• Vom Lindenbrunnen (1544, 1954 erneuert) aus bietet sich eine der klassischen Postkartenansichten Reutlingens.

    ..die auch schon mal deutlich pittoresker war:

    Eben das ist es was ich meine. Reutlingen scheint in der Nachkriegszeit eine völlige Banalisierung erlebt zu haben, das kann man nicht auf Zerstörung und Wiederaufbau schieben. Wären die Häuser freie Nachschöpfungen wie in Nürnberg oder Münster, wäre ich regelrecht angetan. Aber hier handelt es sich um völlig verschandelte Vorkriegssubstanz.

    Der deutsche Pfad der Tugend ist immer noch der Dienstweg.

  • ...die auch schon mal deutlich pittoresker war:

    Danke, Vulgow, für diese Gegenüberstellung. Sie macht deutlich, dass die Schlichtheit des heutigen Reutlinger Straßenbilds weitgehend nicht historisch vorgegeben war, sondern Ergebnis von Vereinfachungen, Modernisierungen, Entstuckungen nach dem 2. WK, kurz Resultat einer Haltung, die heutzutage im Schwäbischen sehr verbreitet ist. Das Bewusstsein für Architekturformen hat weitgehend einem Streben nach kostengünstigen, praktischen, zeitgemäßen Lösungen Platz gemacht. "Bereinigung", "Beruhigung" der Fassaden ist angesagt und eine innerstädtische Variante der Baumarkt-Moderne, die landauf landab das Stadt- und Siedlungsbild beherrscht.


  • ...die auch schon mal deutlich pittoresker war:

    Bild: LMZ B.-W.(Hein), etwa um 1900, gemeinfrei


    Na vielen Dank. Ich habe mich schon an dem wahrzeichenhaften Erkerhaus recht erfreut, jetzt kann ich es nicht mehr ansehen, ohne über die Verschandelung hinwegzublicken und dem alten Zustand nachzutrauern. Eine einfache Fassadenrekonstruktion; sogar unter Beibehaltung der Wärmedämmung, wäre kein großer Aufwand und sehr wirkungsvoll, v. a. wegen der markanten Position des Hauses. Aber wo kein Wille, da kein Weg...

    Ich habe insgesamt den Eindruck, dass man hier mit relativ wenig Aufwand relativ viel verändern kann. Abgesehen vom Marktplatz ist ja noch nicht all zu viel verloren. Die beeindruckenden Häuserzeilen existieren ja, alleine das Einsetzen von Sprossenfenstern würde sehr viel verbessern.

  • Vom Albtorplatz zweigt die Josef-Weiß-Straße ab, an der die Stadtmauer teilweise erhalten ist.

    Der Eisturm.

    Der ehemalige Zwinger ist mit kleinen Häuschen verbaut, die sich an die Stadtmauer anlehnen.

  • Der südwestliche Teil der Altstadt ist besonders interessant, da hier einige bemerkenswerte Gebäudekomplexe den großen Brand von 1726 überdauert haben, nämlich

    A - Das ehemalige Barfüßerkloster

    B - Der Marchtaler Hof

    C - Das Spendhaus

    D - Der Königsbronner Klosterhof

  • B

    Der Marchtaler Hof ist ein ehemaliger Pfleghof des Klosters Obermarchtal. Der Hauptbau stammt im Kern aus dem Jahr 1508 und ist laut Bauforschung bemerkenswert: "Falls sich das Baudatum von 1508 (d) im Erdgeschoss auf den gesamten Bau übertragen ließe, würde dieses Gebäude in der historischen Hauslandschaft als eines der wenigen sehr frühen Vertreter der neuzeitlichen Abzimmerungsweise gelten. Um 1500 gibt die historische Holzbauweise in Süddeutschland die mittelalterliche verblattete Abzimmerungsweise zugunsten der so genannten neuzeitlichen verzapften Abzimmerungsweise auf. Diesen markanten konstruktiven Wandel dokumentieren heute noch einige wenige markante Gebäude in der Region. Aufgrund der Abzimmerungsweise konnte bei verschiedenen Vergleichsbauten sogar nachgewiesen werden, dass fremde Zimmerleute aus dem mitteldeutschen Raum (Region Koblenz) im Südwesten tätig waren und diese, damals neuartige Abzimmerungstechnik bei uns gewissermaßen einführten. Welche Stellung diesem Bau im historischen Kontext zugewiesen werden kann lässt sich derzeit noch nicht abschließend sagen, da die bauhistorische Untersuchung bislang nur ein „kleines Fenster“ geöffnet hat." Die Fassade wurde 1817 umgestaltet.

    Zum Pfleghof gehörte auch die Marienkapelle, die dem einen oder anderen aus Auerbachs Keller bekannt sein könnte. Die gotische Kapelle, 1247 erstmals erwähnt, wurde 1890 zur Freimaurerloge umgebaut (Innenaufnahme hier)

  • C

    Das Spendhaus wurde 1518 als Fruchtkasten der Spendenpflege (eine Art städtische Unterstützungskasse für Arme und in Not geratene Bürger) erbaut. Es ist ein sehr stattliches Fachwerkgebäude, doch seine Wirkung leidet stark unter den angrenzenden Neubauten.

