Um den meines Erachtens sehr wichtigen Strang zu beleben und die angerissene Thematik aufzugreifen, will ich hier eine kleine Geschichte über die Entwicklung des niedersächsischen Fachwerkstils darstellen, der in diesen Forum zu wenig Aufmerksamkeit besitzt.
Der Niedersächsische Fachwerkbau zeichnet sich stärker als andere Fachwerkstile in Deutschland durch plastische Gestaltung von Schwellen, Ständern, Knaggen, Balkenköpfen und Gefachzonen vor allem in der Zeit von etwa 1470 bis 1650 aus und ist daher nicht nur auf Betonung der Konstruktivität beschrenkt.
Die bedeutendsten Konstruktionen und den reichhaltigsten Schmuck lassen sich in dem Raum ausfindig machen, der von den bedeutendsten Fachwerkstädten Braunschweig, Hildesheim, Goslar und Quedlinburg/Halberstadt eingeschlossen wird. Weiterhin sind bedeutende Regionen/Städte das südwestliche Harzvorland, Celle und Hannover.
Nach den Zerstörungen von Braunschweig, Hildesheim, Hannover und Halberstadt, in denen Restbestände nur noch bedingt eine Entwicklungsgeschichte zulassen (BS noch am ehesten), führen Goslar und Quedlinburg die Liste der bedeutendsten Städte auf jeden Fall an mit jeweils über 1000 Fachwerkhäusern und durchgehend hoher baulicher Qualität.
Ich habe meine Entwicklungsgeschichte in 6 Phasen vom 14.-20. Jahrhundert unterteilt. Alle Abbildungen stammen von mir, außer das erste Bild aus der Wikipedia.
1. Mittelalterliche Konstruktionen (ca.. 1300-1460)
Das älteste in seinem Bestand und Erscheinungsbild weitgehend überkomme Fachwerkhaus in Norddeutschland ist der Ständerbau in der Quedlinburger Wordgasse 3 (Abb.1). Beide Etagen werden durch durchgehende Ständer gebildet, die unten von der Schwelle und oben vom Rähm abgeschlossen werden. In diese Ständer sind die Deckenbalken eingezapft (links sichtbar). Das Haus wird durch Riegel ausgesteift (rechts). Das Dach ist mit Nonnenziegeln gedeckt, der ortstypischen Deckung in Quedlinburg, die jedoch nur noch selten erhalten ist. Der Ständerbau ist dendrochronologisch auf 1310 datiert.
Abb. 1
Eine weitere frühe Konstruktion ist das Haus Neustädter Kirchhof 7 (Abb.2) ebenfalls in Quedlinburg. Es weist jedoch bereits die Stockwerkskonstruktion auf, jedes "Stockwerk" ist einzeln abgezimmert.
Der Unterstock weist ein Zwischengeschoss auf, das ähnlich wie beim Ständerbau, in die Ständer eingezapft ist (nicht sichtbar). Das Portal hat spitzbogige=gotische Form. Profilierte Knaggen (Bügen) stützen den weit vorkragenden Oberstock ab. Der Bau wird durch aufgeblattete Streben zu den Eckständern ausgesteift, ebenfalls ein Merkmal für hohes Alter.
Der Bau ist dendrochronologisch auf 1423 datiert.
Abb. 2
2. Spätgotische Konstruktion und Gestaltung (ca. 1460-1530/40)
Fachwerkhäuser, die dieser Epoche zuzuordnen sind, finden sich weitaus häufiger. Ganze geschlossene Straßenzüge waren/sind in Braunschweig erhalten.
Üblich ist ab der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts die Stockwerkskonstruktion (s.o.). Die erhaltenen Häuser, erstrecken sich oft über mehrere Stockwerke und weisen weite Vorkragungen auf. Die abstützenden Knaggen sind oft reich und stark profiliert im spätgotischen Stabprofilquerschnitt. In Hildesheim und Braunschweig fanden sich oft figurale Holzschnitzskulpturen, die jetzt sehr selten sind.
Vor allem die Schnitzerei an den Oberstockschwellen lässt verschiedene Typen erkennen, die in der Konstruktion jedoch ähnlich strukturiert sind.
