Ypern als Reko-Dorado (B) (Galerie)

  • Das Schicksal der Stadt Ypern mit Ihrer vollständigen Zerstörung im 1. Weltkrieg setzte ich hier mal als einigermaßen bekannt voraus. Ypern wurde ja nun in den 1920ern herausragend rekonstruiert.

    1) Ich beginne ohne viel Federlesens mit einem Blick von Süden auf den Marktplatz mit der riesigen Tuchhalle in Kombination mit dem örtlichen Belfried. Laut dem Dumont Kunstreiseführer bilden beide Gebäude „eines der großartigsten Ensembles des gotischen Profanbaus überhaupt“.

    2) Die vom Marktplatz aus direkt hinter der Tuchhalle gelegene Martinskirche (der Turm links) passt ebenfalls hervorragend ins Bild. Die Tuchhalle beherbergt heute das sehenswerte Flandernfields-Museum.


    3) Folgend sehen wir einige Bilder von Tuchhalle und dem nördlichen Bereich des Marktplatzes. Hier konnte ich noch zwei Vorkriegspostkarten finden, die bezeugen, dass sich die 1920er Jahre-Bebauung doch sehr stark an die Originale angelehnt hat.


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    10) Ypern wurde im 1. Weltkrieg durch deutsche Artillerie völlig zerschossen. Hier schauen wir über die Boterstraat von Westen auf die Reste des Marktplatzes. So schlimm sah etwa die Innenstadt von Bremen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht aus.


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  • 12) Hier sehen wir von Nordwesten auf die Reste von Martinskirche und Belfried/Tuchhalle.


    13) Jetzt schauen wir von Westen nach Osten quer über den Marktplatz. Das Gebäude am Ende mit dem auffälligen Turm ist eine Bank, nicht etwas das Rathaus.


    14) Jetzt sehen wir die südliche Bebauung des Marktplatzes …


    14a) … und einen ähnlichen Abschnitt auf einer Vorkriegspostkarte. Das Bankgebäude am Ostende des Platzes wurde offenbar variiert wieder aufgebaut. Das erste markierte Gebäude ähnelt dem ersten Gebäude aus Bild 14 sofort links sehr stark. Die auffälligen Giebel in der Mitte von Bild 14 finde ich in der Postkarte allerdings nicht.


    15) Jetzt schauen wir noch einmal von der Tuchhalle aus Richtung Osten.


    16) Jetzt haben wir eine Karte. Links habe ich die Boterstraat markiert, unten die Rijselsestraat, rechts das Meenenpoort am Ende der Meensestraat und oben die Dijkmuldsestraat.


    17) Jetzt sehen wir die ehemalige Fleischhalle am westlichen Ende des Marktplatzes am Beginn der Boterstraat. Das Erdgeschoss stammte aus dem 13. Jahrhundert.


    18) Die nächsten Bilder entstanden in der Boterstraat, die in der ersten Nachkriegsaufnahme so unglaublich zerstört war.


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    20) Ich habe mir natürlich in Ypern nicht jede Straße angesehen. Aber wir sehen hier zumindest im Innenstadtbereich wirklich eine flächendeckende Rekonstruktion in Haupt- und angrenzenden Nebenstraßen. Im südlichen Teil der Stadt sind wir ein Stück auf der ehemaligen Stadtbefestigung langgelaufen und haben zumindest dort auch Bereiche mit schlichter Bebauung gesehen. In Summe ist das aber die größte Wiederaufbauleistung, die ich bislang betrachten konnte. Ähnliches habe ich bisher in Warschau und Danzig gesehen, zumindest aber Danzig wird 1945 deutlich weniger verstört gewesen sein als Ypern 1918.


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    23) Das ist der nördliche Beginn der Diksmuldsestraat. Links ist die lokale Brauerei. Ich habe mir ein paar Flaschen mitgebracht und kann den Tropfen wirklich empfehlen.