    Die Spendhausstraße. Links die Außenmauer des Königsbronner Klosterhofes

  • D

    Der Königsbronner Klosterhof in der Oberamteistraße. Ältester Gebäudeteil ist ein ca. 1310 errichtetes Steinhaus (rechts), an das 1537 ein Fachwerkhaus angebaut wurde (links). 1742 wurden die beiden Häuser unter einem neuen Dachstuhl zusammengefaßt.

    Das Steinhaus.

    Details verraten sein hohes Alter

    Zum Pfleghof gehört auch ein Hof mit einer Kapelle

  • Zum Königsbronner Hof ein Bildvergleich.



    Bildarchiv Foto Marburg

    Den Marchtaler Hof gibt es auch auf Bildindex.

    Das Fachwerk vom Spendhaus sieht merkwürdig aus, jedenfalls nicht nach 1518. Da scheint einiges nachträglich eingefügt worden zu sein.

  • Die bewegte Baugeschichte des Königsbronner Hofes kann man hier im Detail nachlesen.

    Das Fachwerk vom Spendhaus sieht merkwürdig aus, jedenfalls nicht nach 1518. Da scheint einiges nachträglich eingefügt worden zu sein.

    Das Spendhaus diente seit dem 19. Jahrhundert als Gewerbeschule, HJ-Heim, Museum, Stadtbibliothek und Archiv. Im Zusammenhang mit den Nutzungswechseln ist das Haus 1858, 1935 und 1987-89 umgebaut, bzw. saniert worden. So sah es um 1870 aus:


    Spendhaus [Public domain], by FH Reutlingen, from Wikimedia Commons

    Man erkennt auf dem Bild (links hinter dem Spendhaus) auch den nicht mehr erhaltenen barocken Giebel des Königsbronner Hofes. Am rechten Bildrand ist der Marchtaler Hof.

  • Vielen Dank für den sehr interessanten Rundgang durch Reutlingen. Schade, dass das doch mit imposanten Bauten glänzende Stadtbild an einigen auch wohl noch zentralen Stellen durch umpassende Bauten wie das Rathhaus gestört ist.

  • Wir bleiben in direkter Nachbarschaft des Königsbronner Hofes in der Oberamteistraße. Besonders bemerkenswert sind die Häuser mit den Nummern 28 bis 32, deren unsichere Zukunft in diesem Forum schon einmal ein Thema war. Die Häuser wurden um 1320 in Zusammhang mit dem Königsbronner Hof erbaut. Ein baugeschichtliches Gutachten (Infos mit Bildern hier) listet als besonders bemerkenswerte Baubestandteile auf:

    "- teilweise noch erhaltener Steinbau in Gebäudteil Nr.32, entstanden vor 1320
    - Keller von 1316 (Nr.28) und 1318 (Nr.30) mit „Flachdecken“, für Reutlingen im 14. Jahrhundert typisch
    - erhaltener sehr seltener mittelalterlicher „Haus-Durchgang“ in Gebäudeteil 30
    - Sichtseiten der Häuser (gesichert für Haus 30/ 32) zum Garten des Heimatmuseums
    - Gebäudeteil 32 mit Bohlenstube von 1320, Nr. 30 mit Stube des 17.Jh."

    Haus Nr. 28

    Haus Nr. 30-32

    Im rechten Hausteil (Nr. 30) ist ein Haus-Durchgang (s.o.) zwischem dem Königsbronner Hof und dem Marchtaler Hof erhalten (links im Bild angeschitten die Marienkapelle, die zum Marchtaler Hof gehörte)

    Vorne stand bis zu seinem sinnlosen Abriß im Jahre 1970 ein weiteres mittelalterliches Steinhaus.

  • Vom Königsbronner Hof aus sind die Rückseiten der Häuser 28-32 zu sehen. Vorne Nr. 28.

    Nr. 30-32. Die Rückgebäude sind wohl jüngeren Datums.

    Der miserable Zustand der Häuser ist offensichtlich.

    Ein letzter Blick in die Oberamteistraße.

  • Als nächste Sehenswürdigkeit wäre das Tübinger Tor an der Reihe gewesen, doch leider war der Akku meiner Kamera leer. Daher vorerst nur ein Teaser

    Vielen Dank für die bisherigen Bilder. In der Kanzleistraße 24 steht eines der ältesten Fachwerkhäuser Deutschlands von 1267(d), hast du davon vielleicht auch Bilder?

    Noch nicht, aber ich werde in nächster Zeit mehrmals nach Reutlingen kommen und wenn das Wetter mitmacht, werde ich einige Bilder nachliefern.

  • in den Randbereichen macht die Altstadt wirklich einen besseren Eindruck als im Geschäftszentrum. Das allseits bekannte Problem der "Stadtsanierung" ist auch hier natürlich allgegenwärtig. Wie ich diese meist mintgrün lackierten Stahlträger-Gebäude wie in der Spendhausstraße inzwischen hasse! Auch so ein Auswuchs der Achtziger/frühen Neunziger, den man in fast jeder so sanierten Altstadt findet, war wohl zu der Zeit seeeehr schick.

    Der deutsche Pfad der Tugend ist immer noch der Dienstweg.