Das folgende Bild zeigt die Knochenhauerstraße in Braunschweig (Abb.3). Die drei Häuser wurden wahrscheinlich sämtlich im 15. Jahrhundert errichtet, da sie alle den Treppenfries aufweisen, der ab 1500/10 kaum mehr vorkommt. Die Knaggen weisen sämtlich die besprochene Profilierung auf. Der "Ritter St. Georg" rechts im Bild ist eines der wenigen erhaltenen Beispiele mit Figurenknaggen.
Das mittlere Haus wurde später sicher aufgestockt, das linke Zwerchhaus ist ebenfalls "neu".
Abb. 3
Ein weiteres gutes Beispiel ist das um 1480 errichtetes Haus in An der Gose 31 in Goslar (Abb. 4). Neben dem Treppenfries und den profilierten Knaggen und Balkenköpfen weist es die für die Zeit charakteristischen Fußbänder seitlich der Ständer in Oberstock auf. Die Hölzer haben im Vergleich zu späteren Epochen einen starken Querschnitt. Das steile Dachwerk ist ebenfalls Zeugnis einer frühen Entstehung.
Abb. 4
Das nächste Haus aus der Goslarer Marktstraße (Abb. 5) ist ein besonders stattliches Gebäude der Zeit um 1500/1530. Ein ähnlich stattliches Haus der Zeit findet in Stolberg/Harz.
Neben den in den anderen Beispielen bereits erwähnten Charakteristiken zeigt dieses Haus an den Oberstockschwellen den Trapezfries, dessen Bezeichnung sich im direkten Draufblick erklärt.
Das Portal ist spitzbogig und wird von einem geschnitzten Vorhangbogen umzogen. Der ganze Bereich zeigt zeittypische figürliche und florale Dekorationen.
Abb. 5
Das nächste Haus aus der Goslarer Worthstraße (Abb. 6) zeigt neben bereits bekanntem (s.o.) an der Oberstockschwelle des Bügelfries, eine Abart des Trapezfrieses. Der Name ergibt sich aus den nach unten zeigenden Dreiecken (zwei pro Gebinde). Ebenfalls gut einsehbar ist der Bereich zwischen Oberstockschwelle, Balken und dem Rähm des Unterstockes, der durch bemalte Windbretter geschlossen wird. Spätere Zeiten werden andere Lösungen finden für die Schließung dieser Zone (s.u.). Das Haus wird kurz nach 1500 entstanden sein.
Abb. 6
Beispiele der spätgotischen Epoche haben sich am besten in Goslar erhalten, der Treppenfries im speziellen findet sich noch heute an sicherlich 15-20 (!) erhaltenen Gebäuden in Braunschweig, was sehr bemerkenswert ist.
Die Übergangsphase zur Renaissance lässt sich gut am Beispiel des Huneborstelschen Hauses (1524, Abb. 7) am Braunschweiger Burgplatz erläutern (ebenso am "Brusttuch" in Goslar, beide von Simon Stappen).
Das Haus zeigt noch weitgehend spätgotisch tradierte Elemente wie große Figurenknaggen, Windbretter, Vorhangbogenfenster und eine kielbogenförmige rotgefasste Linienführung im Schwellbereich des 2. Oberstockes. Der Laubstab an der Dachschwelle ist typisch für die Übergangszeit.
Auf die nächste Epoche deutet bereits die flächige Verzierung im Schwellbereich hin, die über Ständer, Schwellen und Fußwinkelhölzer hinweggeht.
Schön zeigt sich an der Fassade dieses Hauses der typische Aufbau von Fachwerkhäusern des 15.-17. Jahrhunderts in Norddeutschland:
Hinter der hohen Durchfahrt erstreckt sich ursprünglich die Däle, der Hauptraum und Mittelpunkt des Hauses (rechts), daneben befinden sich die Wohn- und Schlafräume in zwei Halbstöcken. Darüber befinden sich Lagerräume in beiden Oberstöcken und im Dach. Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Oberstöcke zunehmend auch zur Wohnnutzung ausgebaut.
Abb. 7
3. Die Renaissance - Höhepunkt und Wendepunkt des Niedersächsischen Fachwerkbaus (ca. 1530-1630)
Gebäude des 16. Jahrhunderts und speziell die Fächerrosette gelten als Inbegriff des Niedersächsischen Fachwerks und lassen sich in nahezu allen größeren und kleineren Städten noch reichlich finden. Von den kleinsten Städten sei hier Osterwieck (3800 EW) als erstes zu erwähnen, von den größeren vor allem Einbeck und Goslar.
Die Fächerrosette ist erstmals 1530 nachgewiesen an einem Haus in Osterwieck (Lkr. Harz) als ein unten offener Kreisausschnitt, der sich über den Bereich der Ständer und der Fußwinkenhölzer erstreckt. Ein Beispiel dieser Art findet sich in Goslar am Marktkirchhof (Abb. acht). Hier zeigen sich noch die spätgotischen Windbretter und großen Knaggen.
Windbretter und große Knaggen sind beim nächsten Beispiel nicht mehr notendig, da die Vorkragung abnimmt. Word 3 (1560) in Quedlinburg (Abb. 9) zeigt im betreffenden Bereich im Schatten der Vorkragung unterhalb der Schwelle zwischen den aus dem Körper des Hauses herausstoßenden Balken Füllhölzer, die die Aufgabe der Windbretter übernehmen. Diese sind als Schiffskehle geschnitzt. Mit der selben Form ist die Schwelle bearbeitet. Sie ist ebenfalls ein typisches Gestaltungselement der Renaissance.
Knaggen werden wegen der geringeren Vorkragung zu kleinen Konsolen, sie werden oft ähnlich dem Balkenkopf geschnitzt (falscher Balkenkopf)
Abb. 9
Das Haus Marktkirchhof/Ecke Gemeindehof (Abb. 10) in Goslar zeigt bereits eine weiterentwickelte Form der Fassadengestaltung. Hier befinden sich die Fächerrosetten nicht mehr auf Fußwinkelhölzern, sondern auf Brüstungshölzern, die den ganzen Bereich zwischen Ständern, Schwelle und Brustriegel einnehmen. In den Zwickeln dieser Hölzer befinden sich außerdem kleine Sterne.
Die Schwelle ist hier belegt mit einem Spruchband, das vor allem im 16. und 17. Jahrhundert häufig anzutreffen ist. Sie nennt meist Bibelsprüche, sowie den Namen des Bauherrn und eine Datierung. Dieses Haus ist so 1572 datiert.
Die Füllhölzer sind mit Schiffskehlen beschnitzt, die hier sogenannte Taustäbe aufnehmen. Die Knaggen sind als kleine dreieckige Hölzer ausgebildet.
Abb.10
Abb. 11 zeigt ebenfalls in Goslar die Straßenecke Bergstraße/Schreiberstraße. Über dem Portal des zentralen Hauses (1573) befindet sich eine ganz runde Rosette. Es zeigt außerdem den typischen eingeknickten 'Goslarer Giebel' mit der ortstypischen Schieferdeckung.
Das Haus links zeigt ein doppeltes Kreuzband.
Abb. 11
Das Herzöglich Braunschweigische Hoflager am Marktplatz in Helmstedt (1567, Abb. 12) ist ein sehr stattlicher und reichgeschmückter Fachwerkbau mit Wappen und Allegorien der Tugenden. Er ist repräsentativ für die Vielfalt und Aussagekraft des Niedersächsischen Fachwerkbaus im für ihn so bedeutenden 16. Jahrhundert.
Zwei Fachwerkhäuser in der Bäckerstraße in Goslar repräsentieren den Abschwung des Höhepunktes der Entwicklung. Nr. 2 (1606, Abb. 13, links) zeigt im 2. Oberstock zwei kleisrunde Rosetten pro Gebinde, Nr. 3 (1592, Abb. 13, rechts) zeigt den Arkadenfries, der gegen Ende des Jahrhunderts häufiger vorkommt und dem Massivbau entlehnt ist. Ähnlich ist auch das Beschlagwerk ein auch im Fachwerkbau verwendetes Element (Bäckerstraße, 1587, Abb. 14)
Abb. 13
Abb. 14
4. Das 17. Jahrhundert.
Während andere Städte sich auch nach Ende des 30jährigen Krieges nur langsam erholen, erlebt Quedlinburg in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts eine nie vorher und nachher dagewesene Bauwelle und erwirbt vor allem in diesem Zeitraum sein noch heute so markantes Profil.
Anhand von zwei Beispielen soll dargelegt werden, durch welche Eigenheiten sich die Zeit von etwa 1640-1700 auszeichnet.
Word 1/2 (1675, Abb. 15) ist ein dreistöckiges, breitgelagertes Fachwerkhaus, es zeigt im ersten Oberstock Rautenkreuze; die Balkenköpfe sind als Pyramide oder Diamant gestaltet, was nur sehr regional üblich ist, die Schiffskehle bleibt bei.
Abb. 15
Steinweg 68 (1573, Abb. 16) ist ein stattliches Eckhaus mit Erker, Pyramidenbalkenköpfen und zwei Halbe-Mann-Figuren im zweiten Stock.
Somit zeigt es ebenfalls die typischen Elemente der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und steht repräsentativ für mehrere hundert Gebäude der Epoche in Quedlinburg, wenn jene auch überwiegend weniger aufwendig sind.
Statt der vorher üblichen Lehmstaken werden die Gefache nun mit Backsteinen in Zierformen ausgefacht.
Abb. 16
5. Barock (1690-1800/20)
Im Mittelpunkt der Entwicklung zu barocken Idealen steht das weitere Herabsetzten der Vorkragung, eine rythmische Fassadengeliederung (keine strenge Ständerreihung wie seit seit jeher) oder Verputz und das Verdecken der Schwellzonen u.a. mit Profilbohlen.
Der Handelshof Blasiistraße 11 (um 1710, Abb. 17) zeigt das Aufgeben der strengen Ständergliederung, außerden sind Schwellen, Balkenköpfe und Füllhölzer einheitlich profiliert und leiten so 'glatt' ins nächste Stockwerk über. Das kleine Haus Nr. 12 rechts daneben (ca. 1760), zeigt zudem ein Mandarddach und eine Profilbohle über der Schwellzone.
Abb.17
Zwei schlichte Häuser am Schlossberg (Abb. achtzehn) zeigen zudem die schlichte Gestalutung der Zeit, die Fassaden lagen in der Regel bereits bauzeitlich unter Putz.
Abb. 18
In anderen Städten ist die Fassadengestaltung reichhaltiger und mitunter auch als Sichtfachwerk ausgelegt, so die Breite Straße in Goslar, die nach zwei Bränden Anfang des 18. Jahrhundert vollkommen und homogen wiederaufgebaut wurden.
Abb. 19 zeigt rechts eine typisch goslarsche Barockfassade mit Buckelstreben, und von buckelförmigen Hölzern eingefasste Felder, ebenso Halbe-Mann-Figuren an den Bundständern.
Die Portaldurchfahrt zeigt eine Rahmung im Form von Ohrenfaschen, die von zeitgenössischen Steinportalen und Fenstergewänden bekannt sind.
Abb. 19
Eine seltenes Extrem des Strebens nach Massivbau-Vortäuschung zeigt ein Haus am Braunschweiger Ziegenmarkt (Abb. 20), Fachwerkkonstruktion mit vollständig verkleideter und mit Holzelementen ausgestalteter Fassade ganz im Sinne des Barock.
Abb. 20
Zwei Häuser aus der Zeit um 1800 zeigen das vollkommene Ende der Vorkragung, auch Profilbohlen werden nun nicht mehr verwendet. Zum einen ist das ein stattliches, aber in seiner Ausgewogenheit arg entstelltes Haus in der Helmstedter Kirchstraße (Abb. 21), zum anderen das alte Rathaus des Fleckens Vorsfelde (heute Stadtteil von Wolfsburg, Abb. 22).
Bei den Beispielen zeigt sich deutlich, dass der Kompaktkeit und Homogenität des Ganzen Vorang vor aller Fassadengestaltung eingeräumt wird.
Abb. 21
Abb. 22
In der Pfarrhofstraße in Hornburg (Lkr. Wolfenbüttel, Abb. 23) steht eines der letzten Gebäude mit vollständig erhaltenem Quaderputz vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Verhüllt wird ein (wohl reichgestaltetes) Fachwerkhaus der 16. Jahrhunderts.
Abb. 23
6. Um 1900 - Historismus
In der dargelegten Entwicklung mit immer einfacher werdenden Gestaltung und Aufbau erscheint es mehr als logisch, dass eine sinnvolle Fortführung der jahrhunderte langen Tradition des Fachwerkbaus nicht möglich sein wird. Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt ein letztes mal in der Entwicklung zu Stahlträgern ähnelden Hölzern (Braunschweig, Schuhstraße, Abb. 24;) eine neuartige Erscheinung zu, verfällt dann aber zunehmend dem zeittypischen Historismus (Goslar, Marktplatz, Abb. 25), der versucht, die vergangenen Jahrhunderte (v.a. das 16.) zu rezipieren und zu idealisieren.
Abb. 24
Abb. 25