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    26) Dies ist der Blick aus der Rijselsestraat von Süden auf dem Marktplatz. Rijsel ist flämisch für Lille. Die im Straßenverkehr manchmal wechselnden Ortsbezeichnungen sind oft verwirrend. Tückisch ist z.B. auch Lüttich-Liege-Luik.


    27) Jetzt sehen wir im südlichen Zipfel der Stadt links das Rijselpoort und rechts ein rekonstruiertes Holzhaus aus der Zeit um 1575.


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    29) Jetzt sehen wir vom Rijselpoort stadteinwärts und recht die ehemalige Stadtbefestigung.


    30) Jetzt schauen wir von Westen in die Stadt …


    31) … und sehen in die gleiche Straße stadtauswärts zum Meenentor.


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    33) Hier wird der ca. 185.000 Commonwealth-Soldaten gedacht, die im ersten Weltkrieg im sog. Ypernbogen ums Leben gekommen sind. Circa 100.000 erhielten keine eigene Grabstelle. Die Namen von ca. 50.000 dieser Vermissten wurden in dieses Tor aus den 1920ern gemeißelt. Das war’s aus Ypern.

  • Vielen Dank für die Bilder. Die Yperner Tuchhalle gehört zweifellos zu den schönsten Gebäuden der Welt. Hier noch zwei bedrückende Bilder vom Brand der Tuchhallen:

    http://bsbdipriorkat.bsb.lrz.de/amira/images/o…_x_IMG_0008.JPG

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/comm…allen-Ieper.jpg

    In der Altstadt die Macht, im Kneiphof die Pracht, im Löbenicht der Acker, auf dem Sackheim der Racker.

    Hätt' ich Venedigs Macht und Augsburgs Pracht, Nürnberger Witz und Straßburger G'schütz und Ulmer Geld, so wär ich der Reichste in der Welt.

  • Vielen Dank für die Bilder. Der Wiederaufbau ist wirklich in jeder Form gelungen, es ist aber auch krass, wie stark diese Stadt zerstört wurde. Zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg gab es aber zwei Entwicklungen, die ähnlichen Wiederaufbauleistungen später entgegenstanden: Die Etablierung der Bauhausmoderne (v.a. als Abgrenzung zum Baustil des NS-Regimes) und der zunehmende Individualverkehr mit seinen Erfordernissen. Verglichen mit den Zerstörungen sind einige Städte ja durchaus auch später gut wiederaufgebaut worden.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Da pflichte ich Booni bei. Ypern hatte Glück, daß der Wiederaufbau noch vor der Bauhaus-Ära durchgezogen wurde. Wer weiß, wie die Stadt nach einem Wiederaufbau nach 1945 ausgesehen hätte?! - Deutschland hatte also einfach nur Pech, daß sich die Baukultur zur Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg schon verabschiedet hatte (Gut, die Ideologie und eine gewisse Selbstbestrafung/Verdrängung, spielten da auch noch eine Rolle). Die allgemeine Bausünde wurde erst mit dem Bauhaus-Stil geboren. Zumindest ist das meine Meinung. Davor hatte man es immer geschafft, ein zestörtes Gebäude mit einem ebenfalls ästhetischen Nachfolger zu ersetzen. Das Stadtbild wurde nicht beeinträchtigt. Die klotzige und schmucklose Bauhaus-Architektur, sprengte da schon jeden Rahmen.

    In Ypern wurde augenscheinlich auch nicht alles 1:1 rekonstruiert. Es sind auch viele Neuschöpfungen dabei. Diese allerdings, passen sich perfekt neben den rekonstruierten Bauwerken ein.

  • Ich habe noch einen Nachtrag zum Thema Ypern im Grenzbereich von Architektur und Militärgeschichte.

    34) Die im 1. Weltkrieg völlig zerstörte Umgebung von Ypern wurde nach dem Krieg umgehend wieder landwirtschaftlich nutzbar gemacht. Anders etwa als in dem hügeligen Waldgebiet um Verdun sind hier kaum mehr Spuren der Verwüstung von 1914/18 augenscheinlich. Abgesehen von gerade englischen Grabanlagen fallen über ein Dutzend Kraterseen südlich von Ypern auf, die durch gewaltige unterirdische Sprengungen 1916/17 entstanden. Der größte ist der sog. Spanbroekmolenkrater mit einem Durchmesser von über 100 Metern.

