich eintönig bebaut und die erhoffte Belebung der Viertel durch viele kleinere Geschäfte hat leider nicht geklappt. Die meisten Tübinger, die ich kenne, empfinden auch die Bebauung als zu dicht, was ich nicht so sehe. Mir gefällt die Blockrandbebauung. Viele der Häuser sind gute moderne Architektur und mein Gesamteindruck der Viertel ist doch positiv. (Die allermeisten Neubaugegenden in anderen Städten sind jedenfalls schlechter.)

  • Pforzheim ist allein durch seine Größe, Lage und sein Umland Essen bei Weitem vorzuziehen, außerdem gibt es dort nicht so viele wirklich unzumutbare Bausünden (Schnellstraßen, Hochhäuser im Zentrum). Pforzheim ist eigentlich eine recht verschlafene Stadt (nur eben ohne historische Bebauung), mir kommt das viel eher entgegen als so ein Ruhrpott-Moloch.

    Alles was ich bisher vom Ruhrgebiet gesehen und gehört habe hat mich in der Absicht bestärkt, dort nie einen Fuß hinzusetzen. Eine durchindustrialisierte, vollkommen zersiedelte Ballungslandschaft mit hässlichen Zentren und jede Menge Unterschicht.

    In dubio pro reko

    4 Mal editiert, zuletzt von reklov2708 (8. März 2017 um 12:21)

  • Die Bewohner finde ich eigentlich ganz angenehm, ich habe jahrelang für eine Firma aus Dortmund freiberuflich gearbeitet. Zwischen den Städten gibt es immer wieder überraschend viel Natur.

    Pforzheim finde ich indes schon extrem häßlich, weitgehend heruntergekommen, auch das Publikum ist doch reichlich dubios. Bei Gelegenheit reiche ich noch einige aktuellere Fotos nach.