Fachwerkbauten in St. Gallen (CH)

  • Nachdem nun zu einigen Städten separate "Fachwerk-Stränge" bestehen, eröffne ich hier einen zu St. Gallen. Die Schweiz ist ja nicht so wie Deutschland als Fachwerk-Land bekannt, aber trotzdem haben wir einen sehr hohen Bestand an Fachwerkbauten, vor allem auf dem Land. Anders sieht es in den grösseren Städten aus. Während einstige Fachwerkstädte ab der Renaissance und dem Frühbarock allgemein "versteinerten", behielten Kleinstädte eher ihr spätgotisches Gepräge mit Holzbauten. Von den grösseren Städten machte einzig St. Gallen diese Entwicklung nicht mit. Weshalb - die Frage ist noch nicht beantwortet worden. Vielleicht war die Mentalität der St. Galler, denen man gern nachsagt "De Sanggaller drait de Füfräppler zweimol um, bevor er en usgit", die Ursache dafür?

    Jedenfalls existieren hier immer noch viele baugeschichtlich wertvolle und altertümliche Fachwerkbauten aus dem 15. Jahrhundert. Der lang zurückliegende letzte Stadtbrand (1418) und die Nichtbeteiligung am Dreissigjährigen Krieg haben dazu geführt, dass die Altstadt in den letzten 600 Jahren nie grundlegend umgestaltet oder erneuert wurde. So richtig reiches Schmuckfachwerk ist die Ausnahme und vor allem bei Bauten aus dem frühen 17. Jahrhundert und bei Landhäusern ausserhalb der Altstadt zu finden.

    Zahlen: In der rund 500 Häuser zählenden Altstadt liegen etwa 50 Fachwerke frei. Über ebenso viele gibt es baugeschichtliche Dokumentationen, und von weiteren 100 Infrarot-Aufnahmen, sodass wir über das ursprüngliche Aussehen unserer Fachwerkbauten sehr gut dokumentiert sind. Mehr als die Hälfte des heutigen Baubestandes weist unter dem Verputz noch Sichtfachwerk oder Reste davon auf. Bis gegen 1880 bestanden noch 95% (!) aller Bauten in der Altstadt aus Fachwerk. Gemäss historischen Abbildungen wurden alle Fachwerke zwischen 1790 und 1835 verputzt.


    Edit.: die leicht überarbeiteten Beiträge sind nun hier zu finden: https://club.baukultur.pictures/forum/index.ph…n-der-altstadt/

    Einmal editiert, zuletzt von Riegel (20. Mai 2019 um 02:31)

  • Danke, hochinteressant!
    Die Schweiz hatte nicht die starken Brüche durch Weltkriege und war in ihrer ökonomischen Entwicklung gleichmäßiger als West- und Mitteleuropa, ich denke dadurch wurden nicht so oft "Bauwellen" angeschoben (das Verputzen um 1800 war definitiv eine).
    Aber daß da noch Gebäude aus dem 15. Jahrhundert stehen, wußte ich nicht. Auf dem Plan sieht es so aus, als habe St.Gallen ein sehr geschlossenes Stadtbild, an dem man nie mit ideologisch begründeter Änderung Schneisen geschlagen hat. Sehr erstaunlich.

  • Es ist in der Tat so, dass Schweizer Städte von radikalen Stadtumbauten und Schneisen verschont blieben. Genf hat eine teilweise Umgestaltung in Haussmann-Manier in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt, Zürichs Altstadt teilweise in der Umgebung des Bahnhofs um 1900 und Basel ab den 1930er Jahren. St. Gallen hat nur eine Zäsur an Marktplatz und Bohl zwischen der Kernstadt und der Erweiterung im Norden, wo im 19. Jahrhundert mit einer Ausnahme alle öffentlichen Gebäude ersatzlos ausradiert wurden.

    Einmal editiert, zuletzt von Riegel (20. Mai 2019 um 02:11)

  • Mal eine Frage zu den Aufzugsgiebeln.
    In Waldshut waren die zeitenweise auch zumindest an einigen Häusern zu sehen.
    In St. Gallen scheinen die ja sehr häufig erhalten zu sein.
    Das waren Lastaufzüge, ja, aber was wurde damit in welches Geschoß befördert? Wie war die Nutzung damals für Vorräte welcher Art auch immer (Brennholz vielleicht?), und wo wurden Pferde untergebracht, die gab es früher ja auch mehr als heute?

  • Solche Aufzuggiebel (in Mundart sagen wir "Büscheliufzug"; Büscheli = Reisigbündel, zusammengebundene Äste) gab es früher beinahe in jeder Stadt. Bei giebelständigen Bauten sitzen die Aufzugsöffnungen meistens in der Mittelaxe des Giebeldreiecks mit einem Kragarm darüber (bspw. in Holland noch sehr häufig anzutreffen). Es ist auch möglich, dass bei traufständigen Bauten die Aufzugsöffnung im obersten Vollgeschoss integriert war. In St. Gallen waren die Kragarme samt Winde beweglich und konnten mit Muskelkraft nach draussen gestossen werden.

    Mehr dazu: https://club.baukultur.pictures/forum/index.ph…1253#post301253

    Einmal editiert, zuletzt von Riegel (20. Mai 2019 um 02:22)

  • Augenscheinliche Vertreter für Aufzugsgauben, vergleichbar mit St. Gallen, liefert der deutsche Südwesten.
    Rottweil und Villingen mit ihrer typisch traufständigen Bauweise zeigen dies beispielhaft.
    Ergänzend zur Thematik eine Sammlung: Rottweiler Aufzugsgauben
    Besondere Ausformungen:
    Doppelaufzugsgaube, vertikal
    Doppelaufzugsgaube, horizontal

    Jeder, der sich die Fähigkeit erhält Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.
    http://www.archicultura.ch

    Einmal editiert, zuletzt von zeitlos (5. Oktober 2016 um 06:09)

  • Ich beschränke mich in diesem Strang auf die Fachwerkbauten in der Altstadt und möchte mich nun vor allem auf deren Erforschung vor 1800 konzentrieren. Natürlich gab es auch ausserhalb der Stadtmauern Fachwerkbauten, die für die Forschung herangezogen werden müssen. Im ganzen Stadtgebiet gab es vor allem ab 1600 prächtige Landsitze und auch ansehnliche Wohnhäuser wohlhabender Bauern.

    Diesen Bauten nachzugehen dürfte den Rahmen hier aber sprengen. Deshalb stelle ich nur ein prächtig restauriertes Landhaus ausserhalb der Altstadt vor, und anschliessend zwei sehr stark veränderte Beispiele, die nichts mehr von ihrer ursprünglichen Pracht erkennen lassen:

    Burggraben 23 "zur Hechel": https://club.baukultur.pictures/forum/index.php?thread/8200-st-gallen-fachwerkbauten-außerhalb-der-altstadt/&postID=303208#post303208

    Unterer Graben 25: https://club.baukultur.pictures/forum/index.php?thread/8200-st-gallen-fachwerkbauten-außerhalb-der-altstadt/&postID=303453#post303453

    Blumenaustr. 39 (St. Jakob Str. 14): https://club.baukultur.pictures/forum/index.php?thread/8200-st-gallen-fachwerkbauten-außerhalb-der-altstadt/&postID=303353#post303353

    2 Mal editiert, zuletzt von Riegel (20. Mai 2019 um 02:23)

  • In allen Fachwerkgebieten gab es mit dem Historismus Ende des 19. Jahrhunderts ein Wiederaufblühen der Fachwerkkunst. Diese war in der St. Galler Altstadt allerdings nur wenig präsent, dafür umso mehr im ganzen übrigen Stadtgebiet. Die Bauten dieser Epoche haben aber nicht mehr so die ortspezifischen Bezüge wie die Bauten vor 1800. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Neubauten nun von akademisch ausgebildeten Architekten und nicht mehr von ortsansässigen Handwerkern geplant und ausgeführt wurden. In der damaligen Fachliteratur und in Bildermappen fand vor allem der niedersächsische Fachwerkbau einen Niederschlag. Diese Nachschlagewerke und die weit entfernt liegenden Studienausbildungsorte werden dazu geführt haben, dass die regionalen Unterschiede teilweise sehr verwischt wurden, was vor dem Historismus nicht der Fall war.

    Jedenfalls gab es in den letzten Jahren schon einige Forschungsarbeiten zum relativ jungen Forschungsthema des historistischen Fachwerkbaus. Historistische Fachwerkbauten aus St. Gallen stellte ich mal im allgemeinen Fachwerkstrang vor. Dort sind wir der interessanten Frage des Einflusses des niedersächsischen Fachwerks kurz nachgegangen:


    Lämmlisbrunnenstr. 10

    linsebuehlstrasse-11_laemmlisbrunnenstrasse_20.02.2008_0887.jpg

    1902 entstand dieser Fachwerkgiebel, dessen geschwungenen "Streben" zusammen eine eigenwillige Jugendstilform ergeben.

    aus: Historistisches Fachwerk in St. Gallen (übernächsten Beitrag von Alexander auch lesen!)


    Ehemalige "Militärkantine" von 1901

    kreuzbleicheweg-2_24.02.2008_0961x.jpg

    aus: Das Restaurant Militärkantine


    Strassenwärter- oder Hydrantenwagen-Häuschen Dufourstrasse 106

    dufourstr945-24.2.08.jpg

    Solche Gerätehäuschen waren um 1900 im ganzen Stadtgebiet verbreitet. Meistens waren sie in Fachwerk- oder Chaletbauweise gezimmert.

    aus: Fund eines "alemannisch-historistischen" Fachwerkbaus (und weitere historistische Fachwerke


    Zum Schluss noch ein prächtiges Beispiel einer der zahlreichen Villen am überwiegend von 1880 bis 1914 überbauten Rosenberg, bei welchen mit Fachwerk auch nicht gespart worden war:

    Stauffacherstr. 6, erbaut 1899

    stauffacher4006-17.12.10x.jpg

    aus: St. Gallen