    35) Im nahegelegenen Wijtschate sehen wir dann eine gelungene Aufbauleistung. Die Orte hier wurden 1914/18 komplett nivelliert. In der Kneipe an der Ecke kostete ein Bier € 1,50, aber wir sind am Sonntag Mittag dann doch nicht eingekehrt.

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    37) Auch Mesen/Messines sieht heute vernünftig aus.

    38) Die Sint-Niklaaskirche in Mesen wurde komplett rekonstruiert.

    39) Dies war die „Ruine“ der Kirche nach dem Krieg.

    40) Durch diese Straße sind wir vom Marktplatz zur Kirche gegangen. Allerdings sah die Straße heute doch anders aus. An der Ecke rechts vorne ist immer noch eine Kneipe.

    41) Jetzt sind wir in Langemarck nordöstlich von Ypern. Auch hier wurde eine Kirche wieder aufgebaut. Als ich auf dem nahegelegen deutschen Soldatenfriedhof eine englische Schulklasse gesehen habe, war ich tatsächlich gerührt.

    42) Das ebenfalls nordöstlich von Ypern gelegene Passendale sah im Vorbeifahren sehr gut aus. Leider habe ich keine Bilder gemacht und muss so auf eine Postkarte zurückgreifen. Passendale hat in der englischen Militärgeschichte einen Ruf wie Donnerhall mit irre vielen Toten, ähnlich wie die Offensive an der Somme 1916. Nach vier Jahren vor und zurück war um Passendale herum 1918 eine komplette Mondlandschaft.

    43) Der englische Soldatenfriedhof in Passendale ist der größte auf dem Kontinent und sehenswert. Man beachte, wie gepflegt die Anlage ist (!!). Der deutsche Friedhof in Langemarck sah tadellos aus, aber das hier ist nicht zu toppen. Wie sehen unkrautlosen Rasen, der um die Grabstellen herum perfekt abgegrenzt ist. Ohne Gefälle und ohne die störenden Grabsteine könnte man hier Tennis spielen.

    44) Irgendwo zwischen den Gräbern befinden sich Reste eines deutschen Bunkers. Links ohne die Bäume und Häuser könnte man bis Ypern sehen. Man kann sich erschreckend gut vorstellen, welch perfektes Schussfeld das flach abfallende Gelände geboten hat.

    45) Die Bewohner von Westflandern haben sich natürlich mit der Vergangenheit arrangiert, was sollen sie anderes machen. Bei Sint-Elooi haben wir einen Explosionskrater gesehen, der heute als Badeteich für ein Wochenendhäuschen dient. Da hätte ich dann doch Skrupel. Immerhin ist jeder dieser Explosionskrater ein Massengrab. In Passendale nutzten sie die Vergangenheit sogar, um für heimische Produkte zu werben. Dann sage ich mal „Prost“. Das war’s aus dem ehemaligen Ypernbogen.

  • Die Etablierung der Bauhausmoderne (v.a. als Abgrenzung zum Baustil des NS-Regimes)

    Die Aussage verstehe ich nicht.

    Zum einen hatte die Bauhausmoderne ihre beste Zeit etwa 10 Jahre bevor die Nazis die ihre hatten. Zum anderen hat die Nazizeit in der gebauten Realität mit Ausnahme einiger weniger Repräsentationsbauten in Berlin IMHO keinen eigenen Architekturstil hervorgebracht (und selbst da könnte man sich streiten, ob es sich wirklich um eine eigene Entwicklung oder nicht viel eher um bloses Zitieren eines damals weltweit praktizierten Stils handelte). In den kurzen 6 "Friedens-"jahren ihrer Herrschaft hatten offenbar andere Dinge Priorität, als die Gleichschaltung der Architektur.

    Ich habe die Moderne - gleich ob aus der Zwischenkriegszeit oder nach dem WK II - immer eher als Abgrenzung gegenüber dem Bauen vor 1914 empfunden.

    Einmal editiert, zuletzt von HelgeK (20. November 2015 um 19:31)

  • Ich bin jetzt kein Architekturhistoriker, aber nach meinem Eindruck wurde die Bauhausmoderne durch die Machtübernahme der Nazis schon deutlich eingeschränkt, muss aber auch zugeben, dass alle mir einfallenden wichtigen Bauhausbauten vor 1930 und nicht vor 1933 entstanden sind. Dennoch wurde m.E. nach der Machtübernahme eher der Neoklassizismus (nicht nur in Berlin) und vor allem der eigentlich sehr schöne Heimatschutzstil gefördert (man denke nur an die Kochelhofsiedlung in Stuttgart). Nach dem Krieg haben einige wenige Städte im Heimatschutzstil weitergemacht, während vielerorts an die seit 20 Jahren kaum noch gebaute Moderne anschloss (ich rechne mal ab ca. 1950, vorher ist dann doch wenig komplett neues entstanden). Die wenigen neoklassizistischen Bauten, die in Westdeutschland entstanden sind, waren zur damaligen Zeit m.W. schon recht umstritten.

    Wo die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten
    Karl Kraus (1874-1936)

  • Ypern ist schon genial - das muss man Belgien lassen - nirgendwo wird die gotische Profanbau als Stil so grossartig wie hier vertreten. Dazu eine wahnsinnige Wiederaufbau...

  • Der Wiederaufbau ist sehr gut, ähnlich wie Löwen. Die Stadt und ihre Umgebung hat aber was gespenstisches, ja unheimliches. So richtig gemütlich wird es in der Altstadt nicht, man merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Das ganze hat eine Art Friedhofsstimmung, vor allem im Winter.

    Unsere große Aufmerksamkeit für die Belange des Denkmalschutzes ist bekannt, aber weder ökonomisch noch kulturhistorisch lässt es sich vertreten, aus jedem alten Gebäude ein Museum zu machen. E. Honecker

  • Zitat

    Die allgemeine Bausünde wurde erst mit dem Bauhaus-Stil geboren. Zumindest ist das meine Meinung. Davor hatte man es immer geschafft, ein zestörtes Gebäude mit einem ebenfalls ästhetischen Nachfolger zu ersetzen

    ja, dieser Gedanke hat was. Eine "historistische Bausünde" besteht niemals in der Hässlichkeit des Gebäudes selbst, sondern in der Verdrängung des Vorigen, ev auch im Verhältnis zum Umfeld. Die Verhässlichung der Welt um der Verhässlichung willen erfolgte wirklich erst durch das Bauhaus-Gedankengut. Wahrscheinlich ist es auch richtig, diesen Gedanken mit dem Wiederaufbau Yperns in Verbindung zu bringen.

    Augustinus (354-430) - Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat
    14. Buch 9. Kapitel
    Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.

  • Die Stadt und ihre Umgebung hat aber was gespenstisches, ja unheimliches. So richtig gemütlich wird es in der Altstadt nicht, man merkt, dass irgendwas nicht stimmt. Das ganze hat eine Art Friedhofsstimmung, vor allem im Winter.

    Gerade eben las ich in Max Beckmanns "Briefe im Kriege" diese Stelle: "Ich sah Ypern wie eine Fata Morgana im heißen Dunst der Ferne. Ungeheure brandgelbe Sprengtrichter, darüber der fahlviolette, heiße Himmel und die kalt rosafarben skelettierte Kirche eines Dorfes. Sah die ganzen merkwürdig flachen Höhenzüge von Y., die von einer majestätischen Öde und Verlassenheit des Todes und der Zerstörung sind. Nicht mehr Häuser und zerstörte Kirchen - ganze Plateaus mit Häuserskeletten, und weite, wüste Flächen, dick mit Kreuzen, Helmen und aufgewühlten Gräbern bedeckt." (Brief vom 7.6.